Die Lage am Samstag Liebe Leserin, lieber Leser,

nun gehen die Reisen wieder los, nach Hause, zur Familie. Diejenigen, die besser dran sind, freuen sich. Diejenigen, die schlechter dran sind, gruseln sich. Für die meisten ist Familie beides, Freude und Grusel zugleich. Und jeder kennt das: Sobald man zusammentrifft mit Eltern, Großeltern, Geschwistern, Kindern, fühlt man sich wie verfangen in etwas Altem, schwer Verständlichem: Warum ist der eine so kränkbar und brüllt sofort, warum ist die andere so still?
"Familie und ihre Geheimnisse" heißt das Titelstück im neuen SPIEGEL. Wir erzählen, wie die Geschichte, wie Kriege, Diktaturen, Katastrophen, Umbrüche sich auf das Leben von Nachfahren auswirken. Einiges ist hier erstaunlich gut, anderes erstaunlich schlecht erforscht.
Schuldzuweisungen unter dem Weihnachtsbaum aber, das stellt der Titel fest, gehören zu den eher unnützen Ritualen. Für die Prägungen durch die Geschichte kann niemand etwas. Für die Folgen aber schon. Jeder kann etwas dafür tun, sich selber und den anderen keine Zumutung mehr zu sein.
Sehen Sie im Video: Familiengeheimnisse - "Meine Eltern sind Helden für mich"
Festhalten
Das Schöne an Klischees ist: Sie treffen immer irgendwie zu. Mit Betonung auf: irgendwie. Denn irgendwie ist immer auch eine Unschärfe drin. Der wütende, weiße alte Mann ist das Lieblingsklischee der heutigen Zeit, und auf den ersten Blick ist es ja auch erstaunlich, auf wen dieses Klischee alles zuzutreffen scheint. Aber bei genauerem Hinsehen haut es dann doch nicht immer hin.
Da wäre zum Beispiel Wolfgang Kubicki. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP tut sich öffentlich nicht ungern mit der Beurteilung weiblicher Waden hervor, fährt aus der Haut, wenn es nötig und unnötig ist, trinkt gern, hält treu an seiner althergebrachten Männlichkeit fest. Ihn deswegen als Mann der alten Zeit abzutun, der heute nur noch störe, wäre aber falsch.
In einem großen Porträt im neuen SPIEGEL können Sie nachlesen, warum Kubickis, sagen wir mal: unmoderne Art, in der Auseinandersetzung mit politischen Hallodris durchaus zielführend sein kann.

Kubicki
Foto: Roman Pawlowski für den SPIEGELLoslassen
Manchmal liegt Stärke im Loslassen. Seit Angela Merkel angekündigt hat, auf den Parteivorsitz zu verzichten und spätestens nach dem Ende dieser Legislaturperiode kein politisches Amt auszufüllen, verfügt sie über eine nie dagewesene Stärke, ihre Rede auf dem Parteitag der CDU vergangene Woche war so klar und emotional wie keine Rede zuvor.

Merkel
Foto: TOBIAS SCHWARZ/ AFPTheresa May hat in dieser Woche angekündigt, dass sie vor der nächsten Parlamentswahl als Premierministerin zurücktreten wird und hat damit sich selber und ihren Gegnern Luft verschafft. In diesen Tagen des schlimmsten Brexit-Chaos wirkt auch sie erstaunlich stark. Den Kraftgewinn der Theresa May beschreibt unser Auslandsaufmacher im neuen Heft.
Unser Deutschlandaufmacher beschreibt wiederum, warum Merkel sich inzwischen so frei fühlt, auch ihre Kanzlerschaft gern übergeben zu wollen, warum sie aber voraussichtlich im Kanzleramt gefangen bleiben wird.
Gewinner des nächsten Jahres...
...wird Theodor Fontane sein. Sein 200. Geburtstag steht an, es wird sein Jubiläumsjahr. Wir feiern ihn jetzt schon, im Kulturaufmacher im neuen Heft. Es zeigt sich, dass das Werk dieses Schriftstellers keineswegs so staubig ist, wie die Namen seiner berühmten Protagonisten nahelegen: Effi Briest, Baron von Innstetten. Fontane hat moderne und weise Frauenfiguren erschaffen, Lene zum Beispiel, aus "Irrungen und Wirrungen", die schon früh ahnt, dass aus ihrer nicht standesgemäßen Liebe zu Baron Botho nichts werden kann. Der Lene und dem Botho legt Fontane einen der schönsten und traurigsten Dialoge der Literatur in den Mund:
Lene sagt: "Ich hab' es so kommen sehn, von Anfang an, und es geschieht nur, was muss. Wenn man schön geträumt hat, so muss man Gott dafür danken und darf nicht klagen, dass der Traum aufhört und die Wirklichkeit wieder anfängt. Jetzt ist es schwer, aber es vergisst sich alles oder gewinnt wieder ein freundliches Gesicht. Und eines Tages bist du wieder glücklich und vielleicht ich auch." Botho sagt: "Glaubst du's? Und wenn nicht, was dann?" - "Dann lebt man ohne Glück."

Fontane-Denkmal in Neuruppin, Brandenburg
Foto: Jens Kalaene/ dpaDie jüngsten Meldungen aus der Nacht
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Ihnen eine anregende Lektüre und ein schönes Wochenende,
Ihre
Susanne Beyer