Wo Corona-Hilfen versagen "Das ist demütigend"
Die finanziellen Hilfen der Bundesregierung für Soloselbstständige konnten die ersten Monate überbrücken. Doch seitdem bleibt vielen nur noch der Weg zum Jobcenter und ein Antrag auf Hartz IV.
In dieser Stimmenfang-Folge erzählt das Musikerpaar Kristiina Tuomi und Immo Hofmann , warum die beiden sich bewusst dagegen entschieden haben und sich von der Politik im Stich gelassen fühlen. Zahlungen vom Jobcenter statt Wirtschaftshilfen seien der falsche Weg.
Sie sagen: "Wir wollen uns nicht dafür rechtfertigen müssen, dass wir derzeit kein Geld verdienen." Denn ohne die Corona-Maßnahmen könnten sie problemlos mit Auftritten ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie lehnen einen Antrag auf Arbeitslosengeld II ab, so wie viele Selbstständige in der Kulturbranche. Stattdessen leben Kristiina Tuomi und Immo Hofmann derzeit auch von dem Geld, das sie eigentlich als Altersvorsorge zurückgelegt hatten. In dieser Stimmenfang-Folge erzählen sie, warum sie diesen Weg gehen und was das Bundesfinanzministerium über Musikerleben noch lernen muss.
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[00:00:05] Sandra Sperber Willkommen zum Stimmenfang, dem Politik-Podcast vom SPIEGEL. Ich bin Sandra Sperber.
[00:00:13] Kampagnenlied #AlarmstufeRot" Ich vermisse die Musik, wie sie in den Straßen weht, all die bunten Lichter...
[00:00:20] Sandra Sperber Ein Lied, das als Hilferuf gedacht ist. Die Kampagne von #AlarmstufeRot will damit auf eine Branche aufmerksam machen, die mit am härtesten von der Coronakrise betroffen ist: Die Veranstaltungs- und Kulturszene.
[00:00:34] Kampagnenlied #AlarmstufeRot" All die Nächte, die wir nicht durchzechten...
[00:00:34] Sandra Sperber In dieser Stimmenfang-Folge, erzählt eine Musikerfamilie, was vermutlich viele erleben, die in dieser Krise ums finanzielle Überleben kämpfen.
[00:00:47] Kristiina Tuomi Zwei Eltern, die Existenzangst haben - das ist einfach schrecklich. Und deswegen tun wir zuhause so, als wäre alles super.
[00:00:54] Sandra Sperber Doch in Wahrheit dreht sich der Alltag von Kristiina Tuomi um Geldsorgen, Anträge auf Nothilfe oder gar Hartz IV.
[00:01:01] Kristiina Tuomi Man muss sich ja immer ständig rechtfertigen – als wenn Musiker kein Beruf wäre. Und jetzt ist halt das nochmal auf die Spitze getrieben. Ich habe die Schnauze voll davon!
[00:01:11] Sandra Sperber Ein Gefühl, das auch einige unserer Stimmenfang-Hörerinnen und -Hörer teilen.
[00:01:15] Stimmenfang-Hörer Ich finde, dass dieser Lockdown light, von dem alle jetzt sprechen, halt an den falschen Ecken jetzt passiert.
[00:01:22] Also es mangelt an der absoluten Vision, wie man dauerhaft mit dieser Situation umgehen kann, ohne ständig von Lockdown zu Lockdown sich zu hangeln.
[00:01:32] Sandra Sperber Wir hatten Sie ja neulich dazu aufgerufen, uns zu erzählen, wie es Ihnen im zweiten Shutdown geht. Und bevor wir die Musikerin und ihre Familie weiter kennenlernen, möchte ich stellvertretend eine Stimmenfang-Hörerin und einen -Hörer zu Wort kommen lassen, die uns aus ganz unterschiedlichen Gründen ihren Corona-Frust geschildert haben.
[00:01:51] Stimmenfang-Hörerin Andrea Ja. Guten Tag. Seien Sie gegrüßt. Hier ist Andrea Scheib, ich bin Hochzeitsfotografin. Bei mir ist es so: Ich habe zwei Betriebe, einmal die Hochzeitsfotografie und einmal Projektberatung. Und jetzt ist das so, dass ich im Jahr immer so 20 bis 25 Hochzeiten hatte. Und dieses Jahr kam natürlich alles komplett anders. Das war für mich eine absolute Zitterpartie, auch seelisch und körperlich. Ich habe mich gar nicht mehr bewegt. Ich habe ganz viel genascht, habe auch fünf, sechs Kilo zugenommen, depressive Phasen. Es war so schrecklich mit den Hochzeiten, ob die verschoben werden, ob die bleiben. Und ich habe durch die Hochzeiten jetzt quasi fast gar nichts mehr verdient. Hilfen, die es gibt, für die komme ich leider nicht infrage. Also, ich schränke mich ein, mache auch gar nicht mehr viel im Leben, was irgendwie groß Geld kostet. Aber mir fehlen wirklich 50 Prozent der Einnahmen.
[00:02:55] Sandra Sperber Das ist also der wirtschaftliche Aspekt des Shutdown, wie ihn Andrea schildert. Unser Hörer Alex ist zwar keiner ihrer Kunden, gehört aber zu den Menschen, die dieses Jahr eine geplante Hochzeitsfeier absagen mussten.
[00:03:07] Stimmenfang-Hörer Alex Wir haben das auch nachvollziehen können und haben auch alles befolgt. Wir gehören auch nicht zu den Menschen, die Corona leugnen. Jetzt scheint es aber nach dem kurzen und entspannten Sommer doch sehr merkwürdig, dass die Politik aktuell keine andere Möglichkeit findet, eigentlich genau das gleiche Programm abzuspielen wie im Frühjahr. Meine Frau spricht täglich mit bestimmt 100 Personen und somit ist für sie der Beruf eigentlich die gefährlichste Situation, in der sie sich mit Corona anstecken könnte. Und für mich, der auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen ist, fahre täglich zur Arbeit und zurück und die Busse sind immer überfüllt. Und es bleibt einfach unverständlich, wie es sein kann, dass obwohl das bewusst und bekannt ist, warum dann nicht einfach mehr Busse eingesetzt werden zu den entsprechenden Uhrzeiten? Jetzt heißt es, wir sollen im November zuhause bleiben und im Dezember soll wieder alles möglich sein, was überhaupt keinen Sinn ergibt, denn dann steigen die Zahlen wieder im Zweifelsfall. Und so steigert sich der Frust immer weiter, sodass Leute wie wir, die eigentlich absolut das Pandemiegeschehen, als ernst betrachten und das tragen, mittragen wollen, doch dazu genötigt sind, einfach quasi uns selber über diese Regeln hinwegzusetzen, denn uns bleibt ja eigentlich keine andere Möglichkeit, unsere Wut und unsere Enttäuschung zu artikulieren.
[00:04:36] Sandra Sperber Soweit also ein Stimmungsbild aus unserem Höhreraufruf zu den Auswirkungen des Shutdowns. Welche drastischen finanziellen und persönlichen Folgen die aktuellen Corona- Maßnahmen haben können, daran haben mich in den vergangenen Monaten auch immer wieder die Instagram-Posts von Kristiina Tuomi erinnert. Sie ist die Musikerin, die wir schon zu Beginn dieser Folge kurz gehört haben. Kristiina hat zum Beispiel mit einem kurzen Video auf Instagram nach Schülern für ihre Skype-Gesangsstunden gesucht oder einen leeren Stuhl vor einem E-Piano gepostet – mit dem Hashtag #ohneunswirdsstill. Gemeint sind alle Musiker, deren Lebensgrundlage in den vergangenen Monaten weggebrochen ist.
[00:05:18] Kristiina Tuomi Hallo, geht einfach durch den Hinterhof bis nach ganz hinten durch, da geht eine Treppe runter.
[00:05:23] Sandra Sperber Ich habe Kristiina vor einigen Jahren durch einen gemeinsamen Freund kennengelernt. Seitdem habe ich sie ein paar Mal getroffen, zum Beispiel bei einem Club-Konzert, wo sie als Frontfrau einer Coverband aufgetreten ist. Diesmal treffe ich Kristiina und ihren Mann Immo Hofmann in einem Tonstudio in Berlin-Mitte, das sie sich mit anderen Musikern teilen.
[00:05:48] Kristiina Tuomi Erst mal zur Erklärung: Wir leben hauptsächlich von Auftritten. Wir sind professionelle Musiker, wir haben das studiert und ich bin Sängerin. Ich habe auch öfter mal Studiojobs für eine Werbung oder eine Filmmusik oder solche Sachen. Das ist so eigentlich breit aufgestellt. Also Studiojobs, Live-Auftritte und Coaching.
[00:06:09] Sandra Sperber Und Immo, du bist vor allem Schlagzeuger, oder?
[00:06:11] Immo Hofmann Ja, ich lebe auch hauptsächlich von Auftritten. Früher habe ich noch unterrichtet, aber das war dann irgendwann zu viel, weil ich viele Auftritte hatte und viele Schüler. Und meine Auftritte, die ich so jetzt gehabt hätte, die sind alle abgesagt.
[00:06:26] Sandra Sperber An welchem Punkt habt ihr gemerkt: Uff, da passiert gerade was, was richtig unser Leben verändert.
[00:06:31] Kristiina Tuomi Ja, ich hätte einen Auftritt gehabt mit einer DJane am Donnerstag, den 12. März und der wurde mir am 12. März vormittags abgesagt und die Gage hätte halt meine komplette Miete bezahlt. Und ja...
[00:06:45] Sandra Sperber Das war der Beginn, das erste Mal.
[00:06:47] Kristiina Tuomi Ja genau und das ging dann direkt so weiter.
[00:06:49] Immo Hofmann Also, ich hätte jetzt zum Beispiel im November und Dezember mit den Geschwistern Pfister im Tipi gespielt. Das wären zwei Monate en suite, fünfmal die Woche, also 40 Auftritte ungefähr – das ist einfach weg. Also ich habe, wenn es ein gutes Jahr ist, 150 Auftritte. Und das ist im Prinzip zu 100 Prozent weg.
[00:07:09] Sandra Sperber Finanzielle Nothilfen der Bundesregierung sollen solche Einkommensverluste eigentlich abfedern. Doch die reichen bei weitem nicht aus.
[00:07:18] Immo Hofmann Die Soforthilfe I haben wir beantragt, die haben wir auch bekommen. Das war auch super. Aber ab dem Sommer war es dann halt wieder das gleiche Problem wie vorher. Das reicht natürlich nicht. 5 000 Euro, da kann man ja kein Jahr von leben.
[00:07:33] Sandra Sperber Denn auch wenn über den Sommer für viele von uns ein kleines bisschen Normalität zurückgekehrt ist, sind zum Beispiel. die meisten Partys oder Familienfeiern, bei denen Kristiina als Sängerin mit ihrer Band normalerweise gern gebucht wird, trotzdem ausgefallen. Und der zweite Shutdown verschärft jetzt ihre Lage.
[00:07:50] Immo Hofmann Das Einkommen ist einfach zum großen Teil weg und dann Hartz IV beantragen ist eben auch eine Demütigung und es ist ein bürokratischer Albtraum.
[00:08:03] Sandra Sperber Habt ihr das gemacht dann im Sommer, nachdem diese erste Soforthilfe, ich sag mal, weg war, nachdem ihr das beantragt hattet?
[00:08:09] Immo Hofmann Nein, wir haben es nicht gemacht. Also, Kristiina kann eben über Skype weiter unterrichten und verdient dann da eben schon zu viel...
[00:08:16] Sandra Sperber ...um Hartz IV zu beantragen, aber natürlich nicht so viel, wie sie sonst verdienen würde.
[00:08:22] Immo Hofmann Genau, und ich muss ganz ehrlich sagen, ich war ein bisschen angepisst. Ich war dann zu stolz. Und habe dann lieber meine Rücklagen verbraucht. Ist natürlich nicht besonders schlau, aber auf irgendwie 30 Seiten Formular zu rechtfertigen dafür, dass ich jetzt grad kein Geld verdiene und zu beweisen, dass ich Geld brauche.
[00:08:45] Sandra Sperber Das wäre der Hartz4-Antrag gewesen...
[00:08:48] Immo Hofmann Genau.
[00:08:48] Kristiina Tuomi Ich versuche jetzt so wenig Geld wie möglich auszugeben. Momentan versuchen wir einfach dafür zu sorgen, dass es der Familie gut geht [fängt an, zu weinen]. Tut mir leid.
[00:09:02] Sandra Sperber Alles gut.
[00:09:05] Kristiina Tuomi Ich verdränge, ich verdränge das alles eigentlich hauptsächlich. Ich gucke, dass mein Kleiner nichts davon mitbekommt und versuche, meinen Stolz zu halten. Und deswegen beantrage ich auch keine Hartz IV, weil dann würde ich aufgeben. Und ich will nicht. Ich war immer stolz, dass ich mein eigenes Geld verdient habe mit diesem komischen Beruf. Man muss sich ja immer ständig rechtfertigen. "Was machen Sie denn beruflich?" – als wenn Musiker kein Beruf wäre. Und jetzt ist es nochmal auf die Spitze getrieben. Ich habe die Schnauze voll davon! Und ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich jetzt hier am Heulen bin. Ich bin eigentlich sonst überhaupt nicht so drauf. Aber wir wahren unser Gesicht zu Hause, damit unser Kind einfach nicht unglücklich wird.
[00:09:56] Sandra Sperber Kristiina und Immo haben einen dreijährigen Sohn, für den sie versuchen, den Familienalltag so normal wie möglich zu gestalten. Dass das gerade für Künstler derzeit schwierig ist, thematisiert auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz immer wieder in seinen Reden.
[00:10:10] Olaf Scholz (Bundesfinanzminister) Wir wissen, dass Kunst und Kultur für unsere Identität, für unser Zusammenleben, für die Art und Weise, wie wir die Gesellschaft betrachten, von allergrößter Bedeutung sind; dass sie dafür, dass wir uns zurechtfinden, in der Welt wichtig sind – und wir müssen sicherstellen, dass die, die das machen, das auch in Zukunft gut weitermachen können. Schönen Dank.
[00:10:31] Sandra Sperber Weil die ersten Soforthilfen des Finanzministers die massiven Einkommensausfälle aber bei weitem nicht gedeckt haben, hat die Bundesregierung zusätzlich das sogenannte Sozialschutz-Paket beschlossen. Damit wird ein Antrag auf Arbeitslosengeld II vereinfacht, indem das Jobcenter zum Beispiel auf eine Vermögensprüfung verzichtet. Das ist ein Hilfsangebot, das dennoch viele Selbstständige vor den Kopf gestoßen hat, weil sie nämlich damit im Hartz-IV-System landen. Auch für Kristiina war das ein Schock.
[00:10:59] Kristiina Tuomi Wir gehören eigentlich würde ich sagen, eher zum Mittelstand normalerweise. Und jetzt, von einem Nachmittag auf den anderen quasi, sollen wir dann Hartz IV beantragen? Da kann ja mal jeder drüber darüber nachdenken, wie sich das anfühlt. Und ich finde es einfach komisch, dass... Ich bin nicht arbeitslos eigentlich. Ich habe eine Menge Aufträge, ich bin in meinem Beruf erfolgreich, ich kann davon leben, ich zahle davon Steuern. Ich liege dem Staat nicht auf der Tasche. Ich will mich nicht ständig rechtfertigen müssen dafür. Das nervt so!
[00:11:31] Immo Hofmann Ich glaube, der Knackpunkt ist, dass Hartz IV eine Sozialleistung ist und keine Wirtschaftshilfe. Und das ist demütigend. Und das sehen viele Musiker einfach nicht ein. Zusätzlich muss man sich ständig neu erklären für Sachen, die der Staat längst als das Finanzamt weiß, dass ich Musiker bin. Ich reiche seit 20 Jahren eine Steuererklärung beim Finanzamt ein. Da steht "Musiker" drauf. Da steht drauf, wie viel ich verdiene jedes Jahr. Da steht drauf, was ich an Betriebskosten habe, jedes Jahr. Aber einfach die Tatsache, dass man gewissermaßen nicht arbeiten darf – in Anführungszeichen – und dann auf Sozialleistungen verwiesen wird, die eigentlich nichts mit der eigenen Situation zu tun haben, ist demütigend. Und ich kann gut verstehen, dass da viele Musiker einfach keinen Bock darauf haben.
[00:12:25] Sandra Sperber Habt ihr das Gefühl, die Politik versteht eure Branche, versteht, wie Musiker Geld verdienen und leben?
[00:12:32] Immo Hofmann Ich glaube größtenteils nicht. Also, was ich mir angeschaut habe in den letzten Monaten, da musste ich einfach oft mit dem Kopf schütteln. Man kriegt das Gefühl, dass man wirklich alles über Lobbyisten erklären muss. Also das klingt zynisch. Aber ich habe wirklich den Eindruck, wenn nicht ein Lobbyist, es einem Politiker ins Ohr flüstert, dann weiß der nicht, was er sagen soll. Das schien mir jetzt so. Und jetzt, wo eben durch #AlarmstufeRot und andere Proteste und Medienpräsenz von bekannten Künstlern, wie zum Beispiel Till Brönner oder [der Band] den Ärzten Erklärungen vorgebracht wurden, die fangen die Politiker an, sinnvolle Instrumente zu entwickeln, wie zum Beispiel die Novemberhilfe.
[00:13:12] Sandra Sperber Die Novemberhilfe, die gab's jetzt zum zweiten Shutdown.
[00:13:16] Immo Hofmann Richtig, die gibt's jetzt für diesen November. Die kann man auch noch nicht beantragen, weil das Formular, also Antrag muss erst programmiert werden. Das wäre eigentlich etwas, was man sich von Anfang an gewünscht hätte, dass man sagt: Das sind Leute, die sind ganz eindeutig von der Pandemie in ihren Einkünften stark eingeschränkt. Den geben wir jetzt einfach so und so viel Prozent ihres Vorjahresgehaltes oder eines Durchschnittsgehaltes der letzten drei Jahre, wie es in vielen anderen Ländern auch seit März einfach gemacht wird.
[00:13:44] Kristiina Tuomi Grundsätzlich: Es geht nicht darum, dass wir keine Auftragslage hätten, die Auftragslage schlecht wäre. Ich habe durchaus Gesangsschüler, die sagen: "Ach, ich möchte aber zu dir nach Hause kommen. Das ist viel cooler", dann sage ich aber: "Nein, das ist für uns beide gefährlich und lass es uns bitte online machen!" Als Sängerin ist es ja besonders heikel, die Aerosolbelastung ist besonders hoch. Ich schütze gerne die Leute, aber ich finde es halt einfach nicht fair, dass das auf dem Rücken meiner Rücklagen und meiner Altersvorsorge ausgetragen wird. Das ist einfach super unfair.
[00:14:16] Sandra Sperber Die Regeln und Maßnahmen im Alltag gegen die Ausbreitung des Virus haben die beiden trotz allem nie angezweifelt. Bei unserem Interview sitzen wir gut fünf Meter auseinander. Das Fenster steht die ganze Zeit weit offen zum Lüften.
[00:14:29] Was hat jetzt dieses, es ist ja jetzt fast schon ein gutes halbes Jahr Krise, inwiefern hat das bei euch Spuren hinterlassen, wenn ihr auf die Politik schaut?
[00:14:38] Kristiina Tuomi Ich fand es immer ganz okay, so ich wie es war. Ich hatte immer mit der Umweltpolitik immer ein bisschen Probleme, dass alles so langsam geht. Und jetzt merke ich aber am eigenen Leibe quasi, dass auch da die Mühlen langsam mahlen. Und ich fühle mich jetzt nicht mehr vertreten. Ja, und was ich auf jeden Fall in mir geändert hat: ich war auch so ein bisschen in diesem "Wir kriegen es schon irgendwie hin, Schatz, komm', wir beißen uns durch und wir haben ja noch ein bisschen Geld". Aber nach der Till Brönner-Rede war ich tatsächlich so ein bisschen, dass ich dachte: Ja, verdammt, er hat recht, wir müssen aktiver, politisch aktiver werden. Das ist einfach im Künstler-Dasein einfach nicht so gegeben.
[00:15:18] Immo Hofmann So ein bisschen zynisch war ich vorher schon. Andererseits bin ich auch positiv überrascht von dem guten Willen der Politik. Das muss ich auch sagen. Also., Die bemühen sich ja wirklich.
[00:15:28] Sandra Sperber Die Coronakrise einzudämmen?
[00:15:32] Immo Hofmann Richtig. Es ist aber nur leider so wahnsinnig unbeholfen und das ist das, was mich ärgert. Es wirkt manchmal sehr amateurhaft, weil so doof kann doch keiner sein. Also wie lange kann man den brauchen, um zu schnallen, dass die Leute da draufgehen? Wieso brauchen die dafür acht Monate? Das war mir am 11. März klar. Und ganz vielen anderen Leuten auch. Aber den Politikern irgendwie nicht. Das ist schon bizarr.
[00:15:58] Sandra Sperber Hattet ihr manchmal das Gefühl, ihr werdet als verzichtbar angesehen? Naja, findet halt grad nicht statt, okay...
[00:16:04] Immo Hofmann Also, die Diskussionen um Systemrelevanz, zu sagen, Kunst ist systemrelevant und so weiter, geht für uns so ein bisschen an der eigentlichen Problematik vorbei. Ja, dann habe ich halt ein Beruf, der nicht systemrelevant ist. Ist es deswegen okay, dass ich verhungere, oder was? Also es wird plötzlich so unsozial. Ich meine, im Prinzip können wir doch froh sein, dass wir einen nicht systemrelevanten Beruf ausüben können, nämlich einen, der hauptsächlich den Sinnen oder dem Genuss gewidmet ist. In einem Land, wo das nicht möglich ist, da herrscht wahrscheinlich Krieg oder Not. Wenn's nur noch ums Überleben geht, dann haben alle einen systemrelevanten Beruf. Das ist aber kein Land, in dem ich leben möchte. Also da vermisse ich ein bisschen diesen grundsätzlichen menschlichen Aspekt. Niemand soll verhungern, ganz einfach – egal was für ein Beruf.
[00:17:03] Kristiina Tuomi Also, da kann ich was Schönes erzählen noch. Da muss ich sagen, da habe ich tatsächlich gespürt die Systemrelevanz oder die Relevanz für die Leute. Im August hatten wir das Glück, also ich und meine Band, wir wurden als Tanz-Band engagiert, draußen, bei einer Hochzeit und es durfte nur das Brautpaar tanzen. Und als wir dann auf die Bühne gegangen sind und haben angefangen zu spielen – das war für uns erst einmal auch ein Wahnsinnsmoment. Und ich habe gemerkt, wie die Leute, da ging so eine Energie durch den Raum. Das war unglaublich. Die Leute wollten unbedingt tanzen, das durften sie aber nicht und sind sitzen oder stehen geblieben. Das ist jetzt natürlich schwierig wissenschaftlich festzuhalten, aber das war eine Energie in dem Raum, sowas habe ich echt noch nie erlebt. Und es kamen so viele Leute danach auf uns zu – die kannten wir ja alle nichts, das waren ja alles Fremde und wir waren ja professionell engagierte Leute – und haben sich bedankt: "Oh Gott, das war so toll, vielen Dank! Das hat uns so gutgetan, wir haben so lange keine Live-Musik mehr gehört!" Es war wirklich wie Medizin für diese Leute.
[00:18:07] Sandra Sperber Kristiina und Immo haben, die ansonsten Auftritts-freie Zeit für ihre eigene Musik genutzt. Sie haben die Band Glymmar gegründet und eigene Songs aufgenommen. Finanziell wird ihnen das wohl nicht über die Krise helfen. Für ihre Stimmung und den Durchhaltewillen in der Coronakrise ist das Projekt dafür umso wichtiger. Die Single "Moon Behind the Cloud" erscheint übrigens tatsächlich zufällig diese Woche. Das war Stimmenfang, der Politik-Podcast vom SPIEGEL.
[00:18:47] Zum Schluss noch ein Hinweis in eigener Sache: Denn viele von Ihnen schreiben uns, dass Ihnen dieser Podcast gefällt. Und wenn Sie unsere Art Journalismus zu machen überzeugt, dann laden wir Sie ein, unser Angebot SPIEGEL Plus zu testen. Mit SPIEGEL Plus erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln auf spiegel.de und bekommen außerdem die digitale Ausgabe des gedruckten SPIEGEL jeden Freitag schon ab 13 Uhr, bevor das Heft am Samstag am Kiosk liegt. Weitere Informationen zu SPIEGEL Plus finden Sie unter spiegel.de/abo.
[00:19:18] Die nächste Stimmenfang-Folge gibt es wie immer am kommenden Donnerstag auf spiegel.de, Spotify, bei Apple Podcasts und in allen üblichen Podcast-Apps. Wenn Sie uns Feedback dazu schicken möchten, können Sie uns an stimmenfang@spiegel.de schreiben. Ich bin Sandra Sperber und bei der Produktion wurde ich diese Woche unterstützt von Philipp Fackler, Charlotte Meyer-Hamme, Johannes Kückens, Matthias Streitz, Philipp Wittrock und Yasemin Yüksel. Unsere Stimmenfang-Musik kommt von Davide Russo.
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