Wulff-Nachfolger Gauck Jetzt also doch
Berlin - Es ist kurz nach halb zehn Uhr abends, als Joachim Gauck endlich auch mal was sagen darf. Seit rund zwanzig Minuten muss er sich von all diesen Politikern um ihn herum nun schon wahre Elogen auf sich anhören. Die Kanzlerin preist ihn, der SPD-Chef huldigt ihm und ebenso die Vorsitzenden von FDP, CSU und Grünen. Er freue sich darüber, sagt Gauck schließlich, keine Frage. Aber ein bisschen arg spontan sei die Einladung dann doch erfolgt: "Ich bin ja noch nicht mal gewaschen." Da quält sich selbst Angela Merkel zu einem Lächeln.
Nein, Joachim Gauck ist nicht der einzige, der vom Verlauf dieses Wochenendes etwas durcheinandergewirbelt worden ist. Er schien eigentlich fast aus dem Rennen, doch dann führte plötzlich kein Weg mehr an ihm vorbei. Und so sitzt er jetzt da, im Kanzleramt, zufrieden, aber auch ein wenig überrumpelt, umrahmt von den großen Parteichefs. Gauck ist ihr Kandidat für das Schloss Bellevue. Er soll Bundespräsident werden. Jetzt also doch.
"Ich bin überwältigt", sagt Gauck. "Irgendwann ganz tief in der Nacht werde ich auch beglückt sein. Im Moment bin ich eher verwirrt."
Es war keine ganz leichte Operation, die seine Kandidatur an diesem Sonntag hervorgebracht hat. Phasenweise hatte man den Eindruck, als werde das nie etwas mit einem Kandidaten für die Nachfolge von Christian Wulff, oder besser gesagt: mit einem gemeinsam getragenen Kandidaten. Sitzung reihte sich an Sitzung, Telefonschalte an Telefonschalte. Nur eine Lösung war nicht in Sicht. Im Gegenteil. Es gab Streit, vor allem aber gab es einen Machtkampf zwischen Union und FDP, der so plötzlich kam, dass manch einer schon das Totenglöckchen für die Koalition läuten hörte. Am Ende raufte man sich zusammen, aber man darf annehmen, dass der Präsidentenpoker das Verhältnis zwischen den Koalitionspartnern noch lange belasten wird.
Harter Machtkampf
Schon am Mittag ist klar, dass sich da etwas zusammenbrauen würde. Gegen 13 Uhr rollen die Limousinen der Vorsitzenden von CDU, CSU und FDP durch die Tore des Kanzleramts, so wie man das die letzten Tage mehrfach gesehen hatte. Man will mal wieder die Köpfe zusammenstecken, um zu schauen, mit welchem Personalvorschlag man am Nachmittag auf die Opposition zugehen könnte. Viele Namen sind es nicht mehr, die auf den Listen der Parteichefs stehen. Wolfgang Huber ist da noch verzeichnet, der Kirchenmann. Klaus Töpfer, der grüne Schwarze. Und Joachim Gauck eben, der Bürgerrechtler. Der Rest hat abgesagt.
Die Lage ist schnell klar: Mit Huber und Töpfer können die Liberalen wenig anfangen. Der eine ist ihnen zu SPD-nah, der andere würde ihnen als ein zu starkes Signal für Schwarz-Grün erscheinen. Mit Gauck kann aber leider die Union nichts anfangen. Also doch jemand völlig anderes? Die Runde geht auseinander. Sowohl die FDP als auch die CDU schalten ihre Führungsgremien zusammen.

Wulff-Nachfolge: Konsenskandidat Gauck
Die Opposition, die schon am Samstag Joachim Gauck zu ihrem Favoriten ausgerufen hatte, beobachtet das Treiben mit wachsender Unruhe. Per SMS und Kurztelefonaten steht man schon seit Tagen mit der Regierung in Kontakt, doch das angekündigte Treffen wird immer wieder verschoben. Die Grünen schicken ein paar mediale Giftpfeile in Richtung Kanzleramt. SPD-Chef Sigmar Gabriel droht über eine große Sonntagszeitung, man könne auch einen eigenen Kandidaten aufstellen, wenn die Kanzlerin vorhabe, ihren Vorschlag von seiner Partei nur abnicken zu lassen.
Doch man will keinen Eklat, und deshalb erwägen Teile der SPD-Spitze, bei den Verhandlungen der Union entgegenzukommen. Die Idee: Wenn für Joachim Gauck keine Mehrheit möglich sei, könne man den früheren Umweltminister Klaus Töpfer als Kompromiss anbieten. Ein fieses Manöver. Denn Töpfer stößt bei den Liberalen auf entschiedenen Widerstand. Parteichef Rösler hatte den ehemaligen Umweltminister kürzlich in einer Rede einen "konservativen Weltverbesserer" genannt. Es sei "undenkbar", heißt es in FDP-Kreisen, dass Rösler seiner Partei und Fraktion Töpfer als den schwarz-gelben Kandidaten vorstellte.
Dann plötzlich die Wende. Merkel erhält eine Nachricht aus der FDP. Das Präsidium, heißt es, habe in einer Schalte eine Entscheidung getroffen: Man setze ganz auf Joachim Gauck.
Der Konter folgt prompt
Nur Minuten später der Konter vom Koalitionspartner. Unionskreise streuen, Gauck komme für CDU und CSU nicht in Frage. Auch die Chefin sei strikt dagegen. In der Präsidiumsschalte sei deutlich geworden, dass der Ex-Chef der Stasi-Unterlagenbehörde nicht auf die Unterstützung der Kanzlerin zählen könne. Man setze auf Huber. Oder Töpfer. Der Konflikt ist da. Und er wird schnell zum Krach.
Plötzlich wittert die Opposition ihre Chance. Die SPD begräbt ihre Idee, der Regierung den Töpfer-Vorschlag zu unterbreiten. Der geschäftsführende Vorstand der Bundestagsfraktion spricht sich dafür aus, unbedingt an Gauck festzuhalten. Gemeinsam mit der FDP will man eine Kandidatur von Gauck forcieren. Es ist eine heimliche sozialliberale Offensive.
Die Union wird nervös. Für 20 Uhr bestellt die Kanzlerin die Opposition ins Kanzleramt. Entschieden hatte sie betont, dass sie parteitaktische Spielchen in der jetzigen Lage für unangebracht halte. Und jetzt macht ausgerechnet ihr Koalitionspartner die Suche nach einem Wulff-Nachfolger zur Machtprobe. Es ist ein Affront, denn in der FDP-Spitze weiß man, wie heikel die Personalie Gauck für die Kanzlerin ist. Sollte er abermals antreten, würde das wohl als indirektes Eingeständnis Merkels gewertet, 2010 den falschen Mann zum Präsidenten gemacht zu haben. Zudem ahnt man, was einem mit Gauck blühen könnte, jedenfalls haben viele Christdemokraten mit großem Unbehagen verfolgt, wie Gauck sich zuletzt in Fragen der Finanzkrise und der Integration positionierte. "Gauck ist politisch eine ganz heikle Nummer", heißt es.
FDP-Chef Philipp Rösler, so vermutet man in der Union, spiele Vabanque. Er wolle Gauck durchsetzen, um sich später als der Präsidentenmacher präsentieren zu können, heißt es. Das solle seine schwache Rolle in der FDP wieder stärken und die Liberalen vor den anstehenden Landtagswahlen aus dem Tief holen. Schon munkeln die ersten Unionsleute über einen möglichen Koalitionsbruch. Das wird doch bitteschön wirken. Platzen lassen können die Liberalen die Koalition in ihrem Zustand doch wohl nicht.
Doch die FDP lässt sich nicht beirren - und erhöht den Druck auf den Koalitionspartner. "Ich fordere die Union auf, über ihren Schatten zu springen", lässt sich Gesundheitsminister Daniel Bahr zitieren. Zudem lassen FDP-Kreise einen Satz zirkulieren, den Parteichef Philipp Rösler vor seinen Präsiden gesagt haben soll: "Man kann ein Amt oder eine Wahl verlieren, aber nie seine Überzeugung. Huber ist schwarzrot, Töpfer schwarzgrün und Gauck bürgerlich-liberal." Die Botschaft: Wir müssen stehen.
"Der Klügere gibt nach"
Merkel droht eine Klemme: Gibt sie am Ende doch dem Druck der FDP nach, steht sie als schwach da. Bleibt sie auf Konfrontationskurs, könnte das unabsehbare Folgen für das Bündnis haben.
Merkel sucht die Flucht nach vorn. Das CDU-Präsidium kommt abermals zu einer Telefonschalte zusammen. Schnell wird klar: In Sachen Gauck hat man plötzlich fast das gesamte politische Spektrum gegen sich. Weiter Widerstand gegen den populären Prediger zu leisten, würde womöglich teuer. Man muss nachgeben. Aber vergessen wird man das der FDP nicht, erzählen Christdemokraten später.
In der Union wird Röslers Vorgehen als stillos und unkollegial empfunden. "Der Klügere gibt nach", redet man sich in der Union die Lage schön. Die Kanzlerin wolle das Thema Bundespräsident abhaken, um sich wieder voll und ganz der Euro-Krise zuwenden zu können. Einen veritablen Koalitionskrach wolle sie deshalb nun nicht vom Zaun brechen.
Merkel ruft Gauck an. Sie erwischt ihn im Taxi. Wenig später sitzt er neben ihr im Kanzleramt bei der Vorstellung. "Bei aller Verschiedenheit", sagt Merkel und blickt auf ihren Sitznachbarn: "Die Sehnsucht nach Freiheit verbindet uns." Wirklich zufrieden sieht sie nicht aus in diesem Moment.
Rösler grinst zufrieden.