Reaktionen auf Xinjiang Police Files »Eine klare Antwort und weitere Aufklärung«

Wirtschaftsminister Robert Habeck: »International eine klare Antwort und weitere Aufklärung«
Foto: Jan Woitas / dpaEs sind Bilder aus dem Innersten eines unmenschlichen Unterdrückungssystems: Ein Mann mit einer schwarzen Kapuze über dem Kopf kauert vor Polizisten mit Schlagstöcken, seine Hände und Füße sind gefesselt. Auf einem anderen Foto ist der Rücken eines Insassen zu sehen, die Haut von lilafarbenen Striemen überzogen.
Ein Leak von chinesischen Regierungsdaten gibt erstmals konkrete Einblicke, wie China die muslimische Minderheit der Uiguren systematisch unterdrückt und misshandelt. Der SPIEGEL wertete die Bilder und Dateien gemeinsam mit internationalen Medienpartnern aus. Sie zeigen die Folgen von Überwachung und Folter. Sie erzählen, wie Menschen wegen Bagatellen jahrzehntelang weggesperrt werden. Sie dokumentieren, wie die chinesische Regierung in der Region Xinjiang systematisch Menschenrechte verletzt.
Die deutsche Politik wird dadurch einmal mehr mit einem Dilemma konfrontiert, das sie selbst geschaffen ist. Die wirtschaftlichen Beziehungen zu China sind eng, gleichzeitig belegen die Xinjiang Police Files nun, wie der chinesische Staat eine ganze Volksgruppe drangsaliert. Braucht es also nicht nur im Verhältnis zu Russland eine Zeitenwende, sondern auch in der Beziehung zu China? Und wie soll das Verhältnis zu einem Staat aussehen, der Hunderttausende Menschen mithilfe eines umfassenden Überwachungsapparats unterdrückt und sie in Internierungslagern quält?
Abhängigkeiten reduzieren?
Aus der Opposition wird die Forderung nach mehr Distanz zu China laut. »Die Xinjiang Police Files dokumentieren eine neue Dimension der Brutalität gegenüber den Uiguren. Sie zeigen eindeutig, mit was für einem menschenverachtenden Regime wir es in China zu tun haben«, sagte der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen dem SPIEGEL. »Die deutsche Bundesregierung sollte die Xinjiang Police Files als Warnung begreifen und damit beginnen, die eigenen Abhängigkeiten von China zu reduzieren.«
Doch es ist schwierig, mehr Distanz zu China zu schaffen, und das liegt nicht zuletzt an der Außenpolitik, die in den vergangenen Jahren unter der CDU-Kanzlerin Angela Merkel betrieben wurde. Chinapolitik bedeutete in Deutschland lange vor allem Handelspolitik, kaum ein anderes westliches Land hat wohl so stark vom chinesischen Aufstieg profitiert. 2018 hieß es dazu im Koalitionsvertrag von Union und SPD noch: »Chinas ökonomische Entwicklung ist besonders für die deutsche Wirtschaft eine große Chance.« Ein grundlegendes Umdenken in der Chinapolitik brächte mutmaßlich Einschnitte für zahlreiche deutsche Firmen mit sich – und das in einer Zeit, in der Deutschland ohnehin bereits mit dem Versuch beschäftigt ist, sich trotz aller Hürden unabhängig von russischem Gas und Öl zu machen.
»Es ist seit Langem klar, dass China zwar ein großer Handelspartner ist, es aber sehr relevante Probleme gibt, auch bei der Einhaltung von Menschenrechten. Das wurde jahrelang ausgeblendet«, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck dem SPIEGEL. »Diese Regierung hat den Umgang mit den China-Fragen aber verändert. Wir diversifizieren uns stärker und verringern unsere Abhängigkeiten auch von China. Die Wahrung der Menschenrechte hat ein höheres Gewicht.« Nach den schockierenden Bildern aus Xinjiang müsse es nun »international eine klare Antwort und weitere Aufklärung geben«, forderte der Grünenpolitiker.
Schon jetzt untersuche man zudem Anträge deutscher Unternehmen auf Bürgschaften des Bundes für Investitionen in China genau, »um Menschenrechtsverletzungen und Zwangsarbeit auch in der Lieferkette auszuschließen«, erklärte Habeck. »Wir prüfen zudem chinesische Übernahmeofferten in Deutschland sehr genau und mit dem nötigen kritischen Blick. So haben wir den Erwerb eines Unternehmens im Gesundheitssektor jüngst untersagt.« Es gebe Stellschrauben, die man auch nutze.
Johannes Vogel, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion
Eine langfristige Linie ersetzen diese Hebel allerdings nicht. Im Auswärtigen Amt wird schon seit Längerem an einer »China-Strategie« gefeilt, Genaueres ist aber nicht bekannt. Man müsse sich daher dringend Gedanken machen, »wie wir als Bundesrepublik mit der zunehmenden Autokratisierung Chinas zukünftig umgehen«, sagte die FDP-Außenpolitikerin Anikó Merten dem SPIEGEL. Die aktuellen Bilder seien »grausam, entsetzlich und vor allem nicht hinnehmbar. Wirtschaftliche Faktoren dürfen dabei kein Gradmesser für die Bewertung dieses Verbrechens sein«, so Merten.
Johannes Vogel, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, beschäftigt sich schon seit Jahren intensiver mit China, verbrachte 2014 gar ein Vierteljahr im Riesenreich und lernte, wie er selbst sagt, dabei auch ein wenig Chinesisch. »Wer schon länger genau hinschaut, kann leider nicht überrascht sein«, kommentiert er gegenüber dem SPIEGEL die jüngsten Enthüllungen. »Die Enthüllungen dokumentieren erschütternd plastisch die Radikalisierung des chinesischen Regimes unter Xi Jinping.«
Der FDP-Vizeparteichef benennt das, was ihn seit Jahren umtreibt: »Die schreckliche Entwicklung schreit geradezu nach einer gemeinsamen Strategie des Westens im neuen Systemwettbewerb, die längst überfällig ist.« Gerade Europa müsse »seine Strategiearmut mit Blick auf China schleunigst überwinden«, daran müsse die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik dringend arbeiten.
Lars Klingbeil, SPD-Parteichef
SPD-Parteichef Lars Klingbeil sagte dem SPIEGEL, die Recherchen zeigten »das Bild eines Überwachungsstaates, der vor allem die muslimische Bevölkerung der Uiguren systematisch unterdrückt«. Solange die chinesische Regierung keine unabhängige Untersuchung zulasse, »verhärtet sich der Verdacht, dass hier organisiert und in vollem Bewusstsein massive Verbrechen gegen die Menschlichkeit« begangen würden.
»China versucht sich vermehrt jeglicher Beobachtung und Kritik eigener Menschenrechtsverletzungen zu entziehen«, sagte Klingbeil. »Als internationale Staatengemeinschaft dürfen wir hier nicht wegschauen und müssen die Universalität der Menschenrechte verteidigen.« Man müsse auch »wirtschaftliche Abhängigkeiten gegenüber China überdenken und uns insgesamt in Europa souveräner aufstellen«.
Außenministerin Annalena Baerbock sprach am Dienstag mit ihrem chinesischen Amtskollegen über das Thema. In einem schon länger anberaumten Videotelefonat habe die Grünen-Politikerin auch die »schockierenden Berichte und neuen Dokumentationen über schwerste Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang« thematisiert, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Die Grünenpolitikerin fordere eine »transparente Aufklärung der Vorwürfe«.
In einer Pressekonferenz wählte Baerbock klare Worte. »Jeder, der diese Bilder sieht, dem läuft es eiskalt den Rücken herunter. Diese Bilder sind verstörend und erschreckend«, sagte sie. »Und sie untermauern das, was ja seit Längerem bereits im Raum stand, nämlich dass in Xinjiang schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen werden.«

Außenministerin Annalena Baerbock
Foto: JANIS LAIZANS / REUTERSAuch an anderen Stellen hofft man, dass China nun Transparenz schafft. Die Uno-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet ist diese Woche zu einer Reise durch die Volksrepublik aufgebrochen. Bachelet will auch die Region Xinjiang besuchen, um sich ein Bild von der Situation der Uiguren zu machen. Dieser Besuch sei eine Chance, dass die Menschenrechtslage in China »die nötige Aufmerksamkeit bekommt«, sagte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gabriela Heinrich dem SPIEGEL. »Es sollte in Chinas Interesse sein, dass die UN-Menschenrechtskommissarin ungehinderten Zugang erhält, um alle nötigen Informationen einzuholen.«
Gesetz gegen Produkte aus Zwangsarbeit
Ähnlich klingt der Linkenpolitiker Wulf Gallert, Vizepräsident im Landtag von Sachsen-Anhalt. Die Belege für schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Uiguren seien »immer stichhaltiger« und könnten »nur durch maximale Transparenz der chinesischen Regierung selbst« widerlegt werden.
Doch wie viel Transparenz ist von China wirklich zu erwarten? Die chinesische Regierung behauptet bis heute, bei den Internierungslagern handle es sich um berufliche Fortbildungseinrichtungen, deren Ziele die Armutsbekämpfung und der Kampf gegen extremistisches Gedankengut seien; der Aufenthalt in den Lagern sei freiwillig. Es gilt daher als unwahrscheinlich, dass China der Uno-Kommissarin Bachelet ermöglichen wird, sich ein unabhängiges Bild der Lage zu machen.
In der EU bereitet man sich deshalb schon darauf vor, im Zweifel Druck aufzubauen. Die Xinjiang Police Files würden eindeutig belegen, was in der chinesischen Region vorgeht – »das muss Konsequenzen haben«, sagte Bernd Lange (SPD), Vorsitzender des mächtigen Außenhandelsausschusses des Europaparlaments. Dort bereitet man bereits ein neues Gesetz vor, es soll die Einfuhr von Produkten verbieten, die auf Zwangsarbeit beruhen. »Das wird durch die neuen Enthüllungen sicher noch einmal eine neue Dynamik bekommen«, so Lange.
Wirken Sanktionen?
Er erwartet, dass auch der Druck auf europäische Firmen zunehmen wird, ihre Lieferketten offenzulegen und nachzuweisen, dass sie frei von Zwangsarbeit sind. Zudem habe Peking erst im April die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) unterzeichnet, die den Einsatz von Zwangsarbeit untersagen. »Es ist absurd, dass China in der Realität offensichtlich das genaue Gegenteil tut«, so Lange. »Dafür werden wir Peking diplomatisch hart angehen.«
Die EU hat wegen der Unterdrückung der Uiguren in der Region Xinjiang bereits im März 2021 Sanktionen gegen das Büro für öffentliche Sicherheit von Xinjiang sowie Vertreter des Parteikomitees des uigurischen autonomen Gebiets Xinjiang verhängt. Diese Sanktionen hätten allerdings nichts erreicht, sagte der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Gregor Gysi. »Selbstverständlich müssen die chinesischen Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Uiguren so schnell wie möglich eingestellt werden«, sagte Gysi. Vielleicht solle man »über verdoppelt starke Diplomatie, über Angebote statt über Sanktionen« versuchen, etwas für die Uiguren zu erreichen.
Reinhard Bütikofer, Chef der China-Delegation des Europaparlaments, argumentiert für das Gegenteil: Die Xinjiang Police Files »belegen eindeutig, wie sehr auch ranghohe Funktionäre der Kommunistischen Partei in dieses außerordentlich brutale Unterdrückungsregime involviert sind«, sagte der Grünenpolitiker Bütikofer. »Angesichts des Gewichts der Veröffentlichungen kann die EU nicht bei ihren bisherigen, vorsichtigen Sanktionen stehen bleiben.«