Zeitgeschichte Scheitern als Chance

Helmut Kohl war nicht nur der Kanzler mit der längsten Amtszeit. Er war auch ein Meister in der Kunst des Scheiterns: Seine Karriere begann und endete mit Niederlagen.
Von Michael Koß

Es fällt aus heutiger Perspektive schwer, den Kanzlerkandidaten Helmut Kohl zu betrachten, ohne den späteren Dauerkanzler mitzudenken. Eine 16-jährige Regentschaft als nachmaliger Kanzler der Einheit hatte sich 1976 keineswegs abgezeichnet. Die Bedingungen, unter denen Kohl antrat, waren schwierig, nachgerade katastrophal: Nicht wenige innerhalb der Union, vor allem in der CSU um Franz-Josef Strauß, schienen mehr an einem Scheitern Kohls als an der Regierungsteilhabe der Union interessiert.

Den widrigen Umständen zum Trotz fuhr die Union mit 48,6 Prozent das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte ein. Kohl bestach vor allem durch eine zentrale Kompetenz: Niederlagen einzustecken und langfristig in Erfolge umzumünzen. Dies verdankte er vor allem seiner symbiotischen Verflechtung mit dem Organisationsnetzwerk der CDU.

Helmut Kohl war ein homo novus in mehrfacher Hinsicht. Zunächst entstammte er einfachen Verhältnissen. Vor allem aber lebte Kohl als einer der Ersten in der Union ausschließlich für die und von der Politik, so wie der große Soziologe Max Weber es als Kennzeichen von Berufspolitikern beschrieben hat. Kohl hatte in der CDU das absolviert, was man später die "Ochsentour" nennen sollte. An ihm lässt sich beispielhaft studieren, was Platzhirsche gegenüber Seiteneinsteigern in der Politik auszeichnet.

Altmänner-Kaste CDU

Kohl verstand es von Anfang an, sich als die politische Zukunft seiner Partei zu stilisieren. Ihm kam zugute, dass sein parteiinterner Aufstieg in eine Zeit fiel, zu der die CDU nahezu ausschließlich von alten Männern geführt wurde, die ihre politische Prägung in der Weimarer Republik erfahren hatten. Die mittleren Jahrgänge waren durch den Krieg stark dezimiert. Die Zeit war schlechterdings reif für einen jungen Herausforderer des Parteiestablishments. Zudem profitierte Kohl von den organisatorischen und programmatischen Defiziten seiner Partei.

Die CDU war in den 1960er-Jahren in schweres Fahrwasser geraten. Hatte Adenauer die Partei noch straff geführt und ihre Gremien weitgehend ignoriert, so wurde die Abwesenheit einer schlagkräftigen Parteiorganisation auf Bundesebene nach dem Abgang des "Alten" zu einem immer dringenderen Problem. Seit die CDU sich in der Opposition befand, war es auch nicht mehr möglich, die eigene Politik als Programm zu verkaufen. Kohl profilierte sich in dieser Situation geschickt als Fürsprecher der Erneuerung und gelangte auf diese Weise bis 1973 an die Spitze der Bundes-CDU.

Kohls Karriere vollzog sich allerdings auch in der Phase seines scheinbar kometenhaften Aufstiegs nicht so ungetrübt, wie dies im Nachhinein oft dargestellt wurde. Nahezu kein parteiinternes Amt erreichte er ohne vorherige vergebliche Kandidatur. 1971 erlebte Kohl zwei herbe Rückschläge, die zarteren Gemütern für lange Zeit die Bundespolitik verleidet hätten. Als Vorsitzender der Programmkommission verteidigte er auf dem Düsseldorfer Parteitag den liberalen Vorschlag des Parteivorstandes und votierte dann – nach eigenen Aussagen aus Unachtsamkeit – in der Abstimmung gegen die eigene Vorlage.

Beschwerlicher Weg zur Kanzlerschaft

In den Medien war damals bereits von "Kohls Cannae" die Rede. Kohls hingegen nahm seine Niederlage klaglos hin, suchte – und fand – Rückhalt in der Partei. Ebenfalls 1971 unterlag Kohl haushoch Rainer Barzel bei der Abstimmung über die Kanzlerkandidatur. Zwei Stunden nach dem Parteitag sah man ihn im Kreis der Mitarbeiter scherzend bei Wein und gutem Essen.

1973 war Kohl dann der erste Vorsitzende der CDU, der sämtliche Stufen der Parteihierarchie durchlaufen hatte und sich mit den Problemen der Partei genauestens auskannte. Dies war das Pfund, mit dem er wuchern konnte. Sein Beispiel, über die Länderebene in höchste Parteiämter der CDU vorzustoßen, sollte Schule machen. Landespolitiker wurden zur Machtreserve der CDU.

Kohls größter Gegner auf dem Weg zur Kanzlerschaft war Franz-Josef Strauß. Der Vorsitzende der CSU hielt sich schlichtweg für brillanter als der behäbige Kohl und scharte dessen innerparteiliche Gegner, denen der Pfälzer nicht konservativ genug erschien, um sich. Kaum zu glauben, aber wahr: Damals musste Kohl sich noch gegen das Verdikt erwehren, zu progressiv zu sein. Die Streitpunkte innerhalb der CDU/CSU waren Legion. Zunächst war da die Ostpolitik, bei der die Hardliner um Strauß sich gegen eine Anerkennung der DDR und der Grenze zu Polen aussprachen. Ferner war die Strategie gegenüber der FDP umstritten. Kohl plädierte für einen bedachten Kurs, wollte die FDP aus der Koalition mit der SPD herausbrechen. Für Strauß war die FDP schlicht Teil des "sozialistischen Blockes" und kam damit als Koalitionspartner nicht in Frage.

Als Strauß sich in seiner "Sonthofener Rede", die im März 1975 vom SPIEGEL lanciert wurde, dafür aussprach, dass die Union die sozialliberale Koalition in den Staatsbankrott treiben solle, hatte er den Bogen überspannt. Kohl, der zuvor geschickt abgewartet hatte (auch dies war schon damals eine seiner Kernkompetenzen), konnte nun die Kanzlerkandidatur für sich reklamieren. Nichtsdestotrotz nutzte Strauß weiterhin jede Gelegenheit, dem Kandidaten Knüppel zwischen die Beine zu werfen, und das, obwohl er selbst als Superminister im Gespräch war. Strauß konterkarierte die Versuche Kohls, mit liberalen Persönlichkeiten und Inhalten an Wechselwähler zu appellieren ebenso wie dessen Annäherungsversuche an die FDP. Er zwang dem Kandidaten den Slogan "Freiheit statt Sozialismus" auf, der zwar zu einer einmaligen Polarisierung der Wählerschaft führte, letztlich jedoch mehr die sozialliberale Regierungskoalition zusammenschweißte.

Strauß apokalyptische Ausfälle

Wie konnte Kohl angesichts dieser innerparteilichen Querelen überhaupt ein so respektables Wahlergebnis einfahren? Zunächst marschierte zum ersten Mal seit 1953 der Genosse Trend nicht mehr eindeutig auf Seiten der SPD. War 1972 die einsetzende wirtschaftliche Skepsis durch Zustimmung zur Ostpolitik der sozialliberalen Koalition überlagert worden, so hatte sich dieses Bild nun gewandelt. Es mehrte sich die Zahl derer, die eine energischere Politik gegenüber den Ostblockstaaten forderten.

Gleichzeitig sorgte insbesondere der Ölpreisschock dafür, dass die wirtschaftliche Situation deutlich negativer beurteilt wurde als bei der Wahl zuvor. Kohl versuchte geschickt, an den erlahmenden Reformeifer insbesondere solcher, die von diesen Reformen profitiert hatten, zu appellieren. Dabei halfen ihm seine guten Sympathiewerte und seine in den Augen der Öffentlichkeit hohe Glaubhaftigkeit. Zudem führte Kohl mit unermüdlichem Einsatz einen exzellent durchorganisierten Wahlkampf.

Hinzu kam, dass der politische Gegner zusehends ins Straucheln geriet. Die FDP streckte unübersehbar ihre Fühler in Richtung Union aus. Nur Strauß und seinen apokalyptischen Ausfällen war es zu verdanken, dass 1976 an einen Koalitionswechsel nicht zu denken war. Die SPD hatte unter Helmut Schmidt einen Richtungswechsel in ihrer Regierungspolitik vollzogen: Nicht mehr Reformeifer, sondern Pragmatismus und Stabilität standen nun im Mittelpunkt. In der Partei vermisste man vor allen den "Willy". Erst Strauß brachte die Genossen auf Trab. Hätte sich nicht kurz vor den Wahlen das wirtschaftliche Klima gebessert, wäre ein Sieg Kohls möglich gewesen.

Als Fazit bleibt festzuhalten: Nur wenige Niederlagen schmeckten so süß wie die von Helmut Kohl 1976. Mit einem derart entsicherten Strauß im Kabinett hätte Kohl einen schweren Stand als Kanzler gehabt. Durch zahllose Misserfolge abgehärtet, zudem ausgestattet mit weiten innerparteilichen Rückzugsräumen, konnte Kohl stattdessen abwarten, bis Strauß 1980 mit Pauken und Trompeten scheiterte. Danach war die Zeit reif für den erprobten Verlierer und Aussitzer Kohl.

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