Zeitgeschichte Vogels aussichtsloser Kampf gegen Kohl

Es hat schon dankbarere Aufgaben gegeben: Hans-Jochen Vogel, der SPD-Kanzlerkandidat für die Bundestagswahlen 1983, sollte für eine Partei die Macht erobern, der die Lust darauf eigentlich längst vergangen war.

Berlin - Erst im Oktober 1982 war der SPD-Kanzler Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt worden. Der liberale Koalitionspartner hatte die Fronten gewechselt und in einer neuen Koalition mit der Union Helmut Kohl zum Bundeskanzler gemacht. Doch schon lange vor dem Bruch mit der FDP hatten viele Sozialdemokraten die Regierungsverantwortung als Bürde empfunden, an der man schwer trug. Die SPD konnte zwar regieren, aber die meisten Genossen hatten die Politik, die in ihrem Namen gemacht wurde, als wenig sozialdemokratisch empfunden. Nicht wenige in der Partei interpretierten den Wechsel in die Opposition daher durchaus als Befreiung, als Möglichkeit, neue politische Perspektiven jenseits des Regierungsalltages auszuloten.

Nun war allerdings auch kaum zu befürchten, dass sich die SPD so bald in der Regierungsverantwortung wiederfinden würde. Da die FDP auf absehbare Zeit zurück ins bürgerliche Lager gewechselt war, die Grünen – deren erstmaliger Einzug in den Bundestag 1983 unvermeidlich erschien – als ernsthafter Koalitionspartner noch nicht in Frage kamen, bliebe nur eine absolute Mehrheit für die SPD. Angesichts der jahrelangen Erosion der sozialdemokratischen Wählerbasis war das jedoch ein ganz und gar utopisches Unterfangen.

Kurz gesagt: Im Grunde wurde ein Kandidat für die sichere Niederlage gesucht – und in Hans-Jochen Vogel war man in der Tat fündig geworden, nicht nur, weil für den aus bürgerlichen Verhältnissen stammenden Prädikatsjuristen Pflichterfüllung und Treue wichtige Orientierungspunkte innerhalb des politischen Koordinatensystems waren. Überdies hatte Vogel im Laufe seiner Karriere ein spezifisches Verhältnis zu Sieg und Niederlage kultiviert: Er hatte gelernt mit Anstand und Würde zu verlieren.

Das indes war ein langer und schmerzhafter Prozess gewesen. Zu Beginn seiner politischen Karriere besaß Vogel eher das Image des strahlenden Gewinnertypen. Als er 1960 in München mit über 60 Prozent der Stimmen und gerade 34 Jahren zum jüngsten Oberbürgermeister einer europäischen Millionenmetropole gewählt wurde, galt Vogel als große sozialdemokratische Nachwuchshoffnung. Bis Anfang der 70er Jahre rückte er in den Bundesvorstand der SPD auf und wurde bayerischer Landesvorsitzender. Wie viele andere, die in ihrem Leben nur den stetigen Erfolg erfahren haben, war der Vogel dieser Jahre kein besonders angenehmer Zeitgenosse: Herrschsüchtig, sarkastisch und bisweilen verletzend im Umgang mit seinen politischen Gegnern, dafür mit wenig Zweifeln über die eigenen Fähigkeiten belastet.

Doch 1972 zerbrach die politische Welt des Hans-Jochen Vogel. Die Münchner SPD war von entschlossenen und äußerst radikalen Jungsozialisten unterwandert worden, die mittels wohlorchestrierter Kampfabstimmungen ganze Ortsvereine der bajuwarischen Landeshauptstadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Zur Zielscheibe der Attacken der marxistischen Kader wurde der Oberbürgermeister, der als Agent kapitalistischer Klasseninteressen beschimpft wurde. Vogel zahlte die Provokationen mit scharfer Münze zurück und der Konflikt eskalierte. Auf den Münchener Parteiveranstaltungen wurde nicht mehr sachlich diskutiert, sondern niedergeschrieen, ausgebuht, konspiriert und intrigiert. Entnervt und entkräftet gab Vogel auf und verzichtete 1972 auf eine erneute Kandidatur als Münchner Oberbürgermeister.

Aus dem unerbittlichen Perfektionisten und Oberlehrer wird ein Mann, der zuhören kann und Verständnis zeigt

Doch die Niederlage veränderte Vogel, der 1972 als Wohnungsbauminister nach Bonn wechselte und dort 1974 schließlich Justizminister wurde. Aus dem unerbittlichen Perfektionisten und autoritären Oberlehrer wurde ein Mann, der lernte, zuzuhören und Verständnis für abweichende Meinungen zu zeigen. Erstaunt wurde registriert, dass er, der als kalter Bürokrat galt, plötzlich Züge von Menschlichkeit offenbarte, sich Parteigenossen annahm, die mit persönlichen oder politischen Problemen zu kämpfen hatten. Vor allem aber: Vogel verändert seinen politischen Standort. Vom rechten Sozialdemokraten und „Juso-Fresser“ wandelte er sich zum Mann des Ausgleichs, der zwischen linkem und rechtem Parteiflügel vermittelte und der durch die Arbeit in der Grundwertekommission der SPD eine neue Sensibilität für die sozialdemokratische Parteiseele entwickelte.

Der wichtigste Wendepunkt seiner Karriere erfolgte jedoch 1981, als Vogel von der Bonner Parteiführung nach Berlin entsandt wurde, um dort Regierender Bürgermeister zu werden. Es war ein politisches Himmelfahrtskommando: Die Berliner SPD war tief zerstritten und von Skandalen gebeutelt. In den Umfragen für die nur vier Monate später anstehenden Senatswahlen lag sie völlig aussichtslos zurück. Vogel verlor die Wahl dann auch erwartungsgemäß – aber doch knapper als von vielen vorausgesagt. Doch gerade dieser "Opfergang" brachte Vogel großen Respekt innerhalb der Partei ein. Schließlich hatte er nicht nur seine eigene Karriere seinen Pflichten als Sozialdemokrat untergeordnet, sondern auch bewiesen, dass man in der Politik ohne Gesichtsverlust verlieren konnte.

Im Wahlkampf entsteht eine neue Form des Wir-Gefühls der SPD

Das waren wichtige Eigenschaften für die Situation des Jahres 1983, in der das eigentliche Ziel für die SPD in weiter Ferne lag. Auch Vogels Fokus war nicht in erster Linie auf das Kanzleramt gerichtet. Wichtiger war, die zerrissene Partei zu integrieren, die Wunden zu heilen, die die letzten Jahre der Kanzlerschaft Helmut Schmidts hinterlassen hatten. Selten hat die SPD einen Wahlkampf geführt, in dem sie sich so stark mit ihrem eigenen Selbstverständnis beschäftigte wie 1983. Der Koalitionswechsel der FDP – von vielen Sozialdemokraten als "Verrat" empfunden – war dabei gewiss von Vorteil. Wieder einmal wurde die Melodie von der "Partei des aufrechten Ganges" intoniert, die auch in schwierigen Zeiten immer zu ihren Grundwerten gestanden habe, ganz gleich, wie stark und übermächtig der politische Gegner gewesen sei. Politisch unterlegen – moralisch jedoch überlegen, dass war auch die sozialdemokratische Trostlosung des Jahres 1983.

Und so entstand im Wahlkampf tatsächlich eine neue Form des Wir-Gefühls innerhalb der SPD. Der Kanzlerkandidat Vogel wollte die Partei als "Geschichts- und Gefühlsgemeinschaft" verankern, die nicht durch einen kurzfristigen Verlust der Regierungsmacht aus dem Gleichgewicht zu bringen war, und deren Aufgabe es sei, "Halt und Geborgenheit" zu vermitteln. Es waren noch einmal die alten Töne der kuscheligen Wagenburg der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft, die im Winter 1982/1983 zu hören waren. Allerdings: Zum strahlenden Charismatiker war Hans-Jochen Vogel nicht über Nacht geworden; selbst wenn er von den "letzten Werten der Sozialdemokratie" sprach, blieb er in einer Tonlage, die auch trefflich zum Verlesen einer Kabinettsvorlage geeignet gewesen wäre. Zu einer wichtigen Integrationsfigur in schweren Zeiten avancierte der sozialdemokratische Kanzlerkandidat hingegen sehr wohl.

Den Wahlsieg brachte das der Partei dennoch nicht. Mit 38,2 Prozent erzielte die SPD das schlechteste Ergebnis seit 1961. Vogel war der erste sozialdemokratischer Kanzlerkandidat, der einen Wahlkampf an zwei Fronten zu führen hatte: Ein Teil der SPD-Wähler war zur Union abgewandert, ein anderer Teil zu den Grünen. Vogel wurde die Niederlage jedoch nicht angelastet. Ganz im Gegenteil: Erst die Kandidatur machte ihn zum ersten Mann der SPD. Er übernahm nach der Wahl den Fraktionsvorsitz und wurde 1987 schließlich Nachfolger Willy Brandts als SPD-Parteivorsitzender.

Einen spektakulären Platz nimmt Hans-Jochen Vogel in der Ahnengalerie gescheiterter Kanzlerkandidaten nicht ein. Keine epische Tragik wie bei Kurt Schumacher; keine Geschichte vom durch Niederlagen gereiften Helden wie bei Willy Brandt; aber eben auch kein grandioses Scheitern wie etwa bei Rainer Barzel. Aber eines immerhin lässt sich doch aus seiner Geschichte lernen: Auch in einer Niederlage kann ein Sieg liegen. Von den folgenden sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten, die sich in den nächsten Jahren an Helmut Kohl die Zähne ausbeißen sollten, lässt sich das nicht behaupten.

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