
Zwickauer Zelle: Was konnten die Behörden wissen?
Zwickauer Zelle Republik im Schockzustand
Berlin - Erst schien es eine Tat im kriminellen Milieu. Zwei Männer sterben in einem Wohnwagen, eine Wohnung in einem Haus in Zwickau wird von einer Komplizin in die Luft gesprengt. Doch nun wird immer deutlicher: Die Bundesrepublik steht vor dem Phänomen eines kaltblütigen Rechtsterrorismus.
Noch Ende Juli, nach den Massentötungen von Jugendlichen durch Anders Behring Breivik in Norwegen, hatte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich erklärt: Es gebe keine Hinweise auf rechtsterroristische Aktivitäten in Deutschland. Nun muss auch der CSU-Politiker sein Urteil revidieren - und sprach am Sonntag in Berlin von "einer neuen Form des rechtsextremistischen Terrors".
Das war eine klare Ansage. Und eine Wendung im Fall der mutmaßlichen Zwickauer Terrorzelle. Die Republik und mit ihr die Politik ist in einer Art Schockzustand. Erst langsam dämmert es vielen, dass im Untergrund offenbar jahrelang eine Gruppe mordend durch die Republik zog und sich im Stillen ihrer Taten rühmte. Eine solche Dimension hat es lange nicht mehr gegeben. Zuletzt war 1980 ein Anschlag auf das Oktoberfest in München begangen worden, bei dem 13 Menschen starben und 216 zum Teil schwer verletzt wurden. Eine Tat, die bis heute noch zu vielen Spekulationen führt, begangen angeblich von einem Einzeltäter, der allerdings Kontakte zu einer rechtsextremen Wehrsportgruppe unterhielt.
Noch sind viele Details ungeklärt, doch Politiker in Bund und Ländern reagieren besorgt auf die Enthüllungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchte die Dinge nicht zu dramatisieren, aber auch sie gestand vor Beginn des CDU-Bundesparteitags in Leipzig ein: Bereits jetzt könne gesagt werden, dass sich Strukturen erkennen ließen, "die wir uns so nicht vorgestellt haben." Am Sonntagabend sagte sie der ARD und dem ZDF, die Angehörigen dürften darauf vertrauen, dass der Rechtsstaat alles tun werde, um die Hintergründe herauszufinden. Die Kanzlerin bezeichnete die Jahre zurückliegenden Verbrechen als "beschämend" und "erschütternd". Es sei schrecklich, dass die Taten so lange nicht aufgedeckt worden seien. Auch dies müsse untersucht werden. Dann müsse man daraus auch die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Bundesinnenminister Friedrich lässt nun prüfen, ob neben den bisher bekannten Morden weitere Straftaten auf das Konto der Gruppe gehen. Alle ungeklärten Straftaten seit 1998, die einen fremdenfeindlichen Hintergrund haben könnten, würden auf eine Verbindung zu den Thüringer Neonazis untersucht, sagte der CSU-Politiker. Ähnlich wie bei der Roten-Armee-Fraktion (RAF) müsse dafür gesorgt werden, "dass nicht nur die Täter dingfest gemacht werden, sondern auch die Unterstützer- und Sympathisantenszene ins Visier der Ermittlungsbehörden kommt", ergänzte Unions-Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier. "Wir haben es hier mit einer Art von rechtsextremistischem Terrorismus zu tun, den wir bis vor wenigen Tagen noch nicht für möglich gehalten hätten."
Eine blutige Spur
Das Ausmaß der Taten, die seit vergangener Woche von der Bundesanwaltschaft untersucht werden, lässt sich in Konturen erkennen: Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die am 4. November in einem Wohnmobil bei Eisenach tot aufgefunden wurden und sich nach Angaben der Polizei selbst umbrachten, haben ein Geständnis hinterlassen. Auf vier DVDs, die die Ermittler in den Trümmern des Wohnhauses der Gruppe in Zwickau fanden und über die in der neuesten Ausgabe SPIEGEL berichtet wird, erklären sie, ihre Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" sei ein "Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz Taten statt Worte". Auf den DVDs rühmen die beiden Männer sich nicht nur eines Anschlags in Köln im Jahre 2004, bei dem eine Nagelbombe in einem überwiegend von Migranten bewohnten Viertel 22 Menschen verletzte.
Auf den DVDs bekennen sich die Täter auch zu einer grausamen Serie an Morden, bei denen zwischen 2000 und 2006 acht türkischstämmige Männer und ein griechischstämmiger Mann in mehreren Orten der Republik getötet wurden. Von einigen ihrer Opfer machten sie offenbar sogar Aufnahmen nach der Tat. Zudem wurde bei den beiden toten Männern, die bereits zu früheren Zeiten einschlägige Kontakte zur Neonazi-Szene hatten, die Dienstwaffe einer 2007 umgebrachten Polizistin gefunden. Ihr war hinterrücks in den Kopf geschossen worden, ihr Kollege überlebte schwerverletzt.
Die mutmaßliche Komplizin der beiden toten Rechtsextremisten, Beate Zschäpe, hatte die gemeinsam bewohnte Wohnung in Zwickau in die Luft gesprengt und sich vergangene Woche gestellt. Sie schweigt bislang, will offenbar nur bei Anwendung der Kronzeugenregelung aussagen und erhofft sich so Strafmilderung. Sie wurde am Sonntagabend dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (BGH) vorgeführt, auf Antrag der Bundesanwaltschaft erließ der Richter einen Haftbefehl wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Ein weiterer Verdächtiger, Holger G., wurde am Sonntag auf Antrag der Bundesanwaltschaft bei Hannover festgenommen. Er soll den Mitgliedern der Vereinigung Nationalsozialistischer Untergrund 2007 seinen Führerschein und vor vier Monaten seinen Reisepass zur Verfügung gestellt haben. Am Montag will die Bundesanwaltschaft Haftbefehl beim Bundesgerichtshof beantragen.
Böhnhardt und Mundlos hatten womöglich auch ihre Selbstmorde öffentlichkeitswirksam geplant. Am Sonntagabend wurde bekannt, dass in der vergangenen Woche Bekennervideos der Terrorzelle im bayerischen Innenministerium und in einem Parteibüro der Linken in Sachsen-Anhalt eingingen. Der Landesvorsitzende der Linken in Sachsen-Anhalt, Matthias Höhn, sagte, die DVD sei am Freitag dem Landesinnenminister Holger Stahlknecht (CDU) übergeben worden.

Zwickauer Zelle: Was konnten die Behörden wissen?
Angesichts der Dimension der Taten wird in der Politik und Gesellschaft heftig über Konsequenzen debattiert - vom Vorschlag des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann (CDU) für ein neues Lagezentrum gegen Rechts- und Linksterrorismus bis hin zur Forderung, die rechtsextreme NPD, die an diesem Wochenende ihren Bundesparteitag abhielt, zu verbieten. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, sagte "Handelsblatt Online": An einem Verbot dieser Partei führe nun "absolut kein Weg mehr vorbei". Eine solche Maßnahme brachte auch der schleswig-holsteinische SPD-Politiker Ralf Stegner auf. Doch das ist eher unwahrscheinlich.
Das letzte Antragsverfahren gegen die NPD war unter der rot-grünen Bundesregierung angestrengt worden, dem sich Bundesrat und Bundestag anschlossen. Es scheiterte unter anderem wegen der Infiltration der NPD-Vorstände auf Bundes- und Landesebene durch V-Leute vor dem Verfassungsgericht. Eine erneute Schlappe in Karlsruhe will die Politik vermeiden - und dürfte sich mit einem erneuten Verbot schwer tun.
Zumal es bislang keinen Hinweis gibt, dass die NPD in die Taten verwickelt ist. So bewegt vor allem eine Frage die Politik: Was wussten die Sicherheitsbehörden, was der Verfassungsschutz auf Bundes- und Landesbene? Gerüchte, wonach Beate Zschäpe eine Informantin des thüringischen Verfassungsschutzes war, wurden dementiert. Doch viele Fragen bleiben - und die sollen voraussichtlich in der nächsten Sitzungswoche des Bundestags - ab dem 21. November - auch im Parlamentarischen Kontrollgremium gestellt werden. Auf der Sondersitzung, so deren Vorsitzender Thomas Oppermann (SPD), stehe für ihn eine Frage im Zentrum: "Ich will wissen, was die Behörden wussten und wie solche Straftaten in Zukunft besser verhindert werden können."
Das bewegt auch andere. Es müsse mit Nachdruck und allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln aufgeklärt werden, welche Dimension rechtsextreme Netzwerke und Organisationen in Deutschland hätten, sagte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Auf die Frage, ob sich eine Größenordnung wie bei den Taten der linksextremistischen Rote Armee Fraktion (RAF) abzeichne, blieb sie jedoch vorsichtig. Sie ziehe keine Vergleiche, weil die bisherigen Informationen noch nicht ausreichten. "Aber", so die Liberale, "es erfüllt mich mit großer Sorge, ich bin erschüttert."