NACHRUF Dichter zweier Herren
Hermlin hatte wenige Freunde, und unter diesen meist falsche. Er galt weithin als hochmütig und war deshalb unbeliebt. In den Versammlungen des DDR-Schriftstellerverbandes oder in der Parteigruppe saß da ein gutgekleideter Herr, durch die Beherrschung des Tabakpfeifenrituals als Gentleman ausgewiesen, zwischen den Heloten und Hiwis des Systems. Während seiner Anwesenheit blühten ringsum die Minderwertigkeitskomplexe sichtlich auf. Es gab vorsichtige Versuche, ihn zu demütigen. Aber da seine Beziehungen zur »Chefetage« bekannt waren, rempelte man ihn eher zaghaft an.
Wir waren befreundet. Und das Ende dieser Freundschaft ist nicht mein Verschulden. Er war mißtrauisch und empfindlich, und es dauerte nach der ersten Begegnung eine lange Zeit, bis die wie ein Schutzschild wirkende Distanz schwand. Die Annäherung ergab sich bei einem Flug nach Ungarn, zu einem Poesie-Festival am Plattensee. Wir, die Ehepaare, waren nur durch den Mittelgang getrennt, in dem Andrej, Hermlins Jüngster, herumtobte. Wir hatten aus unerfindlichen Gründen in Goldpapier gewickelte Schokoladentaler als Wegzehrung erhalten, und meine Frau reichte die Süßigkeiten an Andrej weiter.
Aus diesem privaten Kontakt entwickelte sich eine wirkliche Freundschaft. Wahrscheinlich war ich der einzige, von dem er sich, ohne gekränkt zu sein, kritische Wahrheiten sagen ließ. Aber er nahm meine politischen Ketzereien hin, weil er, der Homme de lettres, sie als Ausdruck meiner literarischen Ambitionen verstand. Er lebte zur Gänze in der Literatur und mit der Literatur, Widersprüche in seinem Verhalten sind nur aus seiner Lektüre zu erklären. Eher hat ihn das literarische Moment des Marxschen Denkens überwältigt als der ökonomische Aspekt.
Ich vermute, daß sein Vermögen, zwischen Realität und Literatur zu unterscheiden, eingeschränkt gewesen ist. Nicht allein im Umgang mit der eigenen Person, ebenso im Umgang mit anderen. Menschenkenntnis kann man ihm nicht gerade nachsagen, doch das hatte er mit anderen Dichtern gemein.
Im Falle Hermlin ist von Gescheitertsein die Rede, von Dürftigkeit eines schmalen Werkes, vom Mißlingen durch ideologische Verblendung. Davon mag manches richtig sein. Mir scheint jedoch, daß er sein Talent beschädigte, indem er »zween Herrn« dienen wollte: der Literatur und der Macht. Solchen Spagat bringt kein Dichter zustande. Daß seine Verbindung zu Honecker ihn stolz machte, war bei Hermlin unübersehbar. Nicht die höchst durchschnittliche Figur des Generalsekretärs erhöhte den Dichter, sondern die hohe Position dessen, zu dem er Zugang hatte. Vielleicht glaubte er, sich als »Fürstenerzieher« goethegleich einsetzen zu können, befangen in utopischen Illusionen.
Vermutlich hängt seine Initiative zur Biermann-Petition 1976 damit zusammen: einerseits den Ruf der DDR bewahren, andererseits der Schock über die »Ausbürgerung«, ein Vorgang unseligen Angedenkens; einerseits dem Lande einen wesentlichen Dichter erhalten, andererseits die Hoffnung auf die Einsicht seines »Fürsten«.
Einzig Hermlin hatte das Format und das Ansehen, uns Petenten damals zusammenzurufen. Ganz unironisch ließe sich sagen, daß Hermlin unfreiwillig eine neue Zeitrechnung einführte, denn jetzt hieß es »vor Biermann« und »nach Biermann«, und zwar nicht nur unter den Schriftstellern und Künstlern.
Hat Hermlin mit seiner Aktion nicht dafür gesorgt, daß wir, die Ausgereisten, unser Talent im Westen in einem Maße entfalten konnten, wie es unter den Bedingungen der real existierenden Debilität nicht denkbar gewesen wäre? Wie viele Schicksale hätten sonst den ortsüblichen Nischen-Ablauf genommen?
Hermlin war zu einem gewissen Prozentsatz ein »deutschnationaler« Jude, wie viele seinesgleichen in der Weimarer Republik - bedingt durch eine überschwengliche Liebe zur deutschen Kultur. Als ich eines Tages über meinen Renault 16 klagte, ich müsse bei dem Auto wohl noch die Entwicklungskosten mittragen, richtete sich Hermlin in seinem Sessel auf und erließ das Diktum: »Man fährt ein deutsches Auto!« Und als wir uns noch zu DDR-Zeiten zufällig in einem Tiroler Hotel trafen, sah ich mit Verblüffung, wie er sich ins Gästebuch eintrug: »Stephan Hermlin, Berlin, Deutschland«.
Zu seinen Geburtstagen erschienen auch solche Bekannte, die inzwischen aktenkundig geworden sind. Hermlin hat sich geweigert, in seine Stasi-Akten Einblick zu nehmen. Warum wohl? Es hätten sich ihm die wahren Gesichter seiner Vertrauten enthüllt.
Dem hat er sich nicht stellen wollen, obwohl er nach der Wende darüber Bescheid gewußt haben muß. Er mochte von der Doppelexistenz ihm Nahestehender nichts hören. Möglicherweise, weil er sich seiner eigenen Rollenspiele schmerzhaft bewußt geworden wäre - aber das ist schon eine psychologische Spekulation.
Karl Corinos Hermlin-Biographie, die dem Dichter einige Unwahrheiten und Übertreibungen nachweisen konnte, hat aus dem selbststilisierten Denkmal einen Menschen werden lassen - einen schwachen Mann, der sich an seinen Phantasien aufgerichtet hat. Ich bin sicher und nehme noch Wetten an: Die Gestalt Hermlins würde wohl sonst rasch verblassen. Ein unzeitgemäßer Autor, partiell epigonal, ein »heroisches« Daseinsmuster wie eine mittelalterliche Heiligenlegende. Und jetzt diese zusätzliche Dimension, in der mehr Zeitgeschichte kenntlich wird, mehr von unserem wahnwitzigen Jahrhundert - eine Bereicherung.
Was hat unsere Freundschaft beendet? Ich glaube, seine alten falschen Freunde haben auf ihre bewährte, ihnen in der DDR andressierte Weise unsere Bindung zu zerstören gewußt. Aufklären laßt sich das nun nicht mehr. Leider.
Kunert, 68, Autor von rund hundert Prosa- und Lyrikwerken sowieDrehbüchern, verließ 1979 die DDR und lebt bei Itzehoe.