VERJÄHRUNG Dicke Fälle
Die Minister waren des Redens müde, die Argumente so verbraucht wie die Luft. Die Tischuhr auf der Kabinettstafel im Palais Schaumburg zeigte ein Uhr früh.
Kanzler Kurt Georg Kiesinger, der die Richtlinien der Politik bestimmen sollte, atmete befreit auf: »Gott sei Dank haben wir uns nun doch noch zu einem gemeinsamen Beschluß durchgerungen.« Das Bundeskabinett billigte am letzten Freitag den Gesetzentwurf des ehemaligen Bundesjustizministers Gustav Heinemann, der die Mordverjährung pauschal aufhebt: NS-Verbrecher werden auch nach dem 31. Dezember dieses Jahres verfolgt.
Nach zwei Jahren ängstlichen Zauderns war schließlich im Parforce-Tempo von zwei Tagen und anderthalb Nächten der blutigste Nachlaß aus großdeutscher Vergangenheit bewältigt.
Freilich war es auch diesmal weniger eine plötzlich aufgebrochene Entschlußkraft, die den Kanzler zu Taten trieb, sondern vielmehr eine Drohung des Bundesrats, das überfällige Problem anzupacken.
Denn die Bonner Länderkammer hatte am 28. März wissen lassen, sie werde nach dem zu erwartenden Plazet des Bundesverfassungsgerichts für neue Verjährungsregeln (SPIEGEL 17/1969) nicht länger auf eine Kabinettsvorlage warten, sondern im nächsten Ratsplenum am 9. Mai handeln.
Kiesinger und seine CDU/CSU-Kabinettskollegen rüsteten sich, das Ultimatum mit einem eigenen, milderen Verjährungsentwurf zu parieren.
Dieses Regierungspapier allerdings hätte dem Bundesrat -- laut Grundgesetz -- spätestens drei Wochen vor dem 9. Mai vorliegen müssen. Das Kanzleramt fragte, ob eine Zwei-Wochen-Frist ausnahmsweise hinreiche. Hamburgs SPD-Senator Ernst Heinsen, Vorsitzender im Rechtsausschuß des Bundesrates, zeigte sich konziliant: letzter Termin am letzten Freitag.
Die ungewöhnliche Hektik im Kanzleramt war schon deshalb begreiflich, weil die Bundesratsmehrheit dazu neigte, dem Vorschlag Heinemanus, der den Intentionen des Kanzlers zuwiderlief, zu folgen.
Seit August vorigen Jahres hatte Kiesinger den Heinemann-Plan unerledigt verwahrt. Ein Vierteljahrhundert nach der Zerschlagung des Hitler-Reiches, so der Kanzler, sollten nur noch kapitale NS-Täter verfolgt werden. Parteifreund Kurt Birrenbach hatte Kiesinger mit einem Gutachten bestärkt, wonach künftig zwar die Straftaten von Mordgehilfen mit geringerer Schuld, nicht aber die der »Exzeßtäter« verjähren sollten.
Dieser Ausweg erschien dem Kanzler gangbar. Und einen Obergutachter fand er auch: CDU-Mitgründer Walter Strauß, von 1949 bis 1962 Justiz-Staatssekretär, heute Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.
Strauß beschrieb »sehr ungenau« (CDU-MdB Max Güde), was seither die »differenzierende Lösung« heißt. Der »Kölner Stadt-Anzeiger« interpretierte sie dahin, »daß man die Nazi-Mörder weiter verfolgen möchte, aber eigentlich auch wieder nicht, oder jedenfalls nicht alle, wenn auch natürlich alle, die richtige Mörder waren
Am Montag letzter Woche unternahm Kiesinger den ersten Versuch, Justizminister Ehmke für den Strauß-Text zu gewinnen. Ehmke blieb standhaft: »Wir prüfen doch seit Jahren alle diese Lösungsvorschläge und finden nichts, was rechtspolitisch und praktisch sinnvoll wäre.«
Am Dienstag, vor der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, schlug der Kanzler dramatische Töne an: Für »Mordbestien« dürfe es »keinen Pardon« geben, aber über »Mitläufer« würde er gern mit sich reden lassen. Die Arbeit von Walter Strauß, so Kiesinger, »scheint mir das Beste«.
Am Mittwoch ließ sich das Bundeskabinett von Minister Ehmke mit einem halbstündigen Plädoyer in das Verjährungsthema einführen: für die Gesetzesvorlage des Justizressorts, gegen jede Spielart von Teil- oder Zwischenlösungen.
Ehmke hinterher: »Ich habe denen Fälle geschildert, daß sie aufs Kreuz gefallen sind. Am Ende hat die Mehrheit zumindest gedacht, der Ehmke hat recht.«
Der Kanzler bekannte: »Vor meinem Gewissen darf es keine Verjährung der schweren Verbrechen geben.« Vize-Kanzler Willy Brandt: »Wenn wir die Mörder laufenlassen, dann unterbrechen wir den Prozeß der Freisprechung des deutschen Volkes.«
Nach vier Diskussionsstunden trug die Kabinettsrunde dem Kollegen Ehmke auf, bis Donnerstag eine Aufzeichnung der einschlägigen Probleme zu verfertigen. Strafrechtler des Justizministeriums arbeiteten die Nacht durch. Am nächsten Morgen lag das Sechs-Seiten-Resultat auf dem Kanzlertisch.
Das Exposé -- »so einfach abgefaßt, daß auch Politiker es verstehen können« (Ehmke) -- umriß die »praktische Auswirkung« der Unverjährbarkeit von Mord, die angesichts der großzügigen Spruchpraxis deutscher Gerichte ohnehin nur jene »nicht übermäßig zahlreichen Beschuldigten« treffen würde, deren Identifizierung bisher nicht gelang: nach dem Ermittlungsstand von heute knapp 100 »dicke Fälle« (Ehmke).
Dem Strauß-Projekt einer »differenzierenden Lösung« begegnete die »Aufzeichnung« lapidar: »Aus den Unterlagen ... ist kein Fall ersichtlich, in dem ein kleiner Befehlsempfänger verurteilt worden wäre.«
Laut Walter Strauß verjähren »vor dem 8. Mai 1945 begangene Taten der Beihilfe zum Mord, wenn ein Gehilfe in untergeordneter Stellung einen Befehl von Vorgesetzten befolgt hat und wenn die ... Merkmale des Mordes bei ihm gefehlt haben«.
Dagegen erhoben die Ehmke-Gehilfen dreierlei »ernste Bedenken":
* Die »Beschränkung auf Taten, die vor dem 8. Mai 1945 begangen sind«, schafft »praktisch ein unerwünschtes Sonderrecht für NS-Sachen«.
* Der Passus »in untergeordneter Stellung« schließt nicht »Schreibtischtäter in maßgeblicher Stellung« von der Verjährung aus. Denn »es bleibt unklar, ob es hier auf den Rang, die übertragene oder die angemaßte Funktion ankommt«.
* Der Vorschlag begünstigt auch solche Gehilfen, die »einem Haupttäter in voller Kenntnis der Grausamkeit oder Heimtücke seiner Tat vorsätzlich« geholfen haben, und »das ist rechtlich nicht erträglich«. Ratlos brüteten Kiesinger, CDU-Innenminister Ernst Benda, Birrenbach sowie die Christsozialen Richard Jaeger und Richard Stücklen am Donnerstagmorgen über den Texten von Strauß und Ehmke.
Benda nahm auf sich, was Ehmke vorher rundweg abgelehnt hatte: die »differenzierende Lösung« endlich hiebfest zu präzisieren. Nachmittags um vier Uhr war er fertig. Hinter der Strauß-Formel vom Mordgehilfen« der »einen Befehl ... befolgt hat«, standen nun die Wörter »und auf Weisung« -- damit Beamte nicht vergessen würden.
Aber bald schwante den CDU/CSU-Schnellbrütern im Kanzlerpalais, daß damit zum Beispiel Einsatzgruppenleiter des Sicherheitsdienstes mit Massenmorden auf dem Schuldkonto frei ausgehen könnten. Kiesinger: »Das können wir nicht machen.«
Den SPD-Ministern Herbert Wehner, Georg Leber und Ehmke, die abends um sechs Uhr hinzutraten, gestand der Kanzler: »Wir haben keine Formel gefunden.«
Zwei Stunden später versammelte sich das Kabinett vollzählig zur Endlösung bei Bier und Schnaps. Kiesinger und Bundesratsminister Carlo Schmid kramten ihre Erlebnisse aus brauner Vergangenheit hervor und sprachen immer wieder von der »schrecklichen Verstrickung«.
Ehmke verlor Geduld und Beherrschung. Zweimal bot der Professor seinen Rücktritt an: »Als Justizminister muß ich schließlich auch vor der Rechtswissenschaft und den Universitäten bestehen können.«
Am Freitagmorgen um ein Uhr war es vollbracht. Das Bundeskabinett -- einzige Gegenstimme: CSU-Postminister Werner Dollinger -- kehrte zum Ausgangspunkt der Verjährungsdebatte zurück -- Gustav Heinemann hatte gesiegt.