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HERBSTBEGINN Dicker Kopf

aus DER SPIEGEL 38/1962

Die Konferenz der Kultusminister und die Christlich-Demokratische Union haben den Schulpolitikern des Landes Bayern zu einem späten Triumph verholfen.

Sieben Jahre, nachdem die westdeutschen Erziehungsminister im sogenannten Düsseldorfer Abkommen von 1955 beschlossen, das Schuljahr zu Ostern beginnen zu lassen, haben sich die Repräsentanten des bundesdeutschen Kulturföderalismus abermals besonnen.

Von 1965 an, so empfahl unlängst der niedersächsische Kultusminister Richard Voigt nach einer Konferenz mit seinen Kollegen in Bonn, soll das Schuljahr - wie heute schon in Bayern - wieder im Herbst beginnen.

Und die Landtags-Fraktionsvorsitzenden der CDU, schulischen Reformvorschlägen gegenüber gemeinhin mißtrauisch, beschlossen auf einer Tagung in Hamburg, mit Gesetzentwürfen in den Legislativen der Länder für den Herbstbeginn zu werben.

Traditionell hatte das deutsche Schuljahr zu Ostern begonnen. 1941 verlegte der NS-Staat den Beginn in den Herbst, und nach dem Zusammenbruch propagierten die Kultusminister der just neukonstituierten deutschen Länder wieder den Osterbeginn. 1955 legten sich die Länderchefs sogar vertraglich auf den Ostertermin fest.

Die Kulturpolitiker Bayerns freilich weigerten sich, der Empfehlung aus Düsseldorf zu folgen. Die weiß-blauen Schulexperten, die auch weiterhin erst im Herbst zu den Griffeln rufen wollten, prophezeiten damals: Nach wenigen Jahren würden die Anhänger des Osterbeginns reuevoll die Vorzüge der bayrischen Terminierung einsehen.

In der Tat, heute führen die Kultusminister für ihre neueste Sinneswandlung pädagogische, klimatische, wirtschaftliche und selbst touristische Argumente an.

Die Klassengemeinschaften, so meinen sie, würden in den ersten drei Monaten des neuen Schuljahres allzuoft wieder auseinandergerissen. Zwischen Oster- und Sommerpause liegen außer den Pfingstferien allein vier gesetzliche Feiertage*.

Erfahrungsgemäß kann kein Lehrer ohne Schwierigkeiten nach der Sommerpause auf dem in der Vorferienzeit behandelten Unterrichtsstoff weiter aufbauen. Praktisch muß der ganze Sommer-Unterricht repetiert werden, da während der großen Ferien viel von dem seit Ostern erworbenen Wissen wieder verlorengegangen ist.

Zudem ist ein erfolgreicher Beginn des neuen Schuljahres durch die Versuchungen der warmen Jahreszeit in Frage gestellt. Drohen hingegen mit den Sommerferien die Versetzungstermine, so hat der gefährdete Pennäler während der schulfreien Tage Gelegenheit, entstandene Lücken auszufüllen.

Kultusminister Voigt: »Aufnahmebereitschaft und Konzentrationsfähigkeit der Kinder« seien im Herbst »sehr viel größer«. Die westdeutschen Kultusminister, deren Präsident Voigt zur Zeit ist, messen mithin einem ungestörten Start des Schuljahres mehr pädagogische Vorteile zu als einem ungestörten Schluß.

Überdies wollen die Kulturchefs der Bundesländer jenen rund 100 000 Schülern helfen, die alljährlich umzugshalber die bayrischen Landesgrenzen überqueren. Durch die verschiedenen Versetzungstermine verlieren diese Wanderer zumeist ein halbes Jahr.

Zudem bringt die mit dem Abschluß des Schuljahres zum Sommer geplante Verlängerung der großen Ferien von bisher zwischen fünf und sechs auf mindestens acht Wochen die Möglichkeit, die Urlaubszeit von Eltern und Kindern aufeinander abzustimmen und die Ferien in den einzelnen Bundesländern nach den Erfordernissen des Massentourismus auszurichten.

Denn obschon zur Zeit nur rund 25 Prozent aller Familien eine gemeinsame Ferienreise unternehmen können, häufen sich in den Sekretariaten der Schulen die Anträge auf Freistellung der Kinder vom Unterricht: Eine gemeinsame Urlaubsreise sei sonst unmöglich.

Nach der augenblicklichen Ferienordnung der Bundesländer für 1963, so warnte der Gemeinschaftsausschuß des deutschen Fremdenverkehrs kürzlich in Düsseldorf, stünden im kommenden Jahr siebzehn Tage bevor, an denen alle Schulkinder im Bundesgebiet gleichzeitig Ferien haben.

In drei der größten Länder, in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden -Württemberg, hätten sie sogar fünf Wochen lang gemeinsam schulfrei. Schon heute lasse sich ein totales Verkehrschaos für die Saison des kommenden Jahres voraussagen, zumal viele Unternehmen ihre Betriebsferien in die Schulferien legten.

Bei zwei Monaten Sommerpause dagegen - etwa nach französischem Vorbild vom 14. Juli bis zum 15. September - ließen sich die Urlaubstermine besser verteilen.

Als letzten Grund, den Schulbeginn in den Herbst zu verlegen, nannten die Kultusminister die geplante Harmonisierung der europäischen Erziehungsarbeit. Bislang ist die Bundesrepublik der einzige Staat innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der - Bayern ausgenommen - zu Ostern mit dem neuen Schuljahr beginnt.

Richard Voigt: »Unsere Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Staaten ... bedeutet das Europäische Schuljahr.« Denn die im Rahmen der EWG-Verträge garantierte Freizügigkeit der Arbeitnehmer erfordere einen gemeinsamen Schulbeginn im Herbst.

Bevor die Kultuschefs freilich in den Ländern den Herbstbeginn vorschlagen, soll die Meinung von Eltern, Lehrern, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen und Kirchen eingeholt werden.

Sicher dabei ist, daß in den ländlichen Gebieten die Eltern für den Osterbeginn plädieren werden. Die Bestellung der Felder ist ohne die Mitarbeit auch der noch schulpflichtigen Kinder bei dem augenblicklichen Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft vielfach unmöglich.

Die Lehrer befürchten eine Überbeanspruchung der Kinder. Fiele der Versetzungstermin nämlich in die heißen Sommermonate, werde die Konzentrationsfähigkeit von Lehrern und Schülern zu sehr strapaziert.

Da eine Verlängerung der Sommerferien außerdem nur auf Kosten der Weihnachts- und Osterferien möglich ist, glauben die Lehrer weiter, daß der Schüler sein Lernpensum ohne ausreichende Pausen bewältigen müsse. Lehrer wie Schüler würden durch die Neuregelung schlichtweg überfordert.

Vor allem die Abiturienten müßten künftig mit den ersten - schriftlichen - Prüfungen im Mai rechnen; die mündlichen Examen fänden sogar erst im Juni oder Juli statt.

Dennoch sind die Eltern, so weiß der Fraktionsvorsitzende der Hamburger CDU-Bürgerschaftsfraktion, der praktische Arzt Dr. Wilhelm Witten, aus Unterhaltungen in seiner Praxis zu erzählen, mit dem Herbstbeginn einverstanden. Begründet Witten: »Weil sie nicht dagegen sind.«

Gewerkschaften und Industrieverband haben sich ebenfalls für den Herbst entschieden. Sie spekulieren auf das etwas höhere Alter der neu ins Wirtschaftsleben eintretenden Ex-Schüler, das heute in Bayern bereits um rund ein halbes Jahr höher liegt als in den restlichen Bundesländern.

Bekennt Minister Voigt: »Der dicke Kopf aus München hat sich durchgesetzt.«

* 1. Mai, Himmelfahrt, 17. Juni, Fronleichnam (in vorwiegend katholischen Gebieten).

Niedersachsens Kultusminister Voigt

Im Sommer zuviel Versuchung

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