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Die 100 000 Augen des KGB

Das Auslandsnetz des sowjetischen Geheimdienstes / Von John Barron In der ganzen Welt stehlen KGB-Offiziere Wirtschaftsgeheimnisse, bestechen Politiker, manipulieren die Medien und werben Agenten an. Wie diese Geheimdienstler ausgebildet werden und mit welchen Methoden sie arbeiten, beschreibt der amerikanische Autor John Barron in seinem Buch »KGB heute«. Auszüge: _(1984. Gesamtdeutsche Rechte by Scherz ) _(Verlag, Bern - München. ) *
aus DER SPIEGEL 28/1984

Stanislaw Lewtschenko hörte aufmerksam zu. Sein Gesprächspartner, mit dem er an diesem sonnigen Vormittag im Frühjahr 1966 durch einen Moskauer Park spazierte, sprach ganz ungeniert von Kriegsvorbereitungen. Die Sowjet-Union plane im Kriegsfall Agenten mit Fallschirmen über westlichen Ländern abzusetzen, oder sie mit U-Booten zu den Küsten zu bringen. Diese Männer sollten Aufklärungs- und Sabotageaktionen durchführen.

»Wir möchten Sie gern für einen Einsatz in der Umgebung von Liverpool ausbilden«, sagte Lewtschenkos Gesprächspartner, der Oberst der militärischen Spionage- und Gegenspionage-Organisation GRU (Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije) war. Die GRU wolle sich Lewtschenkos England-Kenntnisse und seine Sprachkenntnisse zunutze machen.

»Ich will Ihnen nichts vormachen«, fuhr der Oberst fort. »Wahrscheinlich würden Sie höchstens ein paar Tage überleben. Es steht Ihnen völlig frei, nein zu sagen. Wenn Sie jedoch akzeptieren, werden Sie ein wahrer Sohn Ihres Vaterlandes sein.« Lewtschenko erklärte sich einverstanden, ohne weitere Fragen zu stellen.

Während seines sechswöchigen Reservedienstes ging er in jenem Sommer täglich zu einer Moskauer Wohnung, wo er von GRU-Offizieren geschult wurde. Sie zeigten ihm, woran man Atomwaffendepots erkennt, sie unterwiesen ihn in Geheimschriften und in der Benutzung eines Agentensenders.

Im nächsten Sommer übte er Fallschirmabsprünge von einem Turm, Überleben auf dem Lande und Schießen. Außerdem erfuhr er nähere Einzelheiten über seine Mission.

Im Sommer darauf sollte er Unterricht in Sabotage bekommen, und dann würde er seine Kenntnisse als Geheimdienstler jedes Jahr wieder auffrischen. Die GRU-Offiziere, die er traf, beeindruckten ihn als mutige Männer, die den Staatssicherheitsdienst KGB verachteten, nicht viel auf Parteiparolen gaben und für die Verteidigung des Vaterlandes arbeiteten.

Anfang 1968 teilte ihm jedoch ein GRU-Offizier bei einem Gläschen in einem Restaurant bedauernd mit, fortan müsse er der Zweiten Hauptverwaltung (Innere Sicherheit, Ausländer-Überwachung) des KGB dienen. Auf seinen lauten Protest entgegnete der Offizier: »Auch wir wollten zuerst nichts davon wissen. Aber wir müssen dem KGB gehorchen. Dasselbe gilt für Sie.« So

meldete sich Lewtschenko in einem Zimmer des alten Hotels Berlin. Das Hotel war ein Lieblingsobjekt der Zweiten Hauptverwaltung.

Sie hatte jedes Zimmer und alle Tische in der Bar und im Speisesaal verwanzen lassen. Die Decken waren mit Glasfaseröffnungen gespickt, so daß Agenten der Hauptverwaltung die Ausländer beobachten und fotografieren konnten, die Intourist in dem Hotel unterbrachte. Aufnahmen von intimen Betätigungen pflegten zum Ergötzen der Offiziere in den Büros der Zweiten Hauptverwaltung herumgereicht zu werden.

Der Oberst der Staatssicherheit Asisow, ein braunhäutiger, zynischer, pfeifenrauchender Tatare, erwartete Lewtschenko, der sofort erklärte, er werde sich nie dafür hergeben, andere Sowjetbürger zu bespitzeln. Asisow lächelte, und Lewtschenko konnte nicht sagen, ob es ein verächtliches oder amüsiertes Lächeln war.

»Mein lieber Genosse, selbstverständlich nicht«, antwortete der Oberst salbungsvoll. »Für diese schmutzige Arbeit haben wir Hunderttausende von Idioten. Wir sammeln sie wie Unrat auf den Straßen auf. Wir respektieren Sie als Intellektuellen, und wir haben eine echte Aufgabe für Sie. Sie werden gegen unsere Feinde, die Japaner, arbeiten.«

Für diese Aufgabe war Lewtschenko hervorragend geeignet. Er hatte eine sechsjährige Ausbildung am Institut für fernöstliche Sprachen der Universität Moskau absolviert und ein Studium der japanischen Politik abgeschlossen.

KGB-Techniker hatten die japanische Botschaft und die Wohnungen der japanischen Diplomaten so gründlich mit empfindlichen Abhöreinrichtungen versehen, daß sie das leiseste Geräusch, sogar ein Flüstern oder das Tropfen von Wasser, mithören konnten. Anhand von Mitschnitten und Observierungen entstanden biographische Skizzen, die Hinweise auf Schwachstellen der Zielpersonen gaben.

So stellte das KGB fest, daß ein junger Diplomat nie mit Frauen zusammen war, und kam zu dem Schluß, er müsse homosexuell sein. »Wir werden ein paar Schwule auf ihn ansetzen«, sagte Asisow.

»Wie denn?« fragte Lewtschenko.

»Ganz einfach. Wir haben eine große Homosexuellenkartei, und wir können jeden Schwulen festnehmen, den wir haben wollen. Wir geben ihnen eine Alternative. Entweder sie gehen ins Gefängnis, wo sie wahrscheinlich umgebracht werden, oder sie dienen dem Vaterland und befriedigen gleichzeitig ihre Neigungen. Sie wählen immer das richtige.«

Der Oberst fand das sehr witzig. Grenzenloser Zynismus, dachte Lewtschenko.

Als Begleiter von ausländischen Gästen des Afro-Asiatischen Solidaritätskomitees reiste Lewtschenko nun durch viele Teile der Sowjet-Union und zeigte den Besuchern vorbildliche Kolchosen, Fabriken, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten, die Ausländer vom Segen des Kommunismus überzeugen sollten.

Was die Besucher nie zu Gesicht bekamen, waren typische Kolchosen, wo die Ernte verfaulte und defekte Maschinen auf den Feldern vor sich hin rosteten; Fabriken, die stillgelegt waren, weil sie nicht mit Ersatzteilen beliefert wurden; unhygienische Ambulatorien; Wohnungen ohne fließendes Wasser, lange Menschenschlangen vor Geschäften mit halbleeren Regalen.

Einmal im Jahr flog er im Auftrag des Afro-Asiatischen Solidaritätskomitees nach Japan. Jedesmal kam er mit neuen Eindrücken von der aufstrebenden japanischen Wirtschaft zurück, die die Straßen mit Autos und die Geschäfte mit Lebensmitteln, modischer Kleidung und einer unglaublichen Vielfalt neuer Produkte überschwemmte.

Im Jahre 1968 betrachtete Lewtschenko die Große Sozialistische Oktoberrevolution von 1917 als eine Parodie auf die Französische Revolution. Er fand, daß keine Revolution jemals soviel Unglück auf diejenigen gebracht hatte, die sie angeblich befreien wollte. Sie hatte seinen Landsleuten ein System beschert, das sie materiell verelendete und seelisch korrumpierte.

Aber er konnte sich keine Flucht aus dem System vorstellen. Opposition würde nur in den Gulag oder in eine Irrenanstalt führen. Er war jetzt 27 Jahre alt und suchte nach einem geistigen und seelischen Halt. So wandte er sich in seiner Verzweiflung der Religion zu. Er offenbarte sich niemandem, nicht einmal seiner Frau Natalija, fand aber dienstliche Vorwände, um sich mit Geistlichen zu unterhalten.

Trotzdem arbeitete er hart und lange. Sein Fleiß und seine natürlichen Fähigkeiten führten zu lobenden Erwähnungen von seinen Vorgesetzten und erregten schließlich die Aufmerksamkeit der Ersten Hauptverwaltung (Auslandsspionage).

An einem naßkalten grauen Tag im Januar 1971 lud ihn ein KGB-Oberstleutnant, der dem Afro-Asiatischen Solidaritätskomitee zugeteilt war, zu einem Gläschen nach Feierabend ein. Wie der GRU-Oberst, der Lewtschenko angeworben hatte, redete auch der Mann vom KGB ganz offen.

Er und die Erste Hauptverwaltung seien beeindruckt von Lewtschenko und seinen bisherigen Leistungen. Die Zweite Hauptverwaltung sei ein mieser Laden, dessen Hauptaufgabe darin bestehe, das russische Volk zu drangsalieren. Die Erste Hauptverwaltung dagegen helfe dem Volk, weil sie ausländische Technologie und Geheimnisse beschaffe, die das Land brauche und die für seine Sicherheit unerläßlich seien.

»Es ist richtige Männerarbeit«, sagte der Oberstleutnant. »Sie werden Dinge erfahren, die sonst praktisch niemand weiß. Sie werden die Welt sehen, sie werden jeden Tag neue Eindrücke bekommen.«

Der Offizier schlug die richtige Saite an: Lewtschenko wurde Stabsoffizier des KGB.

Die Wälder außerhalb Moskaus waren friedlich und grün, als Lewtschenko bei dem Dorf Jurlowo, an einem Zubringer zur Wolokolamskoje-Chaussee, aus dem Bus stieg.

Hinter einer 1,60 Meter hohen, mit Stacheldraht gespickten, gelben Backsteinmauer stand ein viergeschossiges Haus, ebenfalls aus Backstein, mit Klassenzimmern, Lehrerbüros, getrennten Bibliotheken für geheimes und nicht geheimes Material, Schlafzimmern, Cafeteria und Krankenzimmer. Eine große Turnhalle, ein Schwimmbad und ein Schießstand nahmen das Untergeschoß ein.

Mit automatischen »Makarow«-Pistolen bewaffnete KGB-Unteroffiziere in Zivil bewachten das Gelände und nahmen nachts Schäferhunde mit auf Patrouille. Wenn die Lehrerräume und Klassenzimmer abends abgeschlossen wurden, schaltete man Sensoren ein, die auf die geringste, von der Körperwärme eventueller Eindringlinge verursachte Temperaturänderung reagierten und Alarm auslösten.

In Lewtschenkos Klasse waren 120 Studenten, zwei Drittel davon Absolventen des Instituts für internationale Beziehungen des Außenministeriums oder anderer angesehener Hochschulen. Die anderen waren junge Männer, ebenfalls mit akademischer Ausbildung, die früher in Zivilbehörden oder in KGB-Dienststellen außerhalb der Ersten Hauptverwaltung gearbeitet hatten. Die meisten sprachen eine oder mehrere Fremdsprachen.

Die Klasse war in sieben Gruppen eingeteilt, die jeweils von einem Obersten beaufsichtigt wurden. Lewtschenkos Oberst erklärte, die Studenten würden praktisch rund um die Uhr beobachtet und beurteilt. Die Beobachter waren der jeweilige Oberst, die Lehrer und die Studenten, die Stukatschi (russisch Stukatsch = Spitzel) genannt wurden. Am Jahresende würde der Oberst eine ausführliche fachliche und persönliche Beurteilung jedes einzelnen Studenten schreiben, die dann das erste Blatt in der Personalakte bilden würde.

»Diese Bewertung wird Ihnen bis ans Ende Ihrer Laufbahn folgen«, warnte er. »Sie wird immer das erste sein, was man sieht, wenn man Ihre Akte aufschlägt. Bemühen Sie sich also, keine Minuspunkte zu machen.«

Ein anderer Oberst erläuterte die Schulordnung. Die tägliche Arbeit - nur sonntags war schulfrei - begann um 8 Uhr mit einer Stunde anstrengender Körperertüchtigung - Querfeldeinlaufen, Bodenturnen, Schwimmen oder Zweikampftraining. Der Unterricht dauerte von 9 bis 14 Uhr, und nach dem Mittagessen von 15 bis 18 Uhr. Für den Abend waren drei Stunden Selbststudium angesetzt.

Verheiratete Studenten mit Wohnsitz in Moskau und Umgebung durften von Samstagabend bis Sonntagabend nach Hause fahren; ansonsten sollten die Studenten in ihrer freien Zeit lesen oder

trainieren. Alkoholische Getränke waren auf dem Schulgelände verboten.

Die eigenen Namen durften nicht genannt werden; die Studenten mußten Decknamen verwenden und wurden von den Offizieren ebenfalls nur mit ihren Decknamen angeredet. Lewtschenko bekam den Decknamen Liwenko. Der Umgang miteinander sollte zwar kameradschaftlich sein, aber Sicherheitserwägungen schlossen engere Freundschaften oder den Austausch biographischer Einzelheiten aus. Die Studenten durften das Dorf für kurze Zeit zu zweit besuchen, sollten sich aber außerhalb der Schule nicht zu Partys oder Restaurantbesuchen treffen.

Im praktischen Unterricht war Lewtschenko aufgrund seiner GRU-Schulung und seiner Tätigkeit für das Friedenskomitee und das Afro-Asiatische Solidaritätskomitee gegenüber seinen Kommilitonen im Vorteil.

Aber er staunte, als er hörte, wie die Sowjets das amerikanische Projekt Manhattan infiltriert hatten, das die erste Atombombe baute und das Atomzeitalter einleitete. Obgleich das Projekt das größte, komplizierteste und teuerste wissenschaftlich-technische Vorhaben aller Zeiten gewesen war, hatten die Amerikaner es vor den Deutschen und den Japanern geheimhalten können. Keiner ahnte etwas von seiner Existenz, bis der Atompilz über Hiroschima aufstieg.

Sowjetische Agenten hielten ihre Regierung jedoch die ganze Zeit über den Stand der anglo-amerikanischen Forschungen und Entwicklungen auf dem laufenden. Als die Amerikaner bei Alamogordo den ersten Prototyp zur Explosion brachten, besaßen die Russen eine komplette wissenschaftliche und technische Blaupause zur Herstellung einer Kernwaffe, ohne einen einzigen Versuch durchgeführt zu haben.

Die gestohlenen Daten beschleunigten die Herstellung der sowjetischen A-Bombe um mehrere Jahre - Jahre, betonte ein Lehrer, in denen die Sowjets den Amerikanern auf Gnade und Ungnade ausgeliefert gewesen wären.

Die KGB-Lehrer berichteten auch über Harold A. R. (Kim) Philby, der in den dreißiger Jahren in Cambridge angeworben worden war. Ihm und seiner Agentengruppe habe die UdSSR viel mehr zu verdanken, als hier gesagt werden könne.

Die Geschichte Richard Sorges interessierte und berührte Lewtschenko jedoch am meisten. Sorge, der in Rußland geborene Sohn eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter, trat dem sowjetischen Geheimdienst schon in jungen Jahren bei. Als deutscher Zeitungskorrespondent kam er 1934 nach Tokio und leitete dort ein Netz von Agenten, die Zugang zu guten Informationsquellen und Einfluß in der japanischen Regierung hatten.

Als Sorge, Philby und der Atomphysiker Klaus Fuchs in jungen Jahren angeworben

wurden, konnte kein Mensch wissen, daß der eine das Vertrauen japanischer Politiker erringen würde, während der zweite einen wichtigen Posten im britischen Geheimdienst erhielt und der dritte das »Projekt Manhattan« infiltrierte.

Jede Operation war nur wegen der verschiedenen Beiträge erfolgreich, die viele Geheimdienstler - Kuriere und andere Hilfskräfte, Einsatzoffiziere, Führungsoffiziere, die das Unternehmen von der Zentrale aus organisierten - in jahrelanger Arbeit leisteten. Das Entdecken, Anwerben und Entwickeln von Agenten, betonten die Instrukteure, sei jedoch die wichtigste Einzelaufgabe eines Offiziers der Ersten Hauptverwaltung.

Ende 1972 begann die praktische Ausbildung auf den Straßen Moskaus.

Lewtschenkos Gruppe bezog eine große Villa an einer Seitenstraße des Subowskaja-Platzes. Die oberen Stockwerke waren zu einer typischen KGB-Residentur umgebaut worden, und da sich die Residenturen überall auf der Welt in Funktion, Grundriß und Gestaltung gleichen, hätten die Studenten genausogut in Washington, London, Paris oder Tokio sein können. Jeden Tag gingen sie in die Stadt, um die Taktiken zu üben, die sie später im Ausland brauchen würden.

Abwechselnd observierten sie einander und versuchten, sich der Observierung zu entziehen. Sie füllten und leerten tote Briefkästen, steckten sich im Vorbeigehen etwas zu und empfingen mit winzigen, in ihrer Kleidung verborgenen Minisendern Botschaften von Agenten, die einige Häuserblocks entfernt waren.

In der letzten Phase der praktischen Ausbildung mußten sich die Studenten fünfmal heimlich mit einem KGB-Offizier treffen, der die Rolle eines Agenten spielte.

Man sagte ihnen, sie würden vielleicht von Profis der Überwachungsabteilung verfolgt werden, vielleicht aber auch nicht. Wenn sie feststellten, daß sie beschattet wurden, sollten sie den Treff-Einsatz abbrechen und melden, wann, wo und wie sie den Überwacher entdeckt hätten. Wenn sie die Überwachung nicht entdeckten und den Pseudoagenten trafen, hatten sie den Test nicht bestanden.

Lewtschenkos erster Treff war für Mittag in einem Restaurant vorgesehen. Gegen halb zehn verließ er die Villa, fuhr mit einem Bus zum Warenhaus GUM und kaufte an einem Kiosk eine Zeitung, während er gleichzeitig versuchte, sich die Gesichter der aussteigenden Fahrgäste einzuprägen. Die Leute zerstreuten sich, bis auf zwei Männer, die an der Haltestelle stehen blieben und sich angeregt unterhielten, anscheinend ohne ihn zu beachten.

Lewtschenko betrat das Warenhaus und blieb an einem Verkaufstresen stehen, bis er einen der beiden Männer hereinkommen und in eine andere Abteilung gehen sah. Nachdem Lewtschenko etwa zehn Minuten angestanden hatte, kaufte er ein Spielzeug, ein Geburtstagsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn.

Während er draußen auf einen Bus wartete, sah er einen Mann, der in der Nähe herumstand. Er war zwar ebensogroß wie der Mann, den er das Warenhaus betreten gesehen hatte, aber die Figur war anders und wirkte viel älter; er trug andere Kleidung, hatte graues Haar und einen Schnurrbart, und er trug eine Brille. Trotzdem wußte Lewtschenko,

daß er derselbe Mann war. Von seinem Obersten befragt, erklärte er, ein Beschatter sei ihm ins Gum gefolgt und habe es dort irgendwie fertiggebracht, sich zu verkleiden, eine Perücke aufzusetzen und einen Schnurrbart anzukleben.

»Wie haben Sie ihn denn erkannt?« fragte der Oberst.

»Seine Schuhe. Die Schuhe hatte er nicht gewechselt.«

Am Tag seines letzten Treffs mit einem Agenten verließ Lewtschenko die Villa um 7 Uhr morgens, damit er fünf Stunden hatte, um herauszufinden, ob er beschattet wurde oder nicht, ehe er die Verabredung zum Mittagessen einhielt. Er benutzte alle Tricks, die er gelernt hatte und sich vorstellen konnte, betrat und verließ Geschäfte, Hauseingänge und U-Bahnstationen, kehrte unvermittelt um und sprang in Busse, kurz bevor die automatischen Türen geschlossen wurden.

Da er nichts bemerkte, was auf Beschattung hindeutete, faßte er gegen halb elf den Entschluß, die Verabredung einzuhalten, und fuhr mit der U-Bahn zu dem Restaurant. Neben ihm saß ein Herr mittleren Alters mit dem gefaßten Gesicht eines Heiligen. Als der Zug vor der Haltestelle langsamer wurde, flüsterte der Fremde, ohne Lewtschenko anzublicken: »Genosse, Sie werden überwacht.« Dann stand er abrupt auf, stieg aus und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Verblüfft fuhr Lewtschenko eine Station weiter, stieg aus und überlegte. War der Mann vielleicht ein Spinner gewesen, der unter Halluzinationen litt? Nein, sagte er sich, er war zu ernst gewesen; er hatte bestimmt etwas gesehen, das er, Lewtschenko, nicht hatte sehen können. Warum sollte er das Verbrechen begehen, Organe der Staatssicherheit zu sabotieren, um jemandem zu helfen, den er nicht kannte?

Lewtschenko beschloß, ein Risiko einzugehen, genau wie der Fremde es getan hatte. Er hielt den Treff nicht ein, aß allein und meldete am Nachmittag, im letzten Moment habe er in der U-Bahn das Gefühl gehabt überwacht zu werden. »Ich kann nicht genau sagen warum. Auf einmal wußte ich es intuitiv.«

Lewtschenko oder vielmehr sein geheimnisvoller Wohltäter hatte recht. Da Lewtschenko die Observierer bisher geschlagen hatte, hatten sie ihn diesmal mit dem unsichtbaren, aus vielen Personen bestehenden Kordon umgeben, der normalerweise bekannten ausländischen Agenten vorbehalten ist.

Das gesamte U-Bahnnetz der Hauptstadt, erfuhr er, war verdrahtet, damit die Überwacher über sichere unterirdische Leitungen miteinander Kontakt halten konnten. Das System erlaubte Teams in den Zügen und an Haltestellen, die Zielperson jeweils zwischen sich zu haben, ohne gesehen werden zu können. Nur ein Observierer mußte ihn im Auge behalten, und er konnte jederzeit abbrechen und von einem anderen abgelöst werden.

Der Überwacher, der Lewtschenko in dem U-Bahnwagen beobachtet hatte, war eine als Bäuerin verkleidete Agentin gewesen, die eine Tüte Gurken bei sich gehabt hatte, als ob sie zu einem Markt wollte. Er erinnerte sich an sie, gab aber zu, keinen Moment lang Verdacht geschöpft zu haben.

Man akzeptierte seine Erklärung und lobte seine Intuition. Da er jedoch keinen Überwacher hatte ausmachen können, bekam er für den letzten Test die Note 4; bei den anderen hatte er immer eine 5 - die Bestnote - bekommen.

Nach dem Staatsexamen ließ der für Lewtschenkos Gruppe verantwortliche Oberst den jungen Mann in sein Büro kommen.

»Leider kann ich keine hundertprozentig wahrheitsgetreue Beurteilung von Ihnen unterbreiten«, sagte er. Lewtschenko erstarrte und machte sich auf Schlimmes gefaßt. Der Oberst fuhr fort: »Ich finde nämlich keinen einzigen negativen Punkt über Sie. Ich muß aber einen finden, weil sonst kein Mensch die Beurteilung ernst nehmen wird. Also muß ich etwas erfinden, und ich möchte, daß Sie mir dabei helfen.«

Sie fügten der lobenden Beurteilung, in der Lewtschenko als einer der besten Studenten bezeichnet wurde, die der Oberst je gehabt hatte, zwei negative Punkte hinzu: Lewtschenko neige dazu, weitschweifige Berichte abzufassen, wenn kürzere genügen würden. Und manchmal springe er in seiner Begeisterung von einer Sache zur nächsten, statt sich jeweils auf eine Aufgabe zu konzentrieren.

»O ja«, sagte der Oberst, dem noch etwas eingefallen war. »Wir könnten noch schreiben, daß Sie mehr Fahrunterricht nötig haben.« Das entsprach der Wahrheit. Lewtschenko war ein katastrophaler Autofahrer.

Da Lewtschenko bereits für die GRU und die Zweite Hauptverwaltung gearbeitet hatte, wurde er zum Oberleutnant ernannt und als Vorbereitung für seinen

späteren Einsatz in Tokio der Japan-Abteilung in der Zentrale zugeteilt.

Sein Monatsgehalt betrug mit Sonderzulagen über 300 Rubel, fast doppelt soviel, wie sowjetische Wissenschaftler, Physiker, Ingenieure, Lehrer oder Journalisten im Durchschnitt verdienten.

Die Weltsicht, die man von der Zentrale aus hatte, war für Lewtschenko atemberaubend, wenigstens am Anfang. Lewtschenko fühlte sich aber bald von einem Phänomen angewidert, das er als moralische Korruption empfand.

Einer seiner Kurskameraden von der KGB-Schule, den er als Schibkajew kannte, hieß in Wahrheit Alexandr Schischajew und war der Sohn des Leiters einer Konsumgüter-Abteilung im Moskauer Stadtsowjet. Als Schischajew junior zur Japan-Abteilung kam, verstand Lewtschenko endlich, warum das KGB ihn trotz hoffnungsloser Unfähigkeit genommen hatte.

Viele Offiziere der Ersten Hauptverwaltung starben in relativ jungen Jahren. Aufgrund von Erschöpfung, Streß und Emotionen oder Frustrationen, die sie nicht ausleben konnten, erlitten sie am Schreibtisch oder gar auf dem Flur Herzattacken oder Schlaganfälle, und alle ärztlichen Bemühungen kamen zu spät.

Die Erste Hauptverwaltung hatte deshalb einen ununterbrochenen Bedarf an Blumen, und Schischajew senior lieferte sie jahrelang gratis, sogar im Winter, wenn Blumen normalerweise nur auf dem schwarzen Markt erhältlich waren. Das KGB zeigte sich erkenntlich, indem es seinem Sohn einen risikofreien Arbeitsplatz gab.

Ende 1973 teilte Oberst Pastuchow, der Personalchef der Ersten Hauptverwaltung, Lewtschenko mit, das KGB habe beschlossen, ihn als Korrespondenten von »Nowoje wremja« ("Neue Zeit") nach Tokio zu schicken.

Die Partei hatte die Zeitschrift 1943 allein zu dem Zweck gegründet, um KGB-Offizieren eine Auslandstarnung zu verschaffen; auf Befehl des Politbüros waren zwölf ihrer 14 Auslandsredaktionen für KGB-Leute reserviert. Pawel Naumow, der neue Chefredakteur, bestand aber darauf, daß jeder Offizier, den das KGB ihm schickte, in einem Probejahr seine Fähigkeit, druckreife Artikel zu schreiben, unter Beweis stellen mußte.

Oberst Pastuchow, ein glatzköpfiger Veteran, klärte den neuen Korrespondenten auf: »Alle wissen, daß Naumow ein großes Arschloch ist. Aber wir können nichts machen, weil Wladimir Krjutschow, der Chef der Ersten Hauptverwaltung, ihm alles gibt, was er haben will. Sie müssen Naumow also zufriedenstellen; das ist das nächste Jahr ihre wichtigste Aufgabe. Wenn er Sie rauswirft, müssen wir Sie für die 'Prawda' oder für Tass arbeiten lassen, und das ist nicht so gut.«

Lewtschenko begann das Probejahr im Januar 1974 in der Redaktion von »Nowoje wremja« am Puschkin-Platz neben der Zentrale der Nachrichtenagentur Nowosti.

Er arbeitete genausoviel wie die anderen, stellte nie Fragen und schnitt keine strittigen Themen an. So errang er allmählich das Vertrauen der Kollegen.

Etwa 30 Prozent der in »Nowoje wremja« erscheinenden Artikel wurden unter Pseudonymen von Mitarbeitern der Internationalen Abteilung des ZK-Sekretariats der Partei geschrieben, etwa 20 Prozent vom Desinformationsdienst des KGB und rund 20 Prozent vom Außenministerium.

Daran konnte nicht einmal Naumow etwas ändern. Er forderte allerdings, daß alle Beiträge gewisse stilistische Ansprüche erfüllten, und Lewtschenko beeindruckte die Redakteure, indem er viele Artikel umschrieb, die im Original nicht druckfähig gewesen wären.

Vor der Abreise mußte Lewtschenko nach altem Redaktionsbrauch eine Abschiedsparty in der Kantine geben. Er hatte alle Kollegen - etwa 100 Leute - eingeladen, nahm aber an, daß nur ungefähr 20 kommen würden. Er gab dem Kantinenleiter 100 Rubel für Speisen und Getränke.

Lewtschenko kam pünktlich um acht Uhr abends und war überwältigt. Die Tische waren beladen mit Kaviar, Stör, Räucherlachs und Käse, mit Dutzenden von Flaschen besten georgischen Weins, Cognacs und »Stolitschnaja«-Wodka, der normalerweise nicht aufzutreiben ist.

Er wußte, daß all das wenigstens 500 Rubel gekostet haben würde, wenn Naumow seinen Einfluß nicht geltend gemacht hätte. Fast 80 Kollegen waren erschienen und bereiteten ihm stehend eine Ovation. Sie schmausten und tranken stundenlang und kamen dann alle zu ihm, um sich zu verabschieden.

Nach altem Brauch mußte Lewtschenko auch eine Party für seine Vorgesetzten geben, und so ging er zwei Abende vor dem Abflug mit fünf Obersten der Japan-Abteilung zum Filmklub.

Der Abend war ungezwungen, aber nicht sehr interessant, bis die Stunde des Aufbruchs nahte und ein Oberst Lewtschenko bat, noch ein wenig zu bleiben. Die Aufforderung überraschte Lewtschenko, denn im Büro trug der Oberst immer ein undurchdringliches, ungerührtes Gesicht zur Schau.

»Ich werde Ihnen ein Glas spendieren und drei Ratschläge geben«, sagte er.

»Erstens: Die besten Wegweiser bei Ihren Einsätzen werden Ihr gesunder Menschenverstand und Ihr Urteilsvermögen sein. Zweitens: Kommen Sie der CIA nicht zu nahe. Und halten Sie sich drittens von Wladimir Pronnikow, dem Zweiten Mann in der Residentur, fern, so gut Sie können. Er ist gefährlicher als die ganze CIA zusammen.«

Mitte der siebziger Jahre galt die Residentur von Tokio als einer von den fünf wichtigsten Außenposten des KGB. Mit ihrer Bedeutung konnten es nur die Niederlassungen in New York, Genf, Paris und Neu-Delhi aufnehmen.

Japan, die zweitgrößte Industriemacht außerhalb des Sowjetimperiums, war ein hochkarätiges Ziel geworden, dessen Reichtum und Technologie irgendwie angezapft werden mußten. Außerdem sammelten die Sowjets ihre geheimdienstlichen China-Erkenntnisse größtenteils über Japan, und das KGB hatte festgestellt, daß Japan einer der besten Plätze der Welt war, um amerikanische Waffen und Spitzentechnologie zu stehlen.

Aber in Tokio gingen die sowjetischen Ziele genauso über den Geheimnisdiebstahl hinaus wie in Washington, London, Paris, Bonn und anderen wichtigen Hauptstädten.

Das KGB wollte in erster Linie Agenten anwerben, die als Meinungsmultiplikatoren dienen konnten: Politiker, Regierungsbeamte, Autoren, Journalisten, Künstler, Industrielle und Wissenschaftler, die imstande waren, die japanische Politik letzten Endes prosowjetisch und antiamerikanisch zu machen.

Solche Zielpersonen sind gewöhnlich intelligent und müssen von Partnern angegangen werden, die in etwa ihr Niveau und ihre Bildung haben.

Daher brauchte das KGB in Tokio Offiziere, die gründlich mit der Kultur, der Geschichte, den Bräuchen, der Sprache und dem modernen Leben Japans vertraut waren. Offiziere, die einen Japaner mit ihrer eigenen Bildung, Sensibilität und Gewandtheit beeindrucken würden - eben Offiziere wie Stanislaw Alexandrowitsch Lewtschenko.

Lewtschenko bot zudem den Vorteil, daß er auch durch sein Äußeres für die Rolle geschaffen zu sein schien, die das KGB ihm zugedacht hatte. Hohe Wangenknochen, eine aristokratische Nase, volles, kastanienbraunes Haar, dunkle, suchende Augen und eine schlanke, sportliche Gestalt machten ihn zu einem attraktiven jungen Mann, der sich in diplomatischen Salons, eleganten Restaurants und parlamentarischen Vorzimmern bewegen konnte.

Obwohl das KGB ihn dreimal gründlich durchleuchtet hatte, waren keine ideologischen Schwachstellen entdeckt worden.

Das erste Mal war er 1966 einer gründlichen Prüfung unterzogen worden, als die GRU ihn für das Himmelfahrtskommando in England vorbereitet hatte. 1968 machte die Zwangsversetzung zur Zweiten Hauptverwaltung des KGB eine erneute Überprüfung notwendig. Etwa zwei Jahre später, als die Erste Hauptverwaltung ihn übernahm, war die dritte Durchleuchtung fällig.

Es waren gründliche Ermittlungen, die jeweils mehrere Monate dauerten. Lewtschenkos Wohnung wurde verwanzt, sein Telephon abgehört; er wurde überwacht und von Provokateuren getestet. Das KGB fragte Kollegen, Nachbarn, Verwandte - alle, die jemals mit ihm zu tun gehabt hatten - über ihn aus, sowohl direkt als auch durch Mittelsmänner.

Dabei kam auch einiges Negative zutage. Lewtschenko hatte unleugbar ein paar Genossinnen vom Afro-Asiatischen Solidaritätskomitee verführt, und zwar im Keller des Hauptquartiers jener Organisation.

Auf einem Nonstopflug von Tokio hatte er eine Stewardeß beschwatzt, mit ihm in eine Ruhekoje der Besatzung zu steigen. Als die Maschine außerhalb Moskaus gelandet war, waren sie noch einmal in die Koje gekrochen.

Vermutlich hatten ihn auch ein paar Leute kritisiert, weil er die Beherrschung verloren hatte oder zu deutlich geworden war, denn zu Beginn der letzten Überprüfung erklärte ihm ein wohlgesonnener KGB-Offizier unter vier Augen: »Sie sind manchmal ein bißchen zu offen. Ich schlage vor, Sie lassen die nächsten paar Monate den Mund und die Hose zu.«

Solcherlei »Nebensächlichkeiten« konnten jedoch seine Tüchtigkeit und Qualifikation nicht in Frage stellen.

An seinem letzten Abend in Moskau, im Februar 1975, fuhr Lewtschenko mit einer Taxe zu einer ihm bekannten Kirche und erkundete die Umgebung, bis er einen unbeweglichen Observierer entdeckte, einen jungen Mann, der am Steuer eines parkenden Autos saß.

Er zeigte seinen roten KGB-Ausweis und sagte: »Ich suche einen jungen Mann, der ungefähr so groß ist wie ich und einen grauen Mantel und eine schwarze Pelzmütze trägt. Ist vielleicht jemand in die Kirche gegangen, der so aussah?«

»Nein, Genosse Oberleutnant, in den letzten beiden Stunden sind nur ein paar alte Frauen hineingegangen.«

Vor dem Altar kniete Lewtschenko nieder und betete das Gebet, das er seit seinem Eintritt in das KGB viele Male wiederholt hatte: »Vater unser, der Du bist im Himmel, ich erflehe Dein Verständnis und Dein Erbarmen. Vergib mir meine vielen Sünden und leite meine Schritte und sei meiner armen Seele gnädig.«

Im nächsten Heft

Als erster sowjetischer Korrespondent wird KGB-Offizier Lewtschenko in den Nationalen Presseklub Japans aufgenommen. - Nach dem Streit mit dem Zweiten Mann der Tokioter Residentur bittet er die Amerikaner um politisches Asyl: »Lassen Sie mich einfach verschwinden.«

John Barron
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