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»Die Affären haben den Ruf ruiniert«

Mit schonungsloser Selbstkritik, wie sie unter Sozialdemokraten rar geworden ist, analysierte der Frankfurter SPD-Stadtverordnete Karl-Heinz Berkemeier die jüngste Wahlschlappe der SPD in Hessen. »Auf allen Ebenen«, schrieb er in einem Beitrag für die »Frankfurter Rundschau«, »steht die SPD in bitterer Winterkälte.«
aus DER SPIEGEL 17/1977

Selten hat eine Partei eine Niederlage so reell verdient wie die SPD bei den hessischen Kommunalwahlen am 20. März. Sie ist ausschließlich dank eigener Anstrengungen zustande gekommen. Die anderen brauchten keinen Finger zu krümmen. Für den Bürger reichte es, Theorie und Praxis, Programm und Realität zu vergleichen.

Auf allen Ebenen -- Bund, Land, Stadt -- steht die SPD heute in bitterer Winterkälte. Das warme Feuer der Glaubwürdigkeit ist dahin. Will sich die SDP -- nach einem städtischen Motto -- frühlingsfein putzen, braucht sie einen kräftigen Besen. Nicht, um etwas unter den Teppich zu kehren, im Gegenteil ...

Die Hauptschuldigen sind längst ausgemacht: Sie sitzen in Bonn und in Wiesbaden. Und das beruhigt offenbar manche -- in Frankfurt. Daß führende SPD-Vertreter aus dem Römer-Lager an beiden Orten ein gewichtiges Wort mitzureden haben, fällt anscheinend niemandem mehr auf. Allein drei Frankfurter Sozialdemokraten sind im Bundeskabinett als Minister oder Staatssekretär vertreten. Auch in Wiesbaden gibt es einen Frankfurter SPD-Minister, darüber hinaus eine Reihe Landtagsabgeordneter, die zum Beispiel in der Schulpolitik mitsprechen. Sie üben sich offenbar in einer neuen Art von Doppelstrategie: In Bonn decken sie den Regierungs-Selbstbetrug, in die Wirtschaft gepumpte Milliarden beseitigten die Arbeitslosigkeit; in Bonn treiben sie das Kernenergie-Programm ohne Rücksicht auf das »Rest-Risiko« voran -- das, wie der Jumbo-Jumbo-Zusammenstoß zeigt, manchmal doch früher eintritt, als die Wahrscheinlichkeitsrechner glaubhaft machen wollen; in Bonn lassen sie die echten Verfassungsbrecher im Amt und gleichzeitig an den falschen Stellen weiter nach Verfassungsfeinden suchen.

Und in Frankfurt verkünden sie: Die Regierung ist auf dem richtigen Wirtschaftsweg; Kernenergie ja, aber nicht mit Gewalt; die freiheitlichen Grundrechte müssen gewahrt bleiben. Neuerdings verkünden sie allerdings gar nichts mehr, außer vielleicht: »Wieder Tritt fassen, Leute!« Womöglich hat es ihnen die doppelte Sprache verschlagen. In Wiesbaden helfen sie mit, eine Milliarde für die Hessische Landesbank und ein paar Tausender im Monat für sich selber lockerzumachen. Und in Frankfurt bedauern sie: Leider kein Geld mehr da für Lehrer und Schulbauten.

Am Tatort selbst haben die Spendenaffären der SPD den Ruf ruiniert, anders, moralischer als die CDU zu sein. Es lassen sich gar nicht so viele Spenden kassieren, wie nötig sind, um durch Wahlpropaganda den verheerenden Ruch von Korruption wieder wegzuwischen ...

Mir scheint, wir haben es allgemein (auch in Frankfurt seit einiger Zeit) mit einer neuartigen Erscheinung zu tun: mit dem BTP-Syndrom (das Duden-Lexikon definiert Syndrom als eine Gruppe von zusammengehörigen Krankheitszeichen, die für eine bestimmte Krankheit kennzeichnend sind). Es handelt sich um die brisante Mischung von Bürokraten, Technokraten und Politokraten.

Sie haben ein System gegenseitiger Abhängigkeiten entwickelt, das keinen Absprung mehr erlaubt, es sei denn, ins politische Nichts. Der Apparat ist ihr Götze. Ihn verehren sie nicht zu Unrecht: er walzt im Zweifelsfalle alles nieder, was wider ihn ist ...

Der Apparat kann, versteht sich, nur funktionieren, wenn niemand Sandkörner von Kritik, Zweifel, Nachdenken, Einsichten hineinwirft. Daher muß der Apparat im Interesse eines ungehinderten Produktionsablaufes abgeschottet werden. Das klappt auch nach einigen Anstrengungen meist. Man nehme den derzeitigen Frankfurter SPD-Vorstand: Von den insgesamt 15 Mitgliedern sind 14 mehr oder weniger vom Verwaltungs- oder Parteiapparat abhängig; nur einer nicht, doch der gliederte sich freiwillig ein.

Das BTP-Syndrom hat einen eigenartigen, aber hervorstechenden Nebeneffekt: es trübt den Sinn der davon Befallenen für die Wirklichkeit, für Echtes und Unechtes, für Wahrheit, Stilfragen, Sensibilität. Und die Befallenen nehmen an, daß es jedermann so gehe. Anders sind manche ihrer Verhaltensweisen nicht zu erklären.

Da werden Schüler, die mehr Lehrer und mehr Unterricht haben wollen, pauschal zu kommunistischen Bösewichtern erklärt.

Da werden empfindlicher Lehrermangel trotz Lehrerschwemme, fehlende Räume als »Unzulänglichkeiten« hingestellt (das noch nach der Wahl).

Da spricht der Frankfurter SPD-Vorsitzende ungerührt weiter von »verzerrter Darstellung« in Sachen Spenden, ohne rot zu werden.

Da weigert sich Rudi Arndt nach der Wahl weiter einzugestehen, daß er hat lügen lassen (er habe es »nicht sofort korrigiert«, meint er).

Da läßt sich Albert Osswald (immer noch -- wie überzeugend Landesvorsitzender der hessischen Sozialdemokraten) für teures Steuergeld eine Villa herrichten.

Da heißt es in einem SPD-Wahlblatt: »Sie lesen die Zeitung des Wahlsiegers«.

Da wird peinlich dick aufgetragen: »Danke, Rudi!« (für den Wiederaufbau der alten Oper).

Man sollte fast meinen, es hätten sich Agents provocateurs bei den Sozialdemokraten eingeschlichen, um die Zahl der SPD-Wähler nur nicht zu groß werden zu lassen.

Das BTP-Syndrom hat allerdings auch einen großen Vorteil: es hält jeweils für vier Jahre die Belästigungen durch Volksmeinungen von einem fern. Und im eigenen Hause trägt es dazu bei, eine herrliche Einigkeit herzustellen. So hat zwar die Disziplinierung der letzten beiden Jahre in der Frankfurter SPD nicht dazu beigetragen, die Zahl der zufriedenen Mitglieder zu erhöhen; aber sie sagen wenigstens nicht mehr, wie ihnen zumute ist. Ein Schritt vom mündigen zum schweigenden Bürger.

Lore Lorentz hat kürzlich in einem Rückblick »30 Jahre Kom(m)ödchen« geschrieben: »Auf eine rätselhafte Weise findet Politik heute nicht mehr statt. Technokraten haben keine Visionen.« Erklärlich: Weitblick, Durchblick, eine klare, unbestechliche Linie, eine politisch-geistige Führung, kurz: Vorbilder, läßt das BTP-Syndrom nicht zu. Bürokraten, Technokraten, Politokraten haben alle Hände voll zu tun, sich gegenseitig hoch und auf dem laufenden zu halten.

Inzwischen liegen 50 000 Denkzettel auf dem Tisch des Frankfurter SPD-Hauses. Und es wird, wie man hört, nachgedacht. Die einen meinen nach den öffentlichen Darbietungen der letzten Wochen, eine Selbstheilung sei sehr zweifelhaft. Ein Gesundheitserreger ist nicht in Sicht. Die anderen halten es für nötig, daß das schleichende Fieber voll ausbricht und damit den Prozeß einer Kräftigung einleitet. Vielleicht läßt sich ihrer Phantasie im Hinblick auf den Jahresparteitag der Frankfurter SPD am 22. und 23. April auf die Sprünge helfen.

In der Frage der Bürgerinitiativen wird die SPD auf allen Ebenen völlig umlernen müssen. Bisher war sie es gewohnt -- auch in Frankfurt -, sich auf die Argumente der eigenen Technokraten und Bürokraten zu verlassen und ihnen damit die Entscheidungen zu überlassen. Bürgerinitiativen und Bürgergruppen wurden als Zumutung empfunden und entsprechend behandelt.

Eine Umkehr kann hier nur heißen, die Beweislast umzudrehen. Mußten bisher die Bürgerinitiativen beweisen, daß ein Verwaltungsvorschlag Nachteile hat, so sollte künftig die Verwaltung nachweisen müssen, wieso Bürgervorschläge nicht verwirklicht werden können. Es geht doch zu Recht meist um Grün, Lärm, Straßen, Schule, Bürohochhäuser, Umwelt. Das heißt aber auch, daß die Vorschläge der Bürgergruppen (und nicht die der Techno-Bürokraten) zur Grundlage der Beratung gemacht werden. Ebenso die der Ortsbeiräte, deren Bürgerkontakte vielfach besser sind als die der Zentralinstanzen.

Nach den jüngsten Erfahrungen der CDU in Frankfurt (und anderer anderswo) müßte sich ein weiterer Teil Glaubwürdigkeit endlich auch herstellen lassen: die Hessische Gemeindeordnung dahingehend zu ändern, daß die Amtszeiten von Stadtregierung und Stadtparlament übereinstimmen, damit Alternativen deutlich werden können.

Weiter wartet jedermann darauf, daß die Macher in Wiesbaden nicht Sprüchemacher bleiben und -- wie sie im Falle Helaba so glorios bewiesen haben -- auch für Schulunterricht, Lehrer und Schulbauten die nötigen Mittel zur Sanierung aufbringen.

Und das Spenden-Dilemma muß endlich beseitigt werden. Eine überzeugende Spendenkontrolle gibt es bis heute bei der Frankfurter SPD nicht. Die praktizierte Stückelung von Spenden ein und derselben Person in Beträge, die nicht veröffentlicht werden müssen, verstößt eindeutig gegen das Parteiengesetz. Vor allem aber widerspricht es dem Geist des Parteiengesetzes, der Tradition der SPD und ihren Verdammungsurteilen der Vergangenheit, Spenden von Strohmännern oder Strohmänner-Institutionen anzunehmen.

Auch das ist wider alle Erklärungen ("Wir verheimlichen nichts") bis heute in Frankfurt Praxis. Dabei dürfte ohnehin klar sein: drei Jahre lang, beginnend am Tag nach der Wahl, eine gute Politik betrieben und in die Tat umgesetzt, erspart manche Wahlkampf-Mark.

Schließlich könnte das Führungsorgan »SPD-Unterbezirksvorstand« eine Frischzellentherapie vertragen. Hier grassiert das BTP-Syndrom ja nur so. Und die Postenhäufung dazu. Es bedürfte neuer Vorstandsmitglieder, die sich als Mitstreiter in oder zur Unterstützung von Bürgerinitiativen verdient gemacht haben; die besser merken, wenn"s zu stinken beginnt, und dann auch etwas tun; die die politische Diskussion überzeugend und konkret vorantreiben, die zu Meinungsträgern der Öffentlichkeit und der Bürgerschaft ein vertrauensvolles Verhältnis in ständigem Kontakt entwickeln können; die mit Bürgergruppen sympathisierend und nicht aggressiv diskutieren und das auch können; die vor allem Zeit dafür haben und haben müssen.

Konkrete Utopien? Bisher ist der SPD-Wahlsieg 81 auch nur eine konkrete Utopie.

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