Zur Ausgabe
Artikel 1 / 53

INDUSTRIE / STINNES-KONZERN Die Aktien vom Delaware

aus DER SPIEGEL 24/1957

Kein Geringerer als Bundeskanzler Adenauer hat vor kurzem mit einem persönlichen Schreiben an Präsident Eisenhower einen letzten Versuch unternommen, der Mülheimer Familie Stinnes ein Vermögen zu erhalten, dessen Gesamtwert sich nach den Wallstreet - Kursen vom letzten Freitag auf rund 87 Millionen Mark beziffert.

So hoch wird in Amerika der Wert eines Aktienpaketes von 53 Prozent der Hugo Stinnes Corporation in New York eingeschätzt, deren Zechen, Kohlenfelder, Glaswerke, Chemie- und Ölfabriken, Schifffahrts- und Eisenhandelsfirmen trotz der amerikanischen Firmenbezeichnung nicht in Nordamerika, sondern im Ruhrgebiet der Bundesrepublik gelegen sind. Nur der Name der Obergesellschaft dieser Kombination von Unternehmen ist amerikanisch, die Betriebe selbst sind immer deutsch gewesen.

Das Aktienpaket ist ein Erbe der Industriellenfamilie Stinnes in Mülheim an der Ruhr. Im Jahre 1941 wurde es aus amerikanischen Tresoren heraus beschlagnahmt, enteignet und dem US-Verwalter für Feindvermögen unterstellt. Jetzt ist höchste Gefahr im Verzuge, daß dieses ehemals deutsche Vermögen in einer Art Torschlußpanik öffentlich versteigert wird. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat den Verkauf der Aktien vorbereitet.

Dallas S. Townsend, der amerikanische Verwalter beschlagnahmter Feindvermögen, reichte am 29. März einer Börsenkommission in Washington den dickleibigen Prospekt zur Prüfung ein, mit dem das Aktienpaket dem Börsenpublikum zum Verkauf angeboten werden soll. Von den insgesamt 530 512 beschlagnahmten Aktien heißt es in dem Prospekt: »Diese Papiere offeriert der Justizminister der Vereinigten Staaten als Verkäufer. Angebote werden innerhalb einer Frist von 45 Tagen entgegengenommen.«

Die Eile des Vermögensverwalters Townsend steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu den Bestrebungen rechtlich denkender Politiker in Amerika. Erst vor wenigen Wochen hat der Rechtsausschuß des amerikanischen Senats den Kongreß einmütig aufgefordert, die Verkaufsaktionen abzustoppen und alle im Kriege beschlagnahmten Werte den rechtmäßigen Eigentümern In Deutschland und Japan zurückzugeben.

Der Rechtsausschuß formulierte eine Entschließung, In der es heißt: »Die Konfiszierung darf nicht von einer Nation praktiziert werden, welche andere zur Moral ermutigt. Die Annahme des Prinzips der entschädigungslosen Enteignung durch die Vereinigten Staaten findet nur in den Praktiken des Kommunismus ihre Rechtfertigung - Praktiken, welche unvereinbar mit der Unverletzlichkeit des Privateigentums und allen amerikanischen Rechts- und Lebensvorstellungen sind.«

In Washington liegt überdies ein Gesetzentwurf des demokratischen Senators Olin D. Johnston zur Beratung vor, dem Im Senat eine zustimmende Mehrheit sicher ist. Diese sogenannte Johnston - Bill plädiert ebenfalls für eine bedingungslose Rückgabe der beschlagnahmten Vermögen und empfiehlt eine Revision der sogenannten Feindvermögen - Gesetze von 1941 und 1948, die den Beschlagnahmen die - sehr umstrittene - Rechtsgrundlage gaben. Den Juristen in Washington sind diese Kriegsgesetze besonders peinlich geworden, seit im Verlauf der Suezkrise Ägyptens Staatschef Nasser eben diese Gesetzestexte wörtlich benutzte, um die Beschlagnahme westlicher Vermögen hohnlachend zu rechtfertigen.

Der Brief Bundeskanzler Adenauers sollte nun in letzter Minute den amerikanischen Präsidenten zu einem Eingreifen bewegen. Adenauer gab in seinem Schreiben zu bedenken, welche unerfreulichen Auswirkungen es in der westdeutschen Öffentlichkeit haben müsse, wenn heute, zwölf Jahre nach dem Kriege, eine selbst in Amerika umstrittene Maßnahme noch ausgeführt werde, während im amerikanischen Parlament schon über eine Vermögensrückgabe beraten wird. Der Kanzler erinnerte damit an eine Note der Bundesregierung, die Botschafter Krekeler im Februar in Washington überreicht hatte und die unbeantwortet geblieben war.

In dieser Note hatte der Bonner Regierungs - Chef die Regierung der Vereinigten Staaten gebeten,

- die Vorbereitungen zum Verkauf des

ehemals deutschen Aktienbesitzes an der Stinnes Corporation zu stoppen, bis über die Gesetzesvorlage des Senators Johnston entschieden ist, oder aber,

- wenn der Verkauf durchgeführt werden sollte, wenigstens auch deutsche Käufer als Mitbietende zuzulassen und möglichst diesen den Zuschlag zu geben.

Wegen der Bedeutung des Stinnes - Komplexes für die deutsche Volkswirtschaft schlug der Kanzler notfalls Besprechungen von Regierung zu Regierung vor.

In der Tat geht es bei dem Stinnes - Vermögen um ein Wirtschaftspotential, das zu den großen Industriekonzernen an der Ruhr gehört und dessen Abwanderung ins Ausland ein empfindlicher Verlust für die deutsche Volkswirtschaft wäre. Anders als bei den anderen beschlagnahmten deutschen Vermögen* handelt es sich nicht um in den USA gelegene deutsche Tochterfirmen, sondern um Betriebe, die sämtlich in Deutschland beheimatet sind. In ihnen arbeiten 33 000 deutsche Arbeiter und Angestellte.

Auf die drei Stinnes - Bergwerksgesellschaften entfallen vier Prozent der gesamten westdeutschen Kohlenförderung. Sie betreiben zwölf Schachtanlagen, sechs Koksofenbatterien mit 210 Öfen, zwei Kraftwerke und zwei Brikettfabriken, die 20 Prozent aller in der Bundesrepublik produzierten Steinkohlenbriketts herstellen. Die Reederei des Konzerns besitzt 14 Überseeschiffe mit einer Gesamttonnage von 70000 Bruttoregistertonnen, außerdem fahren mehrere Dutzend Rheinschiffe unter der rotweißen Stinnes - Flagge.

Die Chemie- und Handelsbetriebe des Konzerns zählen zu den größten an der Ruhr. Die Stinnes-Glasfabrik produziert 25 Prozent der Hohlglaserzeugung der Bundesrepublik, und das noch unberührte Kohlenfeld Wulfen, das der Ahnherr der Familiendynastie Stinnes einst für 25 Millionen Goldmark erwarb, ist mit seiner Größe von 42 Quadratkilometern Westdeutschlands bedeutendste Kohlenreserve. Die Besitzpalette des Konzerns ist vielfältig und schließt noch mancherlei Beteiligungen ein, wie etwa die am Hotel Nassauer Hof in Wiesbaden.

Die Mülheimer Familie ist seit Jahren darum bemüht, einem Verlust dieses wertvollen Besitzes mit allen Mitteln vorzubeugen. Ihre Bevollmächtigten und amerikanischen Lobbyisten verhandelten in Washington mit dem Feindvermögensverwalter Townsend und in Bonn mit dem Auswärtigen Amt. Noch

einen Tag vor der vorletzten Reise des Außenministers Heinrich von Brentano nach Amerika waren Familienmitglieder wegen des Aktienpakets nach Bonn gereist. Der Bundesaußenminister hatte ihnen verbindlich zugesagt, er werde bei den zuständigen Stellen In Amerika auf die bisher immer wieder hinausgezögerte Beantwortung der Eigentumsfrage dringen.

In Washington jedoch ließ sich Brentano von Botschafter Krekeler anders beraten. In keiner Besprechung und auf keinem der Empfänge brachte er die Sprache auf das deutsche Vermögen. Selbst

als ihn im Presseclub Journalisten zu dem Thema befragten, wagte er es nicht, die Bemühungen der amerikanischen Parlamentarier um eine Unterbrechung des Ausverkaufs deutscher Werte auch nur mit einem Wort zu unterstützen.

Bei den Stinnes in Mülheim löste dieses Verhalten gallige Kommentare über das Rückgrat der Bundesregierung gegenüber dem befreundeten Amerika aus.

- Hugo Stinnes meint: »Das ist seit Jahren die typische Haltung des Auswärtigen Amts: Nur kein heißes Eisen anfassen. Mir haben die Amerikaner in Washington jedesmal gesagt, Herr Stinnes, Sie haben hundertprozentig Recht, aber wie können wir Ihnen wirksam helfen, wenn sich Ihre eigenen Leute nicht dafür einsetzen?«

- Hugos Bruder Otto erklärt: »Es ist mir eine unverständliche Schlappheit Herrn von Brentanos, wenn er sich von seinem Botschafter anders beraten läßt, als er es uns vorher ausdrücklich versichert hat. Besonders wenn man bedenkt, daß die USA selbst für 31 Milliarden Dollar im Ausland investiert haben, müssen die deutschen Argumente doch überzeugen.«

Diese Kritik an der Bundesregierung ist nun allerdings das einzige, worin Hugo Stinnes auf der einen, sein Bruder Otto und die Mutter Cläre, geborene Wagenknecht, auf der anderen Seite noch übereinstimmen. Die Frage, welches Familienmitglied das rechtmäßige Eigentum an jenem 53prozentigen Aktienpaket besitzt, und an wen es gegebenenfalls zurückerstattet werden müßte, ist Hauptgegenstand eines erbitterten Familienstreits in Mülheim.

Mutter Cläre und Sohn Otto behaupten, das gesamte Aktienpaket gehöre allein der Mutter, der Alleinerbin des 1924 verstorbenen Konzerngründers Hugo Stinnes senior. Bruder Hugo dagegen bestreitet diese Auffassung. Im Verlauf dieses millionenschweren Konflikts hat die vierundachtzigjährige Mutter dem Sohn Hugo schon vor längerer Zeit ihre Generalvollmacht für den - außerhalb des beschlagnahmten Konzerns geführten - Familienbetrieb entzogen und ihm im vergangenen Herbst als Gesellschafter gekündigt.

Einträchtig vereint sah man Mutter Cläre und ihre Söhne zum letztenmal vor Jahren anläßlich des Stapellaufs eines ihrer Überseeschiffe. Seitdem verkehren sie nur über ihre Rechtsanwälte. Die Kontakte durch die Jurisprudenz aber sind recht vielfältig. Vor dem Landgericht Duisburg laufen unter dem Titel Stinnes contra Stinnes etliche Klagen, mit denen die streitenden Verwandten insgesamt Ansprüche in Höhe von acht bis zehn Millionen Mark befriedigt wissen wollen.

Das vorläufig letzte Ereignis dieses juristischen Schlagabtauschs ist eine Räumungsklage, mittels derer Hugo seinen Bruder Otto aus dem traditionellen Geschäftshaus der Familie in Mülheim, Auf dem Dudel 33, hinausbefördert hat.

Hugo Stinnes selbst umreißt den gegenwärtigen Stand der Familienangelegenheiten mit der Feststellung: »Ich habe meinen Bruder seit Jahr und Tag nicht gesehen, und ich will ihn auch nicht sehen. Am besten wäre zweifellos, wenn unsere Differenzen im Rahmen eines Schiedsgerichts beigelegt würden. Wenn aber, wie es anscheinend Otto will, alles öffentlich verhandelt werden soll, dann wird für die Familie dabei sehr viel Unerfreuliches herauskommen.«

Zum zweitenmal in einem Menschenalter präsentiert sich die Mülheimer Industriellenfamilie damit völlig zerstritten in einer Situation, die für das Weiterbestehen des großen Stinnes-Konzerns entscheidend ist. Als der Gründer des sagenhaften Imperiums, Vater Hugo Stinnes, im Jahre 1924 starb, war es ähnlich gewesen. Damals herrschte Streit zwischen Edmund, dem ältesten Sohn des Gründers, und dem zweitältesten, Hugo junior. Damals wie heute verschanzte sich das publizitätsscheue Haus hinter der knappen Formulierung, es bestünden lediglich Meinungsverschiedenheiten über die Art der Geschäftsführung.

Als Stinnes senior im Wilmersdorfer Krematorium aufgebahrt lag, umgeben von einer Totenwache, die sich aus Kapitänen seiner Flotte und Knappen seiner Bergwerke rekrutierte, hinterließ er den Seinen- das größte Konzernreich Europas. Es bestand aus nicht weniger als 1535 Unternehmen mit rund 3000 Fabriken und Filialen, darunter waren 81 Kohlenbergwerke, 56 Hütten- und Walzwerke, 100 Fabriken der Metallindustrie, 66 Unternehmen der chemischen, der Papier- und der Zuckerbranche sowie 57 Bank- und Versicherungsfirmen, 37 Raffinerien und Ölfelder und schließlich 389 Handels- und Verkehrsgesellschaften.

Stinnes war der reichste Mann Europas. Das Riesengeflecht der von ihm kontrollierten Unternehmen erstreckte sich von Deutschland bis Südafrika und von den Inseln des Indischen Ozeans bis nach Nord- und Südamerika. Er würde Jahre gebraucht haben, hätte er sein Imperium inspizieren wollen. Der vierschrötige Mann, den man seines pechschwarzen Haares und seines exotischen Aussehens wegen den Assyrerkönig nannte, galt und gilt noch heute als der genialste Konzernarchitekt seit der industriellen Revolution.

Hugo Stinnes senior hatte knapp dreißig Jahre gebraucht, um solche industriellen Schätze anzusammeln. Als Hugo junior 1897 geboren wurde, war es gerade vier Jahre her gewesen, daß sich der Vater mit 50 000 Mark Kapital aus der schon seit Generationen wohlhabenden Schifferfamilie in Mülheim selbständig gemacht hatte. Wie schon die Familie vorher, begann auch Hugo Stinnes, das Geschäft einer Kohlenhandels- und Reedereigesellschaft zu betreiben. Seinem Großvater Matthias Stinnes nacheifernd, einem der ersten Zechenbesitzer zu einer Zeit, als die Eisenindustrie noch mit Holzkohle arbeitete, erwarb er um die Jahrhundertwende Anteile von Kohlenfeldern an der Ruhr.

Der Vorsprung der Familien Krupp, Thyssen und Haniel spornte den Ehrgeiz des jungen Kaufmanns aus Mülheim zu gewagten Transaktionen an. Mit ersten Gewinnen aus der Kohlenschiffahrt auf dem Rhein erwarb Stinnes einen Teil des Aktienkapitals der AG für Eisen- und Kohlenindustrie Dannenbaum-Differdingen. Auf diese Weise gelangt er in den 42köpfigen Aufsichtsrat des Unternehmens. Er setzt eine Änderung der Statuten durch, nach der fortan schon drei Aufsichtsratsmitglieder Entscheidungen treffen können, sofern der Vorsitzende unter ihnen ist.

Als Stinnes schließlich zum Vorsitzenden der Firma aufrückt, offenbart sich bei ihm ein eigenartiges Talent: Wie seine beiden ersten Söhne, Edmund und Hugo, in der väterlichen Wohnung mit Bauhölzern kunstvolle Gebäude errichten, so schachtelt der kaum dreißigjährige Vater Beteiligungen und Aktienpakete zu mammuthaften Industriekombinaten aufeinander.

Die AG für Eisen- und Kohlenindustrie gründet er in die sogenannte »Deutsch-Lux« um, die unter seiner Direktion die Kohlenzechen Friedlicher Nachbar, die Friedrich-Wilhelms-Hütte, die Nordseewerke Emden und vor allem das große Eisenwerk Dortmunder Union schluckt. Ankäufe von Aktienpaketen und Fusionen überstürzen sich. Stinnes erwirbt immer gerade so viele Anteile eines Firmenkapitals, daß er Herr im Hause ist.

In Gestalt der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke AG (RWE) gründet er gemeinsam mit August Thyssen die ersten gemischtwirtschaftlichen Unternehmen, an denen Städte und Gemeinden beteiligt werden. Ausgehend von Mülheim, Essen. Solingen und Gelsenkirchen, erschließt die RWE bald ganz Deutschland der Elektrifizierung. Von Hochöfen der Stinneswerke gespeiste Gaslaternen erhellen die ersten deutschen Städte. Zwischendurch hat der junge Konzerngründer immer wieder Zeit, riesige Gewinne aus Grundstücks-Spekulationen in Essen oder Berlin-Moabit zu realisieren. 1914 verfügt er nicht nur über eine der größten Rheinflotten; seine Hamburger Reederei, mit einem Stammkapital von fünf Millionen Goldmark ausgerüstet, transportiert bereits auf 14 großen Dampfern Stinneskohle bis zum Schwarzen Meer.

Der schwarzbärtige Industriefürst steckt sein Geld in Hunderte von Betrieben, so daß er überall einen finanziellen Brückenkopf besitzt, wenn ein Urfternehmen einen besonderen Aufschwung nimmt. Der erste Weltkrieg begünstigt die Expansion. Als sich der Zusammenbruch abzeichnet, ist Stinnes in der Öffentlichkeit bereits ein einflußreicher Mann. Vom Großen Hauptquartier werden er und sein Freund Albert Ballin aus Hamburg dazu ausersehen, dem Kaiser die Aussichtslosigkeit der Kriegslage darzustellen. Schon einige Zeit vorher hat Stinnes in Stockholm mit dem japanischen Botschafter Baron Motono eine geheime Unterredung über Möglichkeiten eines Friedensschlusses geführt.**

Der Senior nimmt frühzeitig seine Söhne mit in das Geschäft. Edmund wird auf einen Posten nach Berlin geschickt. Hugo sitzt vom 16. Lebensjahr an mit am Schreibtisch seines Vaters.

Als eine Art Privatsekretär ist er bei allen Geschäftsabschlüssen dabei. Mit Verzücken lernt Hugo die Tricks und kaltblütigen Taktiken kennen, mit denen der Vater seine Transaktionen durchführt. Der Alte ist eine Eroberernatur mit westfälischem Dickschädel und Bauernlist. Als zum Beispiel das Kohlensyndikat für die Kohlen-Lieferungen der Stinneszechen an Kraftwerke die fälligen Abgaben erheben will, verwandelt Stinnes die Kohle kurzerhand in eigenen Kesselhäusern in Dampf und liefert diesen Dampf an die Kraftwerke. Dadurch entfällt die Abgabe.

Hugo junior sieht in dem Vater das große Vorbild. Er versucht, ihm auch äußerlich so ähnlich wie möglich zu werden und trägt deshalb den gleichen kurzen Rasierpinselhaarschnitt. In der Heimburg, dem rheinischen Stammsitz der Familie, werden gemeinsam Pläne für die großen Börsenschlachten oder Paketkäufe geschmiedet, mit denen die Familie ihren Industriebesitz ständig vergrößert.

Vater Stinnes erkennt sofort die Chancen, die ihm die Inflation nach dem Weltkrieg bietet. Er nimmt ungeheure Kredite auf, erwirbt damit Kapitalbeteiligungen und zahlt die Schulden in immer mehr entwertetem Geld zurück. Mit der Entschädigungssumme, die ihm das Reich für den Verlust seiner lothringischen Betriebe zahlt, kauft Stinnes Aktien der großen Gelsenkirchener Bergwerks AG. 1920 fusioniert er sie mit seiner Deutsch-Lux zur Rhein-Elbe Union GmbH.

Auch dieses mächtige Gebilde stockt er weiter auf zur Siemens - Rhein -Elbe-Schuckert-Union, einem Trust der Kohle -, Stahl- und Elektrobranche von überdimensionaler Größe. Seine Verträge geben später das Muster für Interessengemeinschaften wie etwa die IG Farben ab, die modernste Form der industriellen Konzentration.

Der robuste Stinnes ist ein Autokrat, der keinen Widerspruch duldet. Was ihm in die Augen sticht, muß er kaufen, koste es, was es wolle. Eines Tages verlangt es ihn, das Mehrheitspaket der Bayrischen Motorenwerke (BMW) zu besitzen. Er gibt Hjalmar Schacht, der damals für die Nationalbank im Aufsichtsrat der Deutsch-Lux sitzt, den Auftrag, ihm dieses Paket zu beschaffen. Schacht wendet sich an den Wiener Inflationsspekulanten Castiglioni, aber der denkt nicht daran, zu verkaufen.

Aus Wut darüber wirft Stinnes Schacht aus dem Aufsichtsrat.

Der Schloßherr auf der Heimburg ist ein Kapitalist reinsten Wassers. Er demonstriert die von Karl Marx beschriebene Akkumulation des Kapitals vor aller Augen, und seine Börsenmanöver lösen oft den Protest der gesamten Öffentlichkeit aus. Als er die Aktien des Bochumer Vereins erwirbt, treibt er die Kurse rücksichtslos auf 600 bis 700 Prozent. Stinnes weiß, daß sich der Kaufpreis in wenigen Monaten dank der schleichenden Entwertung trotzdem als spottbillig erweisen wird. Er kauft Hunderte von Unternehmen aller Branchen, erwirbt Hotels, Bürohäuser und ramscht einmal auf einen Schlag sieben große Rittergüter mit riesigem Waldbesitz zusammen.

Als noch alle Welt an der Frage rätselt, was der Kohle- und Stahlmagnat mit den Wäldern anfangen will, hat er bereits Papierfabriken hinzugekauft. Es folgen eigene Korrespondenzbüros und schließlich der Erwerb einflußreicher Zeitungen in Deutschland und Österreich. Darunter ist die wichtigste die »Deutsche Allgemeine Zeitung«.

90 Millionen Mark Schulden

Stinnes ist zum mächtigsten Mann an der Ruhr geworden. Über die Gremien der Schwerindustrie, über seine Zeitungen und als Reichstagsabgeordneter der Deutschen Volkspartei greift er auch in die Politik ein. Er unterzeichnet mit Alfred Hugenberg und den Gewerkschaftlern Karl Legien und Adam Stegerwald ein Programm zur Gründung einer Zentralarbeitsgemeinschaft von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Auf der Kohlen-Konferenz in Spa lehnt er in schroffen Worten die Forderungen der Siegermächte ab, und mit dem Senator der kriegszerstörten Gebiete Nordfrankreichs, Lubersac, schließt er ein Abkommen, das auf privatwirtschaftlicher -Basis Massenlieferungen von Baumaterialien aus Stinnes - Fabriken nach Frankreich vorsieht.

Als der Konzerngründer am 10. April 1924 stirbt, läßt er, sein Reich zwei streitenden Söhnen und einer Witwe zurück, die keine Entscheidungen zu treffen wagt. Hugo junior hatte zuletzt als Chef der »Abteilung T« in Hamburg das Transportwesen und die gesamte Ausfuhr geleitet. Zwischen dem ältesten Sohn Edmund und dem Vater war es zu einem Zerwürfnis gekommen, als der Senior nach seiner ersten Gallenoperation kundgab, er wünsche nicht in dem Ältesten, sondern in Hugo seinen Nachfolger zu sehen.

Hugo siedelt beim Ableben des Seniors sofort nach Mülheim um. Edmund bleibt entgegen dem letzten Wunsch seines Vaters in Berlin. Beide beginnen, sich in einem Kleinkrieg um das Erbe an den mehr als 1500 miteinander verschachtelten Unternehmen zu raufen.

Noch auf dem Sterbebett hatte der Vater den beiden älteren Söhnen warnend klargemacht, daß sie nach seinem Tode nicht den persönlichen Kredit genießen würden, den die Banken und Finanziers ihm jederzeit entgegengebracht hatten. Es komme also darauf an, nach seinem Tode den Konzern zu konsolidieren, seine Liquiditätslage zu verbessern: Deshalb müßten unrentable oder abseitige Beteiligungen verkauft werden. Die Söhne jedoch halten sich nicht an diesen Ratschlag.

Hugo regiert in Mülheim, Edmund in Berlin. Beide versuchen sich in den spekulativen Künsten des Vaters. Statt zu konsolidieren, betreiben sie weiter die Expansion. Sie kaufen links und rechts, was sich ihnen bietet. Unter den Neuerwerbungen sind Anteilpakete von NSU, der Nordstern - Versicherungsgesellschaft, von Drahtwalzwerken, Kupferschmieden und Lackfabriken.

Binnen Jahresfrist war die Verschuldung des Konzerns gefährlich angewachsen. Der Bruderzwist hatte überdies ein Stadium erreicht, das ein weiteres Zusammenarbeiten ausschloß. Unter der Leitung des Reichsgerichtspräsidenten Simons mußte deshalb ein Schiedsgericht eingesetzt werden. Edmund erhielt seinen Pflichtteil in Form von Bargeld und Beteiligungen. Der Älteste ist heute amerikanischer Staatsbürger. Er hat sein Geld in Kaffeeplantagen und großen Landgebieten Sudamerikas angelegt. Der Schiedsspruch schloß mit dem Wunsch: »Das Gericht gibt der Hoffnung Ausdruck, daß damit die Streitigkeiten im Hause Stinnes beigelegt sind.«

Der Konzern war um diese Zeit bereits schwer angeschlagen. Es zeigte sich, daß Hugo junior zwar das Aussehen, nicht aber die Genialität und die Erfahrungen des Vaters geerbt hatte. Besonders die deutschen

Banken setzten einige Zweifel in die Fähigkeiten des 27jährigen Nachfolgers. Hinzu kam, daß inzwischen durch Schacht die Reichsmarkstabilisierung eingeleitet und in der einsetzenden Deflation bares Geld knapp geworden war.

Als der Reichsbankpräsident im Frühjahr 1925 mit seiner Familie auf einem Dampfer der Stinnes - Reederei von einer Mittelmeerreise zurückkam, empfingen ihn zu seiner Überraschung Hugo Stinnes und Mutter Cläre am Hamburger Kai. Schacht machte sich einige Gedanken darüber, was wohl hinter dieser Geste stecken möge. Einige Wochen später gab ihm eine Unterredung, um die der junge Hugo gebeten hatte, darüber peinlichen Aufschluß.

In der knappen Art, die er immer an seinem Vater bewundert hatte, erklärte Stinnes in dieser Besprechung: »Herr Präsident, ich bin zahlungsunfähig, ich habe 90 Millionen Schulden.«

Darauf entspann sich ein kurzer Dialog. Schacht fragte, um was für Schulden es sich handele. Stinnes antwortete: »Um Wechselschulden.« Schacht: »Das ist gefährlich.« Stinnes: »Ja, es sind 90 Millionen, und zwar in London.« Schacht: »Wann sind die Wechsel fällig?« Stinnes: »In vierzehn Tagen.«

Der Reichsbankpräsident war entsetzt. Wenn jetzt, verhältnismäßig kurz nach dem erfolgreichen Beginn der Markstabilisierung, ein deutsches Unternehmen vom Range des Stinnes-Konzerns für 90 Millionen Mark Wechsel in London platzen ließe, würde das eben erst wieder gewachsene Vertrauen in die deutsche Reichsmark heftig erschüttert werden. Schacht ließ sich die Bilanzen bringen. Sie waren bei dem immensen Sachwert vermögen nicht schlecht, nur die flüssigen Mittel fehlten.

Der Reichsbankpräsident trommelte die Hausbanken des Stinnes - Konzerns zusammen. Er legte die Situation klar und schloß sich mit den Direktoren buchstäblich in ein Zimmer ein, um im Interesse der Währung eine Lösung zu erzwingen. Die Bankiers erklärten, sie besäßen im Moment keine 90 Millionen Mark. Schacht spannte deshalb die Reichsbank ein und streckte den Bankiers die Mittel vor. Man bildete ein Komitee, und am Fälligkeitstag wurden die Wechsel in London prompt eingelöst.

Das verschaffte dem Juniorchef, dem die Mutter Generalvollmacht erteilt hatte, zwar eine Atempause, doch unter dem Druck der Gläubiger, die nach dem Tod des Konzerngründers um ihre Gelder fürchteten, bröckelten immer größere Teile des Imperiums auseinander. Auf Betreiben der von Stinnes senior in die Interessengemeinschaft einbezogenen Elektrofirmen löste sich die große Siemens-Rhein - Elbe -Schuckert - Union auf. Die Rhein-Elbe-Union wurde mit den Stahlwerken der Familie Thyssen zusammengelegt.

Bedeutende Beteiligungen mußten oft unter ihrem Wert zu Bargeld gemacht werden, damit die anstehenden Forderungen beglichen werden konnten. Noch heute erinnert sich Hugo Stinnes mit Schrecken: »Wir haben damals mächtig Haare lassen müssen.«

Immerhin blieb als Rest die bedeutende spätere Hugo Stinnes GmbH, Mülheim, erhalten. Zu ihr gehörten:

- die Bergbaugesellschaft Matthias Stinnes;

- die Bergbaugesellschaft Mülheimer

Bergwerksverein;

- die Diergardt-Mevissen Bergbau AG;

- die Ruhr Öl GmbH;

- die Glaswerke Ruhr AG;

- das Kohlenfeld Wulfen;

- Schiffahrtsunternehmen mit einer großen Rhein- und Überseeflotte, Hotelgesellschaften und anderes.

Doch auch dieser Bodensatz des einstigen Industriereichs war damals gefährdet, solange es nicht gelang, neue Gelder für noch unbefriedigte Forderungen aufzutreiben. Bei deutschen Banken war für den Junior Stinnes um diese Zeit nichts mehr zu holen. Aber über einen Freund, den Ölkaufmann Rieber, der mit den Stinnes-Petroleumgesellschaften in Verbindung stand, gelang es Hugo junior, Kontakte zu amerikanischen Finanziers herzustellen.

Rieber, der an Ölgesellschaften in Texas beteiligt war, kannte einen Mann aus New Orleans mit Namen Saunders. Ursprünglich war Saunders in der Heimatstadt der Jazzmusik Lehrer gewesen, hatte es aber schließlich zum Mitbesitzer des New Yorker Bankhauses Saunders & Co. gebracht. Rieber trug ihm den Fall Stinnes vor, an den in Europa niemand mehr so recht heran wollte. Da Saunders nicht über derart große Mittel verfugte, wie sie der Konzern brauchte, nahm er Geschäftsfreunde von zwei weiteren New Yorker Banken, der Halseys, Stuart & Co. und der A. G. Becker & Co., mit nach Europa, um über die gewünschte Anleihe zu verhandeln.

Nach langen Gesprächen unterzeichnete man in Paris die Verträge. Die Banken gewährten Stinnes Anleihen über 25 Millionen Dollar, mit denen die restlichen Schulden des Konzerns beglichen werden konnten. Sie stellten jedoch harte Bedingungen, die ihnen einen großen Profit sicherten. Sie verlangten, daß

- die Anleihe nur zu 90 Prozent ausgezahlt und mit 7 Prozent jährlich verzinst werde und daß

- der gesamte verbliebene Industriebesitz der Stinnes auf eine neu zu gründende Aktiengesellschaft übertragen werde, von deren Aktienkapital die Banken und die Familie je die Hälfte erhalten.

Diese neue Gesellschaft, so forderten die Bankiers, müsse ein Unternehmen nach amerikanischem Recht sein und deshalb in Amerika gegründet werden. Der Name der neuen Gesellschaft: »Hugo Stinnes Corporation«. Als reine Vermögens-Dachgesellschaft* wurde sie Eigentümerin der verbliebenen Stinnes - Fabriken an der Ruhr (siehe Graphik).

Als Aufgeld zu der Anleihe, die ohnehin teuer verzinst und getilgt werden mußte, und gewissermaßen als Sicherheit erhielten die amerikanischen Bankiers dann in der Tat die Hälfte der Corporation-Aktien. Sie wurden mithin zu 50 Prozent Eigentümer der deutschen Stinnesfirmen. Einen Teil der Aktien verkauften sie später auf dem internationalen Markt. Nur das Bankhaus Halsey, Stuart & Co. besitzt nach dem Verkaufsprospekt des US-Justizministeriums noch heute sein ursprüngliches Paket.

Die Familie Stinnes rundete im Laufe der Zeit ihren Aktienbesitz von zunächst gleichfalls 50 Prozent durch Zukäufe zu einem Mehrheitspaket auf, so daß in Amerika schließlich jenes Aktienpaket von 53 Prozent der Corporation - Aktien als deutsches Vermögen beschlagnahmt werden konnte.

Die Verhandlungen um diese Anleihe waren von Hugo Stinnes junior geführt worden. Man bestellte ihn zum Präsidenten der Corporation in New York. Gleichzeitig führte er in Mülheim, als Bevollmächtigter seiner Mutter, die Geschäfte der Mülheimer Hugo Stinnes GmbH, in der die verbliebenen Fabrikationsbetriebe nach deutschem. Recht zusammengefaßt worden waren. Die Amerikaner redeten ihm nicht in die Geschäftsführung hinein. Der Restkonzern fing sich und konnte bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges fast 19 Millionen der Dollaranleihe zurückbezahlen. Noch nach Kriegsausbruch überwies Hugo Stinnes pünktlich die Zinsen an die deutsche Konversionskasse, über die damals Zins- und Tilgungsbeträge für Schulden bei ausländischen Gläubigern verrechnet wurden. (Die während des zweiten Weltkrieges geleisteten Zahlungen wurden allerdings später nicht anerkannt.)

Der amerikanische Eigentumsanteil bot während des Krieges der Geheimen Staatspolizei mehrfach Anlaß, Hugo Stinnes zu verhören: Man verdächtigte ihn, Kapital verschoben zu haben (Kapitalflucht). Aber auch nach der Kapitulation erwuchs dem Konzernleiter aus den transozeanischen Bindungen kein besonderer Segen. Hugo Stinnes wurde wie die meisten Wirtschaftsführer verhaftet. Er saß ein Jahr

lang im Gefängnis. Nach seiner Entlassung zog er in die ehemalige Gärtnerwohnung seiner Villa und wartete seine Entnazifizierung ab.

Die Amerikaner kümmerten sich zunächst kaum um den Konzern. Dies um so weniger, als die Zechen, Bürohäuser und Hotels zerbombt waren. In dieser Zeit wurde der jüngere Bruder Otto rege. Als einziger der Familie führte er in der GmbH provisorisch die Geschäfte weiter.

Otto Stinnes sagt darüber: »Wir haben erst einmal weitergemacht, wenn auch im luftleeren Raum. Ich habe damals das Wort geprägt: Wenn einmal die Währungsreform kommt, muß jede Anlage bereit sein, sofort wieder produktiv zu arbeiten.«

Ehe jedoch die Geldreform kam, traf aus New York ein Hauptversammlungsbeschluß der Corporation ein. Er war mit den durch Treuhänder Townsend vertretenen Mehrheitsstimmen des beschlagnahmten Stinnesschen Aktienpakets gefaßt worden und besagte, daß sämtliche Mitglieder der Familie sofort aus der Geschäftsführung zu entfernen seien. Mutter Cläre und ihre Söhne durften daraufhin die Geschäftsgebäude nicht mehr betreten. Die Amerikaner präsentierten auch schon einen neuen Mann, der den Geschäftsführerposten übernehmen sollte, den zwanzig Jahre lang Hugo Stinnes junior bekleidet hatte.

Der neue Geschäftsführer hieß Heinz P. Kemper. Er stellte sich höflichkeitshalber bei Hugo Stinnes in der Gärtnerwohnung vor. Kemper war in Berlin Direktor der amerikanischen Werkzeugfirma »Premag« gewesen und in den Staaten ausgebildet worden. Er sprach fließend Englisch. Ihn hatte das amerikanische Hauptquartier in Deutschland benannt, als die Feindvermögens - Verwaltung in Washington nach zuverlässigen Leuten suchte.

Hugo Stinnes machte aus seiner Abneigung gegen den neuen amerikanischen Statthalter kein Hehl. Alle leitenden Angestellten ließ er wissen, wer mit Kemper und den Amerikanern zusammenarbeite, sei sein Feind. Die Stimmung des ausgeschalteten Juniorchefs verschlechterte sich noch, als Kemper ihn auf Anweisung des amerikanischen Managements aufforderte, er solle jene Summen zurückzahlen, die seiner Frau von der Hugo Stinnes GmbH monatlich ausgezahlt worden waren, während er in Haft saß und mithin nicht für den Konzern arbeiten konnte.

Beim Familienrat in Mülheim stellte man um diese Zeit ein großes Palaver an, was nach der Ausbootung durch die Amerikaner weiter geschehen solle.

Die Stinnes waren nicht gerade arm geworden. Der Sturz aus dem Reichtum in die Ungewißheit zwang sie jedoch zu einer gemeinsamen Anstrengung mit dem Ziel, sich wieder eine wirtschaftliche Basis zu errichten. Es traf sich gut, daß Stinnes senior einst auch eine weniger bedeutende Einzelfirma gegründet hatte, die nach seinem Tode von der Witwe weitergeführt und Ende der zwanziger Jahre durch den Eintritt ihrer Söhne Hugo und Otto in eine sogenannte Offene Handelsgesellschaft (OH) umgewandelt worden war.

Diese Firma war in die amerikanische Corporation nicht mit eingebracht worden. Sie hieß Stinnes OH (siehe Graphik Seite 28) und hatte jahrzehntelang kaum aktiv Geschäfte getrieben, war vielmehr im wesentlichen eine Verrechnungsstelle der Familie gewesen. Nun bildete sie, 1948, die Basis für ein neues Familienunternehmen. Unter dem anspornenden Zuspruch der Hauptgesellschafterin, Mutter Cläre, gingen die Söhne Hugo und Otto daran, diese OH im Schatten des amerikanisierten-Konzerns auszubauen. Sie versuchten, alte Geschäftsverbindungen wieder anzuknüpfen. Die ganze Familie bot um diese Zeit das Bild einer schuldlos um ihr Hauptvermögen gekommenen und jetzt in schöner Eintracht um ihren Wiederaufstieg kämpfenden Sippe

Im Zuge des wirtschaftlichen Aufstiegs florierte die Gesellschaft prächtig. Sie betrieb den traditionellen Kohlenhandel, stieg mit ihren Firmen »Etag« GmbH und »Brenntag« AG in die Erdöl- und Chemikalienverarbeitung ein und baute ein beachtliches Netz eigener Tankstellen auf. Über eine der Firma angegliederte Außenhandelsbank wurde vor allem die Finanzierung von Schiffen betrieben, mit dem Ergebnis, daß heute zwar die Rheinflotte der Familien -OH kleiner, ihre Seeflotte jedoch größer ist als die des amerikanisch verwalteten Konzerns.

In der Zeit des Koreabooms verdiente die Familie Millionen an dem Kohle-Stahl-Austausch mit den Vereinigten Staaten, bei dem Stahlerzeugnisse, die an der Ruhr mit importierter amerikanischer Kohle erschmolzen worden waren, nach Nordamerika verkauft wurden. Als der Düsseldorfer Großkaufmann Willy Schlieker seine millionste Tonne Importkohle mit einem lauten Sektgelage feierte (SPIEGEL 39/1956), ging der Familienelan schon lautlos auf die zweite Million Tonnen zu.

Damals bereits gab es erste Meinungsverschiedenheiten. Hugo Stinnes verwahrte sich dagegen, daß sein Bruder Otto plötzlich in alles hineinreden wolle. Hugo hatte das Austauschgeschäft mit dem New-Yorker Kohlenhändler Pablo Müller entriert. Er behauptet, Otto habe seine Verbindungen gefährdet, indem er »alle Leute vor den Kopf stieß«.

Nun war Hugo Stinnes seit seinen Zeiten als Konzernleiter gewohnt, Entscheidungen nach eigenem Gutdünken zu treffen. Er erklärte oft, es bestehe keine Notwendigkeit, sich von seinem jüngeren Bruder beraten zu lassen, nachdem er als Geschäftsführer der GmbH und als Präsident der Corporation jahrzehntelang die Verantwortung getragen habe, Hinzu kam, daß beide Brüder schwerhörig sind, so daß ihre Verhandlungen ohnehin nicht gerade im Flüsterton geführt wurden. Mutter Cläre versuchte zunächst, begütigend auf die streitenden Brüder einzuwirken.

Nach den ersten Reibereien setzte Hugo der Mutter in einem langen, persönlich gehaltenen Brief seine Ansichten über die erforderliche Geschäftsführung und über die Einmischungen seines Bruders auseinander. Er erinnerte daran, daß er in der größten Krise um die Mitte der zwanziger Jahre den Konzern erfolgreich durch die Klippen geleitet und damals den Banken gegenüber für die Mutter gebürgt hatte. Der Brief gipfelte in der Ankündigung, er fühle sich von seinem »dem Vater gegenüber geleisteten Gelübde befreit, immer für Euch zu arbeiten und zu sorgen«, wenn ihm in der Geschäftsleitung weiterhin Schwierigkeiten gemacht würden.

Ungeachtet solcher dramatischen Ankündigungen mißfielen dem Bruder Otto die Privatgeschäfte, die Hugo in wachsendem Maße trieb. Zwar war es in der Familie immer üblich gewesen, nebenbei eigene Geschäfte zu fädeln. So besaßen beispielsweise die Brüder gemeinsam - jeder zu 50 Prozent - die »Brenntag«, Brennstoff-, Chemikalien- und Transport GmbH in Duisburg*. Mutter Cläre und Sohn Otto aber sahen mißtrauisch, wie Hugo im Laufe der Zeit neben der OH-Gesellschaft einen regelrechten Privatkonzern für sich errichtete.

Da Hugo seine Gründungen und Transaktionen meistens über die Bank der Familienfirma finanzierte, waren sich Otto und Mutter Cläre bald einig in dem Verdacht, den Privatkonzern baue Hugo praktisch mit ihrem Geld auf. Da überdies eine reinliche Scheidung der Geschäfte nicht in jedem Stadium erkennbar war, äußerten beide die Vermutung, es gehe hier nach dem Motto: Die Schlechten ins Töpfchen, die Guten ins Kröpfchen. Das hieß: Gerate ein Geschäft gut, so sehe Hugo es als sein Privatgeschäft an und streiche den Gewinn ein, mißlinge es, gehe es auf Rechnung der OH. Denn im Banne des Wiederaufstiegs machte Hugo Stinnes nicht nur erfolgreiche Transaktionen. An einem großen Eisengeschäft mit Spanien beispielsweise büßte die Familie Hunderttausende ein.

Ein anderes Verlustgeschäft betraf die Ruhrbau AG, eine Raffinerieanlage in Mülheim. An dieser Gründung Hugos waren die Farbenfabriken Bayer mit 50 Prozent beteiligt. Heute erinnert man sich in Leverkusen nur höchst ungern an diese Fehlspekulation. Nach einigen Monaten mußte das Unternehmen nämlich wegen Unrentabilität eingestellt werden. Die Anlagen wurden mit Verlust an die Brüsseler Gesellschaft Petrofina verkauft. Hugo Stinnes allerdings ist der Ansicht, daß die Ruhrbau AG eine höchst lukrative Sache geworden wäre, wenn man sich nur an seine Investitionspläne gehalten hätte.

Im Hause Bruder Ottos weist man seitdem auf eine spekulative Veranlagung Hugos hin. Otto Stinnes selbst gibt zu bedenken, nach der Rechtsform der Offenen Handelsgesellschaft hätten er und seine Mutter bei allen Geschäften Hugos immer mit im Risiko gestanden. Hugo pariert die Vorwürfe mit der Erklärung, man habe gute und weniger gute Geschäfte gemacht, aber die guten hätten zweifellos überwogen, sonst stünde die OH heute nicht so glänzend da.

Andererseits waren die Befürchtungen der Familie hinsichtlich Hugos privater Aufbautätigkeit auch nicht gerade Hirngespinste. Denn neben dem amerikanischen Konzern und der OH wuchs In wenigen Jahren ein dritter Stinnes-Konzern auf, den Hugo für sich reservierte (siehe Graphik). Unter der Obergesellschaft Hugo Stinnes Industrie und Handel, Bremen, gehören dazu unter anderem:

- Hugo Stinnes Transozean Schiffahrt

GmbH, Mülheim;

- Atlas-Werke AG, Bremen;

- MAK Maschinenbau AG, Kiel;

- Ruhr Intrans Hubstapler GmbH, Mülheim;

- Seibert-Stinnes GmbH, Mülheim;

- Canada Machinery Corporation Galt,

Ontario (Kanada) und

- eine Beteiligung von 25 Prozent an der

Feldmühle Papier- und Zellstoffwerke AG, deren Aufsichtsratsvorsitzer Hugo Stinnes ist.

Die Bank im Hause wurde bald zum Mittelpunkt des Streits über die Geschäftsführung. Mutter Cläre und Sohn Otto versuchten, die Finanzierungsentnahmen Hugos, die einmal einige hunderttausend Mark, ein anderes Mal Millionen betrugen, mehr unter ihre Kontrolle zu bekommen. Eine der Auseinandersetzungen endete damit, daß Hugo von seinen Mitgesellschaftern aufgefordert wurde, binnen acht Tagen eine entnommene Million Mark an die Bank zurückzuzahlen, widrigenfalls man nicht mehr mit sich spaßen lasse.

Es mag nun ein zeitlicher Zufall sein, aber Tatsache ist, daß die Familie immer uneiniger wurde, je mehr hinsichtlich des beschlagnahmten Familienvermögens in Amerika gewisse Hoffnungen Gestalt annahmen.

Erstmals im Jahre 1953 hatte In den USA der Senator Dirksen eine Gesetzesvorlage eingebracht, die mit einigen Ausnahmen eine Rückgabe des konfiszierten deutschen Vermögens in Betracht zog. Zwei Jahre später brachte der demokratische Senator Johnston seinen auf völlige Rückgabe abzielenden Entwurf ein. Im Februar 1955 schließlich entsandte Bundeskanzler Adenauer den Bankier Hermann Josef Abs als Sonderbevollmächtigten nach Washington, der sich dort für diejenigen Deutschen einsetzen sollte, »deren Eigentum als Kriegsmaßnahme beschlagnahmt worden ist, und die einer Freigabe ihres Vermögens oder einer angemessenen Entschädigung für ihre bereits liquidierten Werte harren«.

Solcherlei Aussichten warfen in Mülheim die Frage auf, wem die beschlagnahmten 53 Prozent Aktien der Stinnes Corporation tatsächlich gehören und an wen sie gegebenenfalls zurückgegeben werden müßten.

Um das Eigentum einwandfrei festzustellen, waren gleich nach der Kapitulation Beamte des amerikanischen Geheimdienstes nach Deutschland gereist. Sie trafen Cläre Stinnes in Hamburg an und bestellten sie zum amerikanischen Generalkonsulat an der Alster. Die Geheimdienstler wollten von Cläre Stinnes ganz genau wissen, wem das Aktienpaket gehört hatte. Mutter Cläre bekannte sich vor den Beamten als die alleinige Eigentümerin, was die Amerikaner mit Befriedigung vernahmen. Denn für sie war damit klargestellt, daß das Paket ausschließlich in deutschem Eigentum gestanden hatte und folglich nach den amerikanischen Vorschriften zu Recht beschlagnahmt war. Auch Otto Stinnes erklärt: »Die 53 Prozent sind nach meiner Ansicht und nach Auffassung des amerikanischen Custodian einzig und allein Eigentum meiner Mutter »

Bruder Hugo dagegen meint: Wenn Otto und meine Mutter behaupten, das Aktienpakete gehöre nur der Mutter so ist das falsch, Wenn es zurückgegeben werden sollte und das glaube ich, dann kann es doch nur denen zurückgeben werden, denen es beschlagnahmt wurde; und das ist nicht nur meine Mutter, sondern das sind auch nichtdeutsche Verwandte. Die Amerikaner werden sich doch nicht zum Richter über die Differenzen unserer Familie aufspielen wollen.

Der Widerspruch in diesen Auffassungen rührt an geheime Vorgänge, die in einigen starken Panzerschränken sorgsam gehütet werden und über die beide Brüder Stillschweigen bewahren. Sie betreffen Ansprüche ihrer Onkel und Tanten und gehen zurück bis in das Jahr 1921. Damals hatte Großmutter Adeline, die Mutter des Konzerngründers, ihren gesamten Wertpapierbesitz, darunter RWE-Aktien und Papiere der Deutsch-Lux, dem Stinnes-Konzern überlassen. Den Vertrag darüber schloß schon der Juniorchef Hugo Stinnes. Als Gegenleistung versprach Hugo senior, er werde seinen miterbenden Geschwistern später andere Vermögenswerte geben. Bei ihm sei das Vermögen sicher aufgehoben.

Nachdem der Konzern zusammengebrochen war und Hugo junior den Rest mit Hilfe der amerikanischen Anleihe konsolidiert hatte, meldeten die Erben dieser Großmutter nun Ansprüche aus der Überlassung der Effekten an. Diese Ansprüche wurden gegen die Witwe Cläre Stinnes erhoben, etwa um die gleiche Zeit, als ihr ältester Sohn Edmund ausschied und auch seine Schwestern Clärenore und Hilde ihr Erbteil verlangten. Mutter Cläre sah sich als Alleinerbin des Konzerngründers mithin vielen Forderungen der Verwandtschaft gegenüber.

Ihr verbliebener Besitz bestand im wesentlichen aus jenen 500 000 Aktien der neugebildeten Hugo Stinnes Corporation in Amerika. Nachdem die Kinder noch aus persönlichem Vermögen abgefunden werden konnten, mußte sie, um die Erbansprüche der Geschwister ihres Mannes befriedigen zu können, das Aktienpaket der Corporation angreifen. So lautet jedenfalls die Version, auf der auch ihr Sohn Hugo heute die Behauptung gründet, der Mutter gehöre nur ein Teil des von den Amerikanern beschlagnahmten Aktienpakets.

- Die New Yorker Bankiers hatten von Frau Cläre verlangt, das ihr zugestandene Aktienpaket müsse juristisch als ein geschlossenes Paket zusammenbleiben. Wenn diese Bedingung erfüllt und trotzdem Corporation-Aktien zur Begleichung von Erbforderungen verwandt werden sollten, dann gab es aktienrechtlich nur eine Möglichkeit, nämlich das Aktienpaket geschlossen in eine weitere Firma einzubringen. Die Kapitalanteile einer solchen Vermögens-Holding-Gesellschaft konnten dann notfalls aufgeteilt und zur Begleichung von Forderungen verwendet werden, ohne daß das Aktienpaket der Corporation selbst auseinandergerissen werden mußte.

- Deshalb wurde das Aktienpaket der

Witwe Stinnes kurz nach Gründung der Stinnes Corporation in eine weitere Gesellschaft eingebracht, die schon bestand und die zum Interessenbereich von Mutter Cläres Bruder, Edmondo Wagenknecht; gehörte. Diese Firma, von deren Existenz außer den engsten -Freunden der Familie Stinnes und einigen Beamten des amerikanischen Geheimdienstes bisher niemand etwas wußte, war nach den Gesetzen des US-Staates Delaware errichtet. Sie hieß Atlantic Assets Corporation. In ihre Safes kam 1927 das Aktienpaket der Witwe Stinnes.

Wie jede andere Aktiengesellschaft, gab nun die Atlantic Assets Corporation eigene Aktien aus (3000 Stück), und damit war der Zweck der Gründung erreicht. Cläre Stinnes konnte nun einige dieser Aktien zur Bezahlung der privat an sie gestellten Forderungen verwenden. Eine Aktie des Kapitals der Atlantic Assets war gleichbedeutend mit dem Eigentum an einem Vermögensteil dieser Firma. Wer mithin eine Aktie der Atlantic Assets besaß, verfügte damit indirekt auch über einen Anteil an dem Stinnesschen Aktienpaket der großen deutsch-amerikanischen Hugo Stinnes Corporation.

Von den rund 3000 Aktien der Vermögensgesellschaft verblieben laut schriftlich von Mitgliedern der Familie Stinnes niedergelegten Angaben 1500 im Eigentum von Mutter Cläre. Je 500 der Papiere wurden den Brüdern Heinrich und Gustav sowie der Schwester Anni des verstorbenen Gründers zur Abgeltung ihrer Erbansprüche aus dem Effektengeschäft zugesprochen. Zwei der Erben akzeptierten diese Regelung.

Einer dieser Erben ist noch heute im Besitz der Originalurkunde über 500 Aktien der Atlantic Assets und macht damit sein mittelbares Eigentum an dem beschlagnahmten Aktienpaket der Hugo Stinnes Corporation geltend. Schon bei den Vernehmungen durch amerikanische Justizbeamte hat dieser Erbe gegen den Totalanspruch der Cläre Stinnes an dem als Feindvermögen konfiszierten Aktienpaket protestiert und ihr mit einer einstweiligen Verfügung gedroht, wenn sie ihre Behauptung in der Öffentlichkeit aufrechterhalte.

Aber damit sind der Ansprüche an das beschlagnahmte 53prozentige Aktienpaket noch nicht genug. Die Atlantic Assets nämlich erhöhte in den zwanziger Jahren ihr Eigenkapital von ursprünglich rund 3000 auf 10 000 Aktien, und diese Kapitalaufstockung ist letztlich der Angelpunkt des Familienstreits um den Aktienschatz am Delaware.

Die Erhöhung wurde damals von Hugo junior und dem inzwischen verstorbenen mexikanischen Staatsbürger Edmondo Wagenknecht vorgenommen; Wagenknecht übernahm auch die neuen 7000 Aktien, um die das Kapital heraufgesetzt wurde. Cläres Bruder Edmondo war seit langem an der Hugo Stinnes Limitada, Buenos Aires, beteiligt und vertrat den Konzern in Südamerika. Der mit Generalvollmacht seiner Mutter ausgestattete Hugo junior gab der Kapitalaufstockung mit den Aktienstimmen der Frau Cläre sein Plazet. Den Briefwechsel über diese Transaktion führten vorwiegend Don Edmondo und der Juniorchef in Mülheim.

Als diese Kunde nach dem Kriege im Hause Stinnes richtig in ihren Einzelheiten erfaßt wurde, gab es erhebliche Aufregung. Denn demnach besäße dieser mexikanische Onkel Anspruch auf 7 000 der 10 000 Atlantic - Assets - Aktien und mithin auch auf den größten Teil der als Feindvermögen konfiszierten Aktien der Hugo Stinnes Corporation, die in den Safes der Atlantic Assets Gesellschaft aufgefunden und beschlagnahmt wurden.

Cläre Stinnes und Sohn Otto erkennen heute die damalige Kapitalerhöhung bei der Atlantic Assets Corporation nicht

an. Skeptische Freunde der Familie fühlen sich dadurch in der Vermutung bestärkt, Mutter Cläre habe die weittragende Bedeutung der Transaktion, der Sohn Hugo seinerzeit in ihrem Namen zustimmte, erst später voll erkannt.

Um der entscheidenden Frage zuvorzukommen, warum das Kapital der Atlantic Assets erhöht wurde, hat Hugo Stinnes bereits schriftlich eine Erklärung niedergelegt. Darin begründet er die Transaktion damit, daß man sich in den zwanziger Jahren den amerikanischen Bankiers gegenüber habe verpflichten müssen, auf die Aktien der Stinnes Corporation nicht eher Dividenden auszuschütten, als die Rückzahlung der 25-Millionen-Dollar-Anleihe gesichert sei.

In dieser Situation habe nun Onkel Edmondo aus seinem Wirtschaftsbereich beachtliche »einnahmebringende Werte« in die Atlantic Assets eingebracht, damit wenigstens auf die Aktien dieser Vermögensgesellschaft Dividenden gezahlt werden und mithin der Familie Stinnes jährliche Gewinne zufließen konnten. Die Frage, woraus diese eingebrachten Werte bestanden haben, wird vermutlich das Hauptthema künftiger gerichtlicher Auseinandersetzungen in der Familie sein, sobald das beschlagnahmte Vermögen oder sein Erlös zurückerstattet wird.

Heute wie damals steht sich Hugo Stinnes mit der mexikanischen Verwandtschaft sehr gut während Mutter Cläre und Bruder Otto mit der Witwe des 1946 verstorbenen Edmondo Wagenknecht spinnefeind sind. Die Witwe Elsa Wagenknecht hat denn auch als Erbin ihres verstorbenen Mannes bald nach dem Kriege die Herausgabe ihrer Aktien verlangt. Als Begründung führte sie an, sie sei Mexikanerin, man könne deshalb ihre Wertpapiere nicht als deutsches Feindvermögen beschlagnahmen.

Vermögensverwalter Townsend in Washington hat das zwar bisher nicht gelten lassen. Immerhin wurde aber eine in Holland als deutsches Vermögen beschlagnahmte Firma des Edmondo Wagenknecht an seine Witwe zurückgegeben.

Hugos Verwandte, die seine Kunstfertigkeit auf dem Gebiet der Finanz-Equilibristik an vielen Beispielen demonstrieren können, halten ihn für den vorausschauenden Initiator der zusätzlichen Ausgabe von 7000 Aktien der Atlantic Assets. Sie vermuten, er wolle jetzt mit Hilfe des Eigentumsanspruchs der mit ihm verbündeten Tante aus Mexiko die Führung des Konzerns wieder an sich reißen. Wahrscheinlich habe er schon vor Jahren mit Onkel und Tante entsprechende Treuhandverträge abgeschlossen.

Tatsache ist, daß Hugo Stinnes den Eigentumsanspruch der Tante gegen den Willen seiner Mutter* unterstützt. Überdies ist er auf der Hazienda der Tante Wagenknecht bei Mexiko-City ein gern gesehener Gast.

Die Entfremdung zwischen ihm und seiner Mutter ist damit vollkommen. Nachdem Frau Cläre ihm im vergangenen Jahr die Kündigung als Teilhaber zustellen ließ, hat Hugo Stinnes nichts mehr mit der Familien-OH zu tun. Sein Kapitalanteil wird ihm im Zuge langwieriger Abwicklungsverhandlungen ausbezahlt oder auf Gegenforderungen angerechnet. Mutter Cläre betreibt mit ihrem Sohn Otto als Geschäftsführer die Familienfirma allein weiter, so daß heute in der Bundesrepublik drei verschiedene Stinnes-Firmen miteinander konkurrieren: die amerikanisch verwaltete Stinnes GmbH, die Familien-OH und der Privatkonzern des Hugo Stinnes.

Als einziges der Kinder besucht Sohn Hugo seine Mutter nicht mehr. Otto dagegen hat zu ihr heute ein herzliches Verhältnis gefunden. Früher war Hugo, nicht zuletzt wegen seiner äußeren Er-' scheinung und - der Wesensgleichheit mit seinem Vater, ihr Lieblingskind. Die unverheiratete Tochter Else betreut die Mutter, Tochter Hilde wohnt in Berlin. Die dritte Tochter, Clärenore, die vor Jahren durch eine Automobil-Weltreise von sich reden machte, ist in Schweden verheiratet.

Hugo Stinnes wünscht zu sehr, sich selbst und später seine Söhne wieder an der Spitze des großen Konzerns zu sehen, als daß ihn die Entfremdung der Familie ernstlich belasten könnte. Fast alle, die mit ihm zusammengearbeitet haben, sagen ihm den gleichen Eigensinn nach, den schon sein Vater besaß.

In der Verwandtschaft geht das Wort um, offenbar habe immer die ganze Kompanie falschen Tritt, nur der Gefreite Hugo marschiere richtig. Sein Gefühlsleben ist vorwiegend von Börsennotizen, Warenpreisen und gelegentlichen brillanten kaufmännischen Einfällen in Anspruch genommen, für die sein Privatkonzern manchmal zu klein erscheint.

Stinnes hat den Kopf immer voller Pläne; er will heute eine Bleistiftfabrik aufmachen und morgen irgendeine Erfindung auswerten. Er mißbilligt es, wenn junge Leute zu sehr auf das Studium der Volkswirtschaft erpicht sind. Volkswirtschaft, das ist seiner Ansicht nach »nur Köpfchen, Köpfchen«.

Der 59jährige betont gern, er habe dem großen Familienkonzern länger vorgestanden, als es seinem Vater vergönnt war. Die heutigen Zwistigkeiten in der Familie führt er im wesentlichen darauf zurück, daß »meine Mutter unter den Einfluß von Leuten geraten ist, die die Dinge nicht mehr so sehen wollen, wie sie in der Vergangenheit geregelt waren«.

Nachdem er vor einiger Zeit eine schiedsgerichtliche Teilung der Vermögens- und Interessengebiete noch ablehnte, plädiert er jetzt selbst für einen großen Aufwasch in der Familie. Er habe aber keine Lust, so zu teilen, wie Bruder Otto es wünsche.

Die Schwierigkeiten einer umfassenden Auseinandersetzung ergeben sich nicht zuletzt aus dem Umstand, daß die Dynastie Stinnes als eine typische Unternehmerfamilie der Gründerzeit auch ihre Geschäftsführung nach innen vorwiegend auf dem Grundsatz von Treu und Glauben aufgebaut hatte - sehr zum Kummer der heute von beiden Seiten engagierten Rechtsanwälte.

Wo in dem straff gegliederten Management anonymer Aktiengesellschaften ausführliche Aktennotizen und Verträge bestimmte Sachverhalte festhalten, gab es im Hause Stinnes meist nur Handzettel.

Nur so ist es auch zu erklären, daß Hugo Stinnes nach dem Ausscheiden aus der Familien-OH im Herbst vorigen Jahres die Millionenforderungen der Hauptgesellschafterin Cläre Stinnes mit einer Gegenrechnung aus seinem Anstellungsverhältnis beantwortete. Vor der Duisburger Kammer für Handelssachen verlangt er von seiner Mutter rückwirkend seit dem Jahre 1913 ein Geschäftsführergehalt, das er im Durchschnitt der letzten Jahre auf 100 000 Mark jährlich veranschlagt.

Zu der Gegenforderung auf ein Geschäftsführergehalt sah sich Hugo Stinnes veranlaßt, als seine Mutter und sein Bruder Otto von ihm mit einer Klage drei Millionen Mark verlangten - eine Forderung, die sich aus seinen Kreditaufnahmen bei der Bank der OH ergeben soll. Um diese Summe fühlen sich seine Verwandten allein dadurch von Hugo übervorteilt, daß er für seine Investitionen bei der Bankabteilung der OH Kredite aufnahm, die er nicht zum normalen, sondern zu einem Vorzugszins beanspruchte, der wesentlich unter den banküblichen Sätzen gelegen habe. In einem weiteren Fall klagen seine ehemaligen Partner auf 1,2 Millionen Mark aus strittigen Kreditgeschäften.

Der Kampf um die Rückgabe oder wenigstens um den Rückkauf des Aktienpakets in den USA wird durch die Aufspaltung der Familie Stinnes nicht eben erleichtert. Im Falle einer Rückgabe müßte wahrscheinlich eine gerichtliche, möglicherweise eine interne schiedsgerichtliche Auseinandersetzung die tatsächlichen Besitzverhältnisse an der 53prozentigen Mehrheitsbeteiligung klären. Für den Fall, daß nur ein Rückkauf in deutsche Hände übrigbleibt, besteht ebensowenig Aussicht auf ein gemeinsames Vorgehen der Familie. Auch um den Rückkauf des nur als Ganzes käuflichen Mehrheitspakets kämpfen zwei streitende Gruppen der Familie, die von Hugo Stinnes einerseits und Otto Stinnes mit der Mutter Cläre andererseits repräsentiert werden.

Hugo Stinnes hat verschiedentlich durchblicken lassen, er sei im Falle einer Rückkaufmöglichkeit entschlossen, auf den ehemaligen Aktienbesitz der Familie mitzubieten. Auf die Frage- nach dem dazu erforderlichen Geld meint er, es sei wohl übertrieben zu behaupten, er besitze keines. In der Tat könnte der Verkauf einiger seiner Kapitalbeteiligungen beträchtliche Mittel erlösen. Darüber hinaus hat der ehemalige Juniorchef offenbar Schweizer Banken in Reserve, die den fehlenden Rest aufbringen könnten.

Den New Yorker Börsenkurs hält Hugo Stinnes allerdings als Grundlage einer Preisfestsetzung für nicht geeignet. Seiner Ansicht nach haben Spekulanten die Kurse Übermäßig hochgeputscht. (Für eine 5-Dollar-Aktie der Stinnes Corporation werden heute 38 Dollar gezahlt gegenüber 21 Dollar vor zwei Jahren.) Wenn er die Mehrheit zurückerwerbe, dann müsse es, wie er sagt, zu einem Preis sein, der »genau wie bei dem Anleihegeschäft im Jahre 1926 ein angemessenes wirtschaftliches Ergebnis des Konzerns gewährleistet«.

Er hegt die Hoffnung, es werde sich im Falle des Rückkaufs »niemand im Ruhrgebiet an der Leichenfledderei des ehemaligen Familienkonzerns beteiligen«.

Stinnes weiß, daß einzelne deutsche Stahlkonzerne, die bei der alliierten Entflechtung ihrer Kohlenbasis beraubt wurden, ein großes Interesse daran haben, auf die Stinnes-Zechen mitzubieten. Mit ihrer Jahresförderung von fünf Millionen Tonnen Kohle zählen die Matthias Stinnes AG und die vor kurzem mit ihr fusionierten Zechen zu den größten Bergbauunternehmen an der Ruhr. Ihr Erwerb würde es beispielsweise den Stahlfirmen Phoenix Rhein-Rohr oder August Thyssen ermöglichen, jährlich Tausende von Tonnen überteuerter amerikanischer Kohle einzusparen.

Bei dem Stapellauf des neuesten Frachtschiffes seiner Transozean Schiffahrtsgesellschaft in Emden ließ Hugo Stinnes keinen Zweifel daran, daß er selbst an die Spitze eines größeren Stinnes-Konzerns zurückstrebt. Reeder Stinnes sagte: »Wir sind zwar noch getrennt von der Kohle, infolge außergewöhnlicher Verhältnisse. Aber wir können nicht anders denken, und wir werden nie anders denken können, als immer mit der Kohle verbunden zu sein.«

Bruder Otto Ist für den- Rückerwerb nicht minder gerüstet. Auf seiner Seite steht nicht nur die Mutter. Sein stärkster Verbündeter ist der Kanzlerberater und Bankdirektor Hermann Josef Abs.

Durch den Abschluß des Londoner Schuldenabkommens und seine Bemühungen um das gesamte beschlagnahmte deutsche Vermögen in den Vereinigten Staaten kennt er den Komplex Stinnes genau. Abs ist es gewesen, der Bundeskanzler Adenauer zu dem Brief an Präsident Eisenhower veranlaßt hat. Hugo Stinnes weiß, daß er mit Abs und der Deutschen Bank, die hinter dem Kanzlerberater steht, »eine potente Gruppe« vor sich hat.

Auf die Seite dieser Gruppe hat sich auch der Generaldirektor Kemper geschlagen, unter dessen Leitung der amerikanische Stinnes-Konzern heute arbeitet. Von einem Sieg der Gruppe Otto Stinnes und Abs im Wettlauf um die Konzernherrschaft verspricht sich Kemper, daß man ihn als Generaldirektor auf seinem Posten belassen wird. Er gibt offen zu, daß er - nachdem er den zerbombten und verschuldeten Konzern in den letzten zehn Jahren wiederaufgebaut hat - nicht altruistisch genug ist, um künftig hinter Hugo den zweiten Mann spielen zu wollen.

Wie der sprunghafte Kursanstieg der Corporation-Aktien beweist, ist im Endstadium der Entwicklung auch in New York das Interesse an dem Aktienpaket stark gestiegen. Börsenjobber und Investmentfirmen der Wallstreet warten nämlich darauf, mit dem Verkauf des ehemals deutschen Majoritätspakets ein lukratives Geschäft machen zu können. Das Bankhaus S. G. Warburg in New York hat für den Stinnes-Konzern an der Ruhr bereits einen sogenannten Break-up-value, einen Ausschlachtungswert veranschlagt, wie er sich ergibt, wenn man die Betriebe auseinanderreißt und sie einzeln an den Meistbietenden verschleudert.

Die endgültige Entscheidung über das Erbe des einstigen Konzerngründers wird schon in den nächsten Tagen fallen. Zwar haben die amerikanischen Senatoren Johnston und Dirksen noch zu guter Letzt in Washington einen gemeinsamen Antrag eingebracht, nach dem die Verkäufe von Feindvermögen sofort eingestellt werden sollen. Bis jetzt aber hat sich die amerikanische Verwaltung für Feindvermögen weder von diesem Antrag noch von den Petitionen Konrad Adenauers - die der Kanzler während seines letzten Besuchs erneut bei Präsident Eisenhower vorbrachte - bremsen lassen.

Die Verkaufsmaschinerie des Dallas S. Townsend läuft. Schlußtermin für die Abgabe von Geboten auf das Aktienpaket vom Delaware ist der 25. Juni.

* Bei den beschlagnahmten Vermögen handelt es sich zumeist um Tochterfirmen deutscher Unternehmen, wie Schering, Lieberknecht und Karl Zeiss. In Zehntausenden von Fällen wurden darüber hinaus Sparkonten, Effekten, Häuser und andere Werte deutscher Staatsbürger beschlagnahmt. Insgesamt beträgt der konfiszierte deutsche Vermögenswert etwa 400 Millionen Dollar. Die amerikanische Regierung hat bisher lediglich erwogen, Vermögen bis zu zehntausend Dollar zurückzuerstatten. Der Stinnes-Komplex ist unter den konfiszierten Werten mit Abstand der größte.

** Fast dreißig Jahre später versuchte sein ältester Sohn Edmund auf ähnliche Weise das Ende des zweiten Weltkrieges abzukürzen. Edmund Stinnes unterbreitete in den ersten Maitagen des Jahres 1945 als Mittelsmann der Berliner Reichsregierung dem englischen Gesandten in Stockholm. Victor Mallet, ein deutsches Friedensangebot, das eine Kapitulation dem Westen gegenüber, aber eine Weiteiführung des Kampfes an der Ostfront vorsah.

* Eine Vermögens-Dachgesellschaft, auch Holding-Gesellschaft genannt, ist kein Fabrikations- oder Handelsunternehmen. Ihre Aufgabe ist es lediglich, einen Fundus - wie etwa den Wertpapierfonds einer Pensionskasse - zu verwalten und jährlich die auf diesen Wertpapierfundus entfallende Dividende auszuschütten.

Nicht Identisch mit der Brenntag« AG Mülheim, die Innerhalb der OH betrieben wird.

* Auch Cläre Stinnes, geborene Wagenknecht, wurde In Amerika - In Uruguay - geboren. Sie erhielt erst durch die Heirat mit Hugo Stinnes senior die deutsche Staatsbürgerschaft.

* Die Restschuld aus der amerikanischen Anleihe von 1926 hat Kemnper durch den Verkauf des Hamburger Hotels »Atlantic« und durch Aufnahme eines Bankkredits von 20 Millionen Mark inzwischen ordnungsgemäß getilgt.

Hugo Stinnes, Bundeskanzler: Famillenzwist ...

..um 87 Millionen: Alleinerbin Cidre Stinnes und Sohn Otto

Konzerngründer Hugo Stinnes mit Familie* zum 1917): Warnung auf dem Totenbett

Edmund Stinnes und Frau (1930): Ranke und Prozesse . . .

... um das Erbe des Vaters: Hugo Stinnes junior und Frau (1933)

Vater Hugo Stinnes Des Assyrerkönigs...

Sohn Hugo Stinnes

... Rasierpinselhaarschnitt ...

Enkel Albert Hugo Stinnes ... wurde Familientradition

Autosportlerin Clärenore Stinnes (1929): Mutter mußte zahlen

Elsa und Edmondo Wagenknecht: Finanz-Equilibristik in Mexiko

Amerikanischer Senator Johnston Das Enteignungsgesetz...

Amerikanischer Senator Dirksen .. . gleicht kommunistischen Praktiken

Amerikas Feindvermögen-Verwalter Townsend Will Stinnes-Aktien verkaufen

Stinnes Corporotion-Geschäftsführer Kemper Mochte Generaldirektor bleiben

* L n r.: Edmund, Ernst, Mutter Cläre, Clarenore, Else, Otto, Vatel Hugo, Hugo junior, Hilde.

Zur Ausgabe
Artikel 1 / 53
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren