Zur Ausgabe
Artikel 56 / 117

Faschismus DIE ALTEN DÄMONEN TANZEN

Nationale Demütigung, Verelendung und Orientierungslosigkeit treiben Menschen in Ost und West dem wieder auferstehenden Faschismus zu. Dessen neue Symbolfigur ist der Russe Schirinowski, dem Deutschland jetzt die Einreise verweigerte, nachdem bereits die Bulgaren ihn des Landes verwiesen hatten.
aus DER SPIEGEL 1/1994

Von Wunderwaffen, die alles wenden würden, träumte Hitler erst, als das Ende seiner Macht nahte und sein Tausendjähriges Reich unterging. Hätte er sie tatsächlich gehabt, wäre wohl das Ende der Welt angebrochen.

Von Wunderwaffen, welche die Welt vernichten können, phantasiert nun ein anderer Führer bereits, bevor er die Macht hat. »Elipton« nennt der Russe Wladimir Schirinowski »Strahlenkanonen«, über die sein Land verfüge, ohne daß der Westen davon wisse.

Ein größenwahnsinniger Narr, dieser »lachende Faschist« (Newsweek), der die »Wodka-Wahlen« gewann, wie das Wall Street Journal höhnte, weil er dem Volk billigen Schnaps versprach?

Ein durchtriebener Populist, der wie ein Wirbelwind durch Rußland fegte, dann deutsche, österreichische und balkanische Gesinnungsgenossen mit einem Blitzbesuch beehrte, Unsägliches zuhauf absonderte und nach der Visumsverweigerung des Bonner Auswärtigen Amtes fluchend nach Hause entschwand, wo seine Tiraden bereits politische Früchte tragen?

Oder vielleicht doch, wie er selbst bombensicher verkündet, der nächste Präsident der zweitstärksten Nuklearmacht, der auch ohne mysteriöses »Elipton« imstande wäre, die Welt in Flammen aufgehen zu lassen?

Jedenfalls ist er schon jetzt ein Alptraum für die Nachbarn - und womöglich bald ein neuer Hitler, nur dank des Großmachtarsenals hundertmal gefährlicher als das deutsche Original, von dem er mal mehr, mal weniger hält: Dessen Lösung der Judenfrage schwebt ihm als beispielhaft für den Umgang mit eigenen Minderheiten vor, aber mit dem Braunauer verglichen werden möchte er lieber nicht: »Der war ein ungebildeter Gefreiter, ich war Offizier, habe zwei Diplome und spreche vier Sprachen.« Sein Programm definiert er als »Nationalsozialismus minus Hitlerismus«.

Die Wiederkehr des Undenkbaren scheint durchaus möglich in dieser aus den Fugen geratenen Welt, auf der zur Jahreswende 43 Kriege wüten, darunter ein barbarisches Gemetzel auf dem Balkan ohne jede Aussicht auf ein Ende. Europa zumal erlebt einen »starken Pendelausschlag in Richtung Chaos«, wie das Londoner Institut für Strategische Studien feststellt - und das nur vier Jahre nachdem 1989 die Freiheit über den Totalitarismus triumphiert hatte.

Manche wähnten damals schon das Ende der Geschichte gekommen. Wie in einer Zeitmaschine rollt die Geschichte statt dessen rückwärts, überschatten die Greuel einer längst bewältigt gewähnten Vergangenheit Europas Gegenwart und verdüstern die Zukunft. »Die technologische und ökonomische Integration der modernen internationalen Gesellschaft trifft zusammen mit nationalistischen Konflikten primitivster Art«, beschreibt der Amerikaner William Pfaff in seinem neuen Buch »Die Wut der Nationen« das Phänomen.

Da nehmen jählings auch völkervergiftende, nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandete Ideen wieder Gestalt an, die Europa vor einem halben Jahrhundert in den Abgrund stürzten. Der Faschismus droht aus historischer Asche wieder aufzuerstehen - und erlebte 1993 sein »erfolgreichstes Jahr«, so der Heidelberger Wissenschaftler Micha Brumlik.

Haßideologien füllen jenes Vakuum, das der Selbstmord des Kommunismus und die Orientierungskrise des Kapitalismus hinterlassen haben. »Die alten Dämonen tanzen auf den Gräbern«, schrieb der Historiker Michael Stürmer. Fürst Karl Schwarzenberg, Ex-Kanzleichef des tschechischen Präsidenten Vaclav Havel, empfand »manche Gespräche mit Osteuropäern als Zeitreise in die Vergangenheit«.

Der Rückfall in Nationalismus, ja in Tribalismus ist die Rache von Völkern, deren Instinkte in der bipolaren Welt durch die Machtblöcke lange unterdrückt wurden. Angetrieben von materieller Not und sozialem Verfall, staut sich ein wachsendes Aggressionspotential Zukurzgekommener aller Art auf. Armut und nationale Demütigung, Verzweiflung und Wut beschwören alte Erbübel herauf - Haß auf alles Andersartige, Fremde, Ausländer, Drohgebärden gegen schwächere Nachbarn, Unterdrückung von Minderheiten.

So ist auch der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln wieder möglich geworden, ohne daß die Aggression dort, wo die Menschen nicht direkt darunter leiden, höchsten Alarm auslösen würde. Auf dem Balkan, eine knappe Flugstunde von München entfernt, wütet der Terror seit nunmehr zweieinhalb Jahren. Zu Karikaturen verkommene Friedensvermittler, von den rat- und hilflosen Vereinten Nationen, der Europäischen Union wie den USA entsandt, berufen immer neue Konferenzen ein und müssen sich doch mit den auf dem Schlachtfeld geschaffenen Fakten abfinden. Die humanitäre Hilfe, die sie leisten, ähnelt immer mehr einer Letzten Ölung für die zivilen Opfer.

Kein Wunder, daß angesichts solchen Versagens und einer gegenüber allen drängenden Herausforderungen überforderten Politik die Rattenfänger aufspielen und die »schrecklichen Vereinfacher« der Geschichte (Carl Jakob Burckhardt) mit ihren eindimensionalen Antworten wieder die Massen betören.

Der Faschismus hat seine Chance, und er nutzt sie. Die Chronik rechtsextremer Triumphe anno 1993 ist beeindruckend: 44 Prozent der Stimmen für die Duce-Enkelin Alessandra Mussolini in Neapel, Briefbomben von Neonazis in Österreich, SS-Veteranenaufmärsche im Baltikum und in der Ukraine, meuchelnde Ausländerhasser in Deutschland, Großungarn-, Großalbanien- und Großrumänien-Propagandisten auf den Spuren der Großserbien-Führer auf dem Balkan, eine offene Faschisten-Renaissance von Kroatien bis zur Slowakei.

Und als Krönung schließlich im Dezember der schockierende Wahlerfolg des so jäh aus der Obskurität aufgetauchten Schirinowskis in Moskau, begeistert bejubelt von seinem französischen Gesinnungsgenossen Jean-Marie Le Pen, der dem Russen zum »glänzenden Erfolg« gratulierte: »Überall in Europa erheben sich die Völker und fordern ihre Würde und Identität zurück.«

Le Pens Landsmann, dem Politologen Thierry de Montbrial, schwant Düsteres ob des seltsamen Heilsverkünders aus dem Osten: »Das Anwachsen des Nationalismus, gar des Faschismus in Rußland könnte in Europa Egoismus, Ausländerfeindlichkeit und Haß zu den dominierenden Tendenzen der letzten Jahre dieses Jahrhunderts werden lassen.«

Als ob es nicht schon so weit wäre. Der »Rückfall in die Barbarei« (Neue Zürcher Zeitung) ängstigt selbst gestandene Konservative. CSU-Generalsekretär Erwin Huber verlangte nach der vorweihnachtlichen Visite Schirinowskis bei seinem neonazistischen deutschen Freund Gerhard Frey einen weltweiten Kampf gegen die »rechtsextremistische Internationale«. Und Jürgen Rüttgers, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, warnte: »Da in der Geschichte den Taten immer die Worte vorausgingen, ist Gefahr im Verzug.«

Wenn es nach den Worten des Hetzers Schirinowski ginge, dräute höchste Gefahr. Was wie Narretei aussehen mag und dem Senkrechtstarter aus dem Geheimdienstmilieu den Ruf eines Politclowns eintrug, folgt durchaus einer monströsen Logik und schürt den Verdacht, daß einer, der so redet, auch entsprechend handeln würde, hätte er die Macht dazu.

Im österreichischen Kärnten, wo er einen »alten Freund« besuchte, der sich als volksdeutscher SS-Freiwilliger mit ungebrochen nazistischem Gedankengut entpuppte, prahlte er nicht nur mit geheimen Superwaffen. Rußlands Armee, so sein freundliches Angebot, könnte zum Schutz Serbiens und auch Österreichs zu Hilfe eilen, falls die Türken in den Bosnienkrieg eingriffen. Die Türkei selber, die ihn einst als Agenten festsetzte, zählt er nebst Iran und Afghanistan ohnehin zum übergroßen Rußland seiner Träume.

In Wien, das »Hauptstadt Europas« von seinen Gnaden werden könnte, ließ er keinen Zweifel daran, daß er Rußlands nächster Präsident sein wolle. Den kranken alten Jelzin könne man bald vergessen.

Bulgarien, seine nächste Station, beglückte er mit einem neuen Staatschef seiner Wahl, seinem »Berater« Swetoslaw Stoilow, einem in Österreich lebenden Exilbulgaren, mit dem das Land besser dran wäre als mit der Übergangsfigur, die jetzt im Amt sei.

Präsident Schelju Schelew schäumte: »Im Delirium gestammelte Äußerungen eines nichtigen Politikers, der sich in die inneren Angelegenheiten Bulgariens einmischen will«, so der Staatschef über die Unverschämtheiten des im Ausland genau so hemmungs- und verantwortungslos wie daheim herumpolternden Russen. »Politischen Kretinismus« ortete eine Sofioter Zeitung beim Gast, bevor er des Landes verwiesen wurde.

Schirinowskis Verbalradikalismus übertrifft erprobtes Terroristen-Vokabular wie das von Libyens Gaddafi oder Iraks Saddam Hussein bei weitem.

Den Litauern droht er mit dem Verbrennen atomaren Abfalls an der Grenze; die Strahlung solle mit riesigen Ventilatoren hinübergeblasen werden, »bis sie entweder sterben oder vor uns auf die Knie sinken«. Für die 900 000 Esten reiche ein »Stadtstaat Tallinn« nach dem Beispiel Monacos völlig aus.

Den bulgarischen Präsidenten schmähte er zum Abschied als »Abschaum«, die Rumänen sind für ihn ein »Zigeunervolk«. Den Japanern, die von Rußland die Südkurilen zurückhaben wollen, winkte er mit einer Neuauflage Hiroschimas, den Deutschen mit Tschernobylisierung oder Aufstockung der noch verbliebenen russischen Truppen auf eine Million Mann.

Mal bedauerte er ein Deutschland, in dem »Neger« frei auf der Straße herumliefen und die Türken das Sagen hätten, mal bescheinigt er den Deutschen, daß sie ihre Türken ja verbrennen würden. Am liebsten hätte er das alte Preußen wieder, natürlich mit einer gemeinsamen Grenze ohne die lästigen Polen.

Von Amerika, das der Welt »bloß Kaugummi und Aids« beschert habe, hält er nicht viel, um so mehr vom bösen Feind der USA, Iraks Saddam Hussein. Dem schickte er eine Handvoll Freiwillige in schwarzem Barett zum Beistand gegen »US-Imperialismus«. Außerdem sprach er dem Freund das Öl-Emirat Kuweit wieder zu.

»Die Menschen haben auch Mussolini anfangs nicht ernst genommen, ja nicht einmal Hitler«, warnte die New York Times vor dem Schwadroneur. »Hitler war ja nur so ein komischer kleiner Kerl, und die Deutschen waren doch ein Kulturvolk, das niemals zuließe, daß er seine barbarischen Drohungen wahrmachte.« Schirinowski und seine Partei seien jedenfalls nichts, was sich ignorieren oder verdrängen lasse: »Sein Wahlsieg stellt die gefährlichste Entwicklung in Europa seit langer Zeit dar.«

Um so mehr, als der Aufstieg des Russenführers Gesinnungsgenossen überall anspornte, speziell in Deutschland, dessen Neonazis schon länger die Verbindungen zu russischen Faschisten pflegen und nun gern die unverhoffte Publizität an deren Seite nutzen.

Nicht nur bezog der rechtsextreme Führer der »Deutschen Volksunion«, Frey, neuen Schwung aus dem Erfolg seines »Freundes«. Noch schlimmere Neonazis verbanden sich mit dem Russennazi Alexander Barkaschow, dessen nach SA-Manier organisierten und bewaffneten Gefolgsleute beim Moskauer Oktoberputsch mitschossen. Braune Pamphlete für deutsche und österreichische Unverbesserliche werden in Rußland, aber auch in der Ukraine oder baltischen Ländern gedruckt.

Denn auch bei diesen abtrünnigen Nachbarn treiben Neofaschisten ihr Unwesen, zuweilen im Bund mit den russischen Genossen, meistens aber in erbitterter Feindschaft zu diesen. In Kiew und auf der Krim demonstrierten Schirinowski-Anhänger für den Wiederanschluß an Rußland. Der Haß ukrainischer Nationalisten hingegen richtet sich ebenso wie der von Gesinnungsgenossen im Baltikum gegen die russischen, aber auch jüdischen Fremdlinge auf eigener Scholle.

Veteranen einstiger Hilfstruppen Hitlers, darunter verurteilte Kriegsverbrecher, bilden eigene Verbände, deren Einfluß weit in die Streitkräfte reicht. SS-Uniformen, Eiserne Kreuze und Hakenkreuze werden stolz vorgezeigt. In Lettland kam eine neofaschistische Partei unter dem deutschbaltischen Rechtsextremisten Joachim Siegerist bei Parlamentswahlen auf den zweiten Platz.

In der Ukraine, wo die sozialen und politischen Verhältnisse nach Veränderungen schreien, hat die rechtsradikale »Union ukrainischer Offiziere« 50 000 Mitglieder. Eine faschistische »Ukrainische Nationalversammlung« schickte Freiwillige nach Moldawien und Georgien und strebt einen »Slawischen Staatenbund« mit Hauptstadt Kiew an.

Ukrainische Nationalisten wollen Heimaterde aber nicht nur gegen russische Chauvinisten verteidigen, sondern auch gegen Großrumänien-Phantasien des südlichen Nachbarn. Denn dort möchten Patrioten nicht nur Moldawien heimholen, sondern auch die zu Stalins Zeiten an die Sowjetunion verlorene Nordbukowina und Süd-Bessarabien.

Immerhin hat das offizielle Rumänien bereits seinem faschistischen Diktator und Judenverfolger aus der Zeit des Bündnisses mit Hitler, Marschall Ion Antonescu, ein Denkmal setzen lassen.

Angesichts der tristen Gegenwart einer zur Kiosk-Wirtschaft verkommenen Ökonomie und einer ungewissen Zukunft wenden sich die nach dem großen Umbruch von 1989 allein gelassenen Völker ihrer Vergangenheit zu. Und die ist düster: In der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren sie, von den Tschechen abgesehen, allesamt nicht in demokratisch-freiheitlichen Ideen verwurzelt, sondern lebten in autoritären, mehr oder minder faschistoiden Staatswesen. Dazu kamen bis heute unbewältigte Probleme ihrer Staatswerdung.

Der aus den Trümmern der k. u. k. Monarchie entstandene Südslawenstaat hatte unter den dominierenden Serben ebenso viele Minderheiten in seinen Grenzen wie das an seinen nationalen Zwisten zugrunde gegangene Habsburger Reich. Jugoslawien zerbrach daran jetzt - sieben Jahrzehnte später.

Tschechen und Slowaken bekamen nach dem Ersten Weltkrieg ihren Staat, samt starken deutschen und ungarischen Bevölkerungsgruppen. Auch für sie schlug die Stunde der Wahrheit erst jetzt, mit der Aufteilung in eine Republik der Tschechen und eine der Slowaken. Letztere ist noch immer mit dem ungarischen Minderheitenproblem beschwert, das nationalistische Tendenzen und ethnische Gegensätze anheizt.

Um unparteiische Berichterstattung darüber zu verhindern, will die Regierung ab Ende Januar die Ausstrahlung der slowakisch-sprachigen Programme von Radio Freies Europa über die Mittelwellensender des Landes verhindern. Das eigene Radio- und TV-Programm wurde längst unter Kuratel gestellt.

Die Slowaken verehren den Präsidenten ihres kurzlebigen Staates von Hitlers Gnaden, den 1947 hingerichteten Prälaten Josef Tiso, als Märtyrer und unterdrücken die ungarische Minderheit nach alter Art. Die wiederum, einst das Herrenvolk in »Oberungarn«, wie die Slowakei zu k. u. k. Zeiten hieß, wendet sich dem nahen Mutterland zu und wird, ebenso wie die ungarische Minderheit in Rumänien, in der Ukraine und im ehemaligen Jugoslawien, von Großungarn-Nostalgikern bereitwillig vereinnahmt.

Der im Dezember verstorbene Regierungschef Antall bekräftigte bald nach seinem Amtsantritt, er fühle sich als »Premier in den Herzen von 15 Millionen _(* Im Versailler Lustschloß Trianon wurde ) _(1920 die östliche Reichshälfte der k. u. ) _(k. Monarchie neu geordnet. ) Ungarn« - obwohl nur gut 10 Millionen innerhalb der Landesgrenzen wohnen.

Ungarn und sein Drang zu faschistoider Tradition ist ein trauriger Paradefall für die These des Jerusalemer Historikers Schlomo Avineri, wonach »die beste Vorhersage für die Zukunft aller postkommunistischen Länder die Vergangenheit ist«.

Die Magyaren waren neben den Polen Wegbereiter der friedlichen Revolution in Osteuropa. Die letzte Regierung vor der Wende unter dem jungen Premier Miklos Nemeth unterschied sich kaum von einer demokratischen. Es herrschten Presse-, Versammlungs- und Reisefreiheit. Reformkommunistische Politiker wie Imre Pozsgay und Außenminister Gyula Horn öffneten gegen den zornigen Protest der Ost-Berliner Betonköpfe um Erich Honecker die Grenze für flüchtende DDR-Bürger.

Ungarn, schon unter dem Altkommunisten Kadar auf dem Weg zur Marktwirtschaft, schien von allen einstigen Blockländern die Nase vorn zu haben auf dem Marsch in eine Gesellschaft nach westlichem Muster.

Es hat den Vorsprung schon verspielt. Auch in diesem einstigen Musterland demokratischen Fortschritts entwickelt sich die Geschichte rückwärts. Die mit nur einem Viertel aller Wahlberechtigten gewählte Regierung der Mitte driftete unter Antall nach rechts.

Ein einstiger Informant des kommunistischen Geheimdienstes namens Istvan Csurka wetterte mit faschistischem Vokabular so lange gegen jüdisch-kosmopolitisch-kapitalistische Verschwörungen, die das heilige Ungarntum bedrohten, bis Antall angesichts des vernichtenden internationalen Echos nicht anders konnte, als den Extremisten aus der Regierungspartei hinauszuwerfen.

Das Gift aber hatte schon gewirkt: Mit Brachialgewalt säuberte Ungarns Regierung Fernsehen und Rundfunk von allen Andersgesinnten und läßt in den elektronischen Medien allein noch die rechte Meinung gelten. Nach Antalls Krebstod kam Innenminister Peter Boross an die Macht, ein Mann von stramm rechter Gesinnung. Für ihn haben »Journalisten die Pflicht, durch gute Nachrichten das elementare Bedürfnis der Bürger nach Ordnung und Stabilität zu befriedigen«. Führungskräfte müßten »hart durchgreifen können«.

Sein Vorbild ist Ferenc Keresztes-Fischer, der als Innenminister unter dem mit Hitler verbündeten Reichsverweser Admiral Horthy diente. Als dessen Gebeine im vorigen September aus portugiesischem Exil heimgeführt und unter der Anteilnahme von 50 000 Trauernden wiederbestattet wurden, saß Innenminister Boross in der ersten Reihe. Vor Kränzen, auf denen Blumengestecke das einstige Großungarn darstellten, lauschte er der Siebenbürger-Hymne, die das an Rumänien verlorene Land »nie aufgeben« möchte.

Ungarns Rechtsextremisten, die in dem liberalen Staatspräsidenten Arpad Göncz einen »Landesverräter« sehen, sind in einem Trauma gefangen, das einst die Weimarer Republik zerstörte und das heute auch in Rußland dem Faschismus den Weg bereitet: Für Weimar war es der »Schandvertrag« von Versailles, in Moskau ist es der Zusammenbruch des Sowjetimperiums, bei den Ungarn Trianon.

Nach der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs, als auf den Trümmern der k. u. k. Monarchie »alle Völker ihre dreckigen kleinen Staaten errichteten« (so der altösterreichische Romancier Joseph Roth), verlor Ungarn im Friedensvertrag von Trianon 71 Prozent seines Territoriums und 64 Prozent seiner Bevölkerung.

Rumänien schnappte sich einen Happen vom Nachbarn, der größer war als das ganze Land, das den Magyaren verblieb. Den Rest teilten sich die Tschechoslowakei und Jugoslawien; sogar Österreich bekam noch einen Streifen. Ungarn büßte nicht nur fremde Völker ein, die unter seiner Herrschaft gestanden hatten, wie die Kroaten. Auch über drei Millionen Landsleute blieben außerhalb der neuen Grenzen.

»Es gibt kein Beispiel in der neuzeitlichen Geschichte für eine derartige Zerstückelung eines Kulturlandes nach verlorenem Krieg«, wurde in einem revisionistischen Geschichtsbuch der dreißiger Jahre geklagt. Der exilungarische Autor Denis Silagi schrieb, die Amputation habe einen »leidenschaftlichen, explosiven Irredentismus« unter den Magyaren ausgelöst. Und der zeigt seine negativen Auswirkungen bis in die Gegenwart.

Solch völkerverderbende Nationalismen stacheln derzeit auf dem Balkan einander auf - bis zu offenem Krieg. Serbenführer Slobodan Milosevic, ein Nationalsozialist verbohrtester Sorte, ist willens, bis zum Ende für sein Großserbien zu kämpfen, das doch mit all seinen geknechteten Minderheiten keinen Frieden finden kann und wirtschaftlich längst am Boden liegt.

»Serbien ist der erste faschistische Staat in Nachkriegseuropa«, stellte der greise Partisanen-Veteran und Dissident Milovan Djilas fest. »Das schlimme Beispiel Jugoslawien hat auf dem Balkan das Böse geweckt«, urteilte die New York Times.

In Polen beschwört Präsident Lech Walesa das Angedenken des Marschalls Pilsudski, der vor über 70 Jahren die Russen 250 Kilometer nach Osten zurückwarf und Vilnius den Litauern entriß - die nun vom Nachbarn eine späte Entschuldigung für diese Missetat fordern.

Baltische Chauvinisten mühen sich nach Kräften, den Russen jenes Unrecht heimzuzahlen, das Stalin ihnen einst antat. Das Bedürfnis nach historischer Abrechnung ist idealer Nährboden für neuen Faschismus und neue Konflikte am Rande des verbliebenen russischen Reiches.

Das verlorene Imperium aber will der nach eigener Einschätzung zum Führer geborene Schirinowski wiederherstellen, so wie die rote Rekonquista in den Jahren des Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution 1917 die abgefallenen Teile zurück ins Reich zwang.

Nationale Erniedrigung, Enttäuschung über ein bislang unfähiges Parlament, das meist mit sich selbst beschäftigt war, Erbitterung gegen einen Kapitalismus, der bislang kaum Unternehmer, sondern nur Dealer, Spekulanten und Mafiosi hervorbrachte, Inflation und Verelendung trieben die Stimmen der Russen dem einzigen Kandidaten zu, der die Volksnöte offen artikulierte und simple Lösungen wie das standrechtliche Erschießen von hunderttausend Kriminellen versprach.

»Die Geschichte hat Rußland nie mit demokratischer Kultur verwöhnt«, suchte der Nestor der amerikanischen Historiker, Arthur Schlesinger, in einem Essay über »Die langen Schatten des Faschismus« den Hang der Russen zu starken Männern zu erklären. »Die russischen Massen sind Despotismus gewöhnt, ob den von Zaren oder Kommissaren, und sie haben Angst vor der Freiheit.«

Schirinowski hat große Teile der Armee hinter sich, das mächtige Management der Rüstungsindustrie, die er zu neuer Blüte bringen will, und die erniedrigten »Russiten«, geistige Erben der Panslawisten-Bewegung aus der Zarenzeit, die mit den sogenannten Schwarzen Hundert schon zu Beginn des Jahrhunderts eine gewalttätige faschistische Organisation geschaffen hatten.

Der neue Führer kann, obwohl ihm ein altes Mütterchen in der Kirche erst das Kreuzschlagen beibringen mußte, in vielem auch auf die Orthodoxe Kirche bauen, die es stets mit den Großrussen gleich welcher Couleur hielt und ausländische Einflüsse als Teufelswerk verabscheut. Selbst der heimkehrwillige Leidensdichter Alexander Solschenizyn ist mit seiner russischen Mystik nicht allzuweit vom Ideengut des neuen Heilsbringers entfernt.

Schon läßt sich die russische Regierung von den Extremisten die Richtung vorschreiben. »Rußland spielt die Schirinowski-Karte«, kommentierte die International Herald Tribune Warnungen Moskaus vor einer Ost-Ausdehnung der Nato, die, so Jelzins Außenminister Kosyrew, dem Schirinowski-Lager »noch mehr Nationalisten zutreiben könnte«.

Faschismus, schreibt der Historiker Walter Laqueur in seinem Buch »Der Schoß ist fruchtbar noch« über russischen Rechtsextremismus, »braucht immer einen Führer, um zu siegen«. In Rußland hat er nun einen, der davon überzeugt ist, daß »das 21. Jahrhundert unser sein wird«.

So könnte es noch dazu kommen, daß aus dem auf jene Grenzen zurückgeworfenen Rußland, die Peter der Große vor 300 Jahren vorfand, bald eine neue Losung in die Welt hinausdröhnt - nur leicht abgewandelt von der weltrevolutionären Parole Lenins und Stalins: »Faschisten aller Länder, vereinigt euch!« Y

* Im Versailler Lustschloß Trianon wurde 1920 die östlicheReichshälfte der k. u. k. Monarchie neu geordnet.

Zur Ausgabe
Artikel 56 / 117
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren