ERINNERUNGSKULTUR »Die anderen Russen«
Kittel, 47, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg.
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SPIEGEL: Herr Kittel, Außenminister Guido Westerwelle lehnt eine Aufnahme der CDU-Politikerin Erika Steinbach in Ihren Stiftungsrat ab, der Bund der Vertriebenen beharrt darauf, dass seine Präsidentin berufen wird. Sehen Sie eine Lösung?
Kittel: Wir warten auf eine weise Entscheidung der Politik. Die sollte so rasch wie möglich kommen. Per Gesetz ist geregelt, wer die Stiftungsratsmitglieder beruft, nämlich das Kabinett. Ich muss dann mit dieser Lösung leben, egal wie schwierig die Vorgeschichte war, egal ob ich damit sehr glücklich bin oder weniger glücklich.
SPIEGEL: Belastet die Steinbach-Debatte nicht das Vorhaben, eine Ausstellung über Flucht und Vertreibung aufzubauen?
Kittel: Natürlich ist diese Kontroverse nicht von Vorteil, vor allem in der Gründungsphase. Deshalb haben wir in den vergangenen Monaten verstärkt nach innen gearbeitet. Wir haben einen wissenschaftlichen Beirat berufen, auch mit Experten aus Polen, Tschechien und Ungarn. Wir werden Kuratoren einstellen, die mit mir die Ausstellung konzipieren sollen, und wir wollen schon 2010 mit Veranstaltungen zum Thema Flucht und Vertreibung starten.
SPIEGEL: Der polnische Historiker Tomasz Szarota hat als wissenschaftlicher Beirat zurückgezogen - er beklagt das Konzept Ihrer Einrichtung sowie die personelle Zusammensetzung der Stiftungsgremien.
Kittel: Der Rückzug von Herrn Szarota ist ein merkwürdiger Vorgang. An dem von ihm kritisierten Konzept hat sich ja kein Jota geändert, seitdem er im Juli die Berufung in den Beirat angenommen hat. Und auch die Zusammensetzung der Gremien ist seitdem im Wesentlichen gleich geblieben. Die Stiftung bleibt natürlich weiterhin daran interessiert, dass auch ein polnischer Historiker in unserem internationalen Beratergremium mitwirkt.
SPIEGEL: Der Bund der Vertriebenen hat angedroht, sich komplett aus dem Stiftungsrat zurückzuziehen. Könnte das ganze Projekt noch scheitern?
Kittel: Davon gehe ich nicht aus, dazu ist das Ganze als staatliches Projekt zu weit fortgeschritten. Sollte der von Frau Steinbach beanspruchte Sitz zunächst unbesetzt bleiben, wäre davon die Handlungsfähigkeit des Gremiums rein rechtlich nicht beeinträchtigt. Der Stiftungsrat ist gesellschaftlich breit aufgestellt, mit Vertretern aus der Politik und aus den Konfessionen. Allerdings wäre es einigermaßen abwegig, das Projekt gegen den Widerstand der Vertriebenenverbände voranzutreiben.
SPIEGEL: Es gibt Überlegungen, ob Ihre Stiftung für das Dokumentationszentrum in Berlin zusätzliche Gelder erhalten soll, wenn sich Erika Steinbach zurückzieht ...
Kittel: ... ich will mich an derartigen Spekulationen nicht beteiligen. Jeder Leiter einer Institution würde es begrüßen, wenn seine Einrichtung zusätzliche Mittel bekäme. Das Zentrum ist wichtig für die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik.
SPIEGEL: Die Polen, aber auch andere Osteuropäer fürchten, dass die deutsche Schuld relativiert wird - mit einem Vertriebenen-Dokumentationszentrum nahe dem Holocaust-Mahnmal.
Kittel: Wir versuchen, die Sorgen der Nachbarn bei unserer Arbeit zu berücksichtigen. Die künftige Dokumentation schreibt ja nicht die Geschichte um und verwischt auch nicht historische Ursachen und Zusammenhänge. Hier wird nichts relativiert. Die geplante Dauerausstellung soll zudem das Geschehen in ganz Europa thematisieren. Darüber hinaus ist etwa in Wechselausstellungen ein Blick auf Flüchtlingsbewegungen weltweit geplant.
SPIEGEL: Warum braucht die Bundesrepublik überhaupt eine zentrale Dokumentation? Das Thema findet sich in diversen Ausstellungen, an Büchern und Filmen ist auch kein Mangel.
Kittel: Das ist erst in jüngster Zeit so, nicht zuletzt angeregt durch die Diskussion um das Zentrum. Davor gab es erhebliche Defizite. Zeitweise mussten sich Vertriebene in der Bundesrepublik ein zweites Mal vertrieben fühlen - diesmal aus dem öffentlichen Gedächtnis. Die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft bewahrte Distanz gegenüber den Vertriebenen und ihrer Erinnerungskultur. Manche Kritiker sprechen sogar von einer gewissen Ghettoisierung.
SPIEGEL: Wann soll das gewesen sein? Vertriebenen-Tage hatten früher viel mehr Bedeutung als heute, und an Bekenntnissen von Politikern hat es nie gemangelt.
Kittel: Na ja, es gab diese Bekenntnisse, nicht selten waren sie aber halbherzig. Den meisten Menschen galt der Verlust der Ostgebiete nicht ohne Grund als historischer Preis, den man für die furchtbaren Dinge zu zahlen hatte, die im deutschen Namen und von Deutschen selbst angerichtet worden waren. Deshalb wollte niemand an dem Unrecht der Vertreibung rühren. Die Vertriebenen taten es aber. Zwischen der Schwierigkeit, sich mit den Nazi-Verbrechen zu befassen, und dem Desinteresse an den Vertriebenen besteht ein Zusammenhang. Manche sehnten sich womöglich nach einem doppelten Schlussstrich.
SPIEGEL: Die Integration der Vertriebenen galt lange als eine der großen Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik.
Kittel: Eine Erfolgsgeschichte gewiss, jedoch mit erheblichen Abstrichen, denn die Versöhnung nach innen funktionierte nicht von Anbeginn so gut. Da lief vieles gründlich schief. Es ist kein Zufall, dass etliche Vorurteile, die gegenüber Slawen bestanden, nach 1945 auf die Vertriebenen übertragen wurden - auch in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. Die Vertriebenen, das waren dort vielfach »die anderen Russen«.
SPIEGEL: Kann das Zentrum solche Wunden heilen?
Kittel: Die Vertriebenen haben für die Verbrechen des »Dritten Reichs« einen höheren Preis entrichtet als der nichtvertriebene Teil der Deutschen. Diese Tatsache sollte die Bundesrepublik würdigen. Und wir sollten uns besser in Erinnerung rufen, wie stark der deutsche Osten unsere Kultur geprägt hat, als produktive Trauerarbeit, gemeinsam mit den Menschen, die nun in diesen Gebieten wohnen.
INTERVIEW: JAN FRIEDMANN,
HANS-ULRICH STOLDT