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STASI »Die Angst ist noch da«

Ein Pfarrer outet einen früheren Spitzel, der sich im Auftrag der Stasi sogar taufen ließ: Ein Rechtsstreit in Sachsen zeigt exemplarisch, wie die Geschichte des DDR-Unrechts weiterwirkt.
aus DER SPIEGEL 15/2008

Jeden Tag«, sagt Dieter Kießling, »jeden Tag gehe ich an dieser Figur vorbei.« Er schreitet über den Platz vor dem Rathaus von Reichenbach, ein paar Leuten nickt er grüßend zu, dann hat er die Figur erreicht. Es ist ein Mann, dessen halbes Gesicht von einer Maske - einem Schafskopf - verdeckt wird. Geschaffen hat diese Skulptur der Leipziger Bildhauer Wolfgang Mattheuer. Sie heißt »Gesicht zeigen«.

Kießling, 57, ist Oberbürgermeister von Reichenbach im sächsischen Vogtland, und er meint, es sei wieder Zeit, Gesicht zu zeigen. »Wofür«, fragt er, neben der Skulptur stehend, »sind wir denn 1989 auf die Straße gegangen?«

So aufgewühlt wie jetzt seien die Leute in Reichenbach schon lange nicht mehr gewesen, sagt Kießling. Er selbst ist empört über die Geschichte, die in seinem Rathaussaal ihren Ursprung nahm und im fernen Berlin eine Debatte darüber auslöste, wie es mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte wohl weitergehen soll. Wie in einem Lehrstück von Bertolt Brecht wird in Reichenbach derzeit vorgeführt, wie Unrecht fortwirkt - und dass Geschichte nicht endet.

Es geht um einen Pfarrer, der einen früheren Stasi-IM öffentlich beim Namen nennt, dessen Spitzelberichte zu Festnahmen führten, um einen Rechtsanwalt mit Parteibuch der Linken, dem das Wort »Pogrom« leichtfertig über die Lippen kommt - und ein Gericht, das die öffentliche Namensnennung des Täters vorläufig verboten hat. Es ist diese Mischung, die den Fall zum Fanal in Sachen Aufarbeitung macht.

Sollte sich der einstige IM durchsetzen, fürchtet die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, große Probleme für die Beschäftigung mit der DDR-Geschichte. Wolfgang Thierse (SPD) mahnt: »Wir müssen die Dinge doch im wahrsten Sinne des Wortes beim Namen nennen können.« Aber hat nicht auch ein langjähriger Spitzel, dessen Taten fast 20 Jahre zurückliegen, das Recht auf eine Art Verjährung?

Der Rathaussaal war voll am 27. Februar, als die Auseinandersetzung begann. Es redete Edmund Käbisch, früher Domprediger in Zwickau, ein mutiger Mann, den die Staatssicherheit ins Visier nahm und der sich seit dem Herbst 1989 um Aufklärung bemüht. Die »Zersetzungsmaßnahmen« haben bei Käbisch Spuren hinterlassen. Er wirkt oft nervös, blickt um sich, als wären die Häscher noch hinter ihm her. Mit Schülern hatte er eine Ausstellung zum Thema »Christliches Handeln in der DDR« gestaltet, die an diesem Tag im Rathaus eröffnet werden sollte. Käbisch, 64, stand vorn am Video-Beamer. Ein Schaubild nach dem anderen projizierte er an die Wand, auch jenes über den Inoffiziellen Mitarbeiter »Schubert«. Auf dem Bild stand dessen Klarname.

Vortrag und Diskussion waren vorbei, da ging ein freundlicher Herr auf den Oberbürgermeister zu und erklärte, er sei jener IM »Schubert« gewesen: S., 46, soll Kießling später auch informiert haben, dass viele frühere Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit im Raum gewesen seien. »Es ist gespenstisch«, sagt Kießling, fassungslos über das Selbstbewusstsein, mit dem der einstige Spitzel auf ihn zugegangen war.

Der Auftritt im Rathaus war nur der Anfang. Am 7. März traf in Kießlings Büro der »Erlass einer einstweiligen Verfügung« des Landgerichts Zwickau ein. Das hatte entschieden, es sei vorläufig verboten, den Namen des Ex-Spitzels öffentlich zu nennen, endgültig wird es darüber noch befinden. Aber Käbisch musste die entsprechende Ausstellungstafel schon mal abhängen. »Denn der mit den personenbezogenen Daten unterlegte Hinweis auf die IM-Tätigkeit war geeignet, Ansehen und Wertschätzung des Antragstellers in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen und ihn gewissermaßen an den Pranger zu stellen« - so sah es das Gericht.

Vertreten wird der frühere IM »Schubert« von Rechtsanwalt Thomas Höllrich, einer Lokalgröße der Linken. Er klagt über eine Pogromstimmung in Reichenbach, wo ja schließlich jeder jeden kenne. Ein zweiter ehemaliger Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit geht inzwischen ebenfalls gegen Käbischs Ausstellung vor, auch er vertreten von Höllrich.

Das Dorf, aus dem IM »Schubert« stammt und in dem er heute wieder wohnt, ist ein beschaulicher Ort mit schiefergedeckten Häusern, einem Sportplatz und einer alles überragenden Kirche. Das Haus in Neumark bei Reichenbach, an dessen Klingelschild der Name des einstigen Stasi-Zuträgers steht, sieht allerdings aus wie nach einer Flucht: Die Jalousien sind heruntergelassen.

Der Ex-Spitzel, dessen vollen Namen auch der SPIEGEL aus rechtlichen Gründen nicht nennt, ist ein kleiner, erfolgreicher Unternehmer in dem Dorf, in dem er fast Tür an Tür mit Opfern der Staatssicherheit wohnt. Aber er ist nicht zu sprechen. Der Mann, der sich im Rathaus von Reichenbach zum IM »Schubert« bekannte, lehnt jede Stellungnahme zu den Details seiner Akte ab. Deshalb ist es auch nicht möglich, ihn zu fragen, wie jemand, der heute auf seinen Persönlichkeitsrechten beharrt, dazu steht, sie früher auf eine Weise verletzt zu haben, die auch nach fast zwanzig Jahren Stasi-Debatte fassungslos macht.

S. wurde 1980, noch als Oberschüler, im Alter von 18 Jahren angeworben. »Operative Zielstellung« war es, ihn in die Junge Gemeinde der evangelischen Kirche zu schleusen. Bereits wenige Monate später notierte ein Geheimdienstoffizier: Informationen des IM hätten das Ministerium »im Kampf gegen den Feind wirkungsvoll unterstützt«. Der IM habe die »Konspiration« verdächtiger Personen durchbrochen, die dadurch der staatsfeindlichen Tätigkeit überführt werden konnten. »Gegen 4 Personen konnten Ermittlungsverfahren mit Haft durch unser Organ eingeleitet werden.«

Im Juni 1980 wurde »Schubert« belobigt - »in Anerkennung hervorragender Leistungen im Kampf gegen den Feind«, es gab eine Reise in die Sowjetunion. Der IM »Schubert« war dem Ministerium für Staatssicherheit viel wert. Die Akte ist voller Belege und Quittungen. Immer wieder erhielt der Zuträger Geld von der Stasi, mal einen Kredit, mal eine Heizung, dann Kronen für eine Reise in die CSSR.

Und immer neue Erfolge verbuchte der Geheimdienst. 1984 notierte ein Stasi-Offizier, »Schubert« sei es gelungen, in die Evangelische Studentengemeinde an seinem Studienort Freiberg einzudringen. Er habe dort eine geachtete Position, »dazu gehört auch die Realisierung der Taufe«. Die Taufurkunde befindet sich in der Stasi-Akte: Im Alter von 22 wurde »Schubert« im Auftrag der Staatsmacht Christ. Sein Taufspruch stammt aus der Bergpredigt: »So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.« Auf den damaligen Studentenpfarrer Klaus Goldhahn, der S. taufte, waren zehn IM angesetzt, einer davon war »Schubert«.

Mit einer »Erklärung« vom 6. November 1989 endet die Akte »Schubert": Der IM entpflichte sich schriftlich vom Stasi-Dienst, kurz zuvor hatte er den Führungsoffizier noch um Hilfe beim Kauf eines Autos gebeten. S. kündigte seine Übersiedlung »in die BRD« an und stellte doch vage eine Rückkehr in Aussicht. Die Erklärung - drei Tage vor dem Mauerfall - endet mit dem Satz: »Falls Sie eines Tages alle Minister, die diese innen- und außenpolitische Schande auf dieses Volk gebracht haben, hinter Schloss und Riegel bringen, bin ich der Erste, der wiederkommt.«

Es ist nicht ganz klar, was S. damit gemeint hat, aber in diesen Tagen bekommt die Drohung einen ganz aktuellen Bezug: Einige sehen offenbar die Zeit gekommen, zurückzuschlagen. Pfarrer Käbisch etwa, der Stasi-Aufklärer, bekommt gehässige Briefe von hohen Ex-Stasi-Offizieren. Eine Protesterklärung gegen eine Ausstellung in der früheren Stasi-Haftanstalt in Halle unterzeichnete im vergangenen Jahr gleich eine ganze Gruppe ehemaliger Vernehmer.

Im kleinen Neumark mit seinen 3400 Einwohnern ist zu spüren, dass die Arbeit der früheren Stasi-Kader Folgen hat. Man flüstert wieder. Ja, sagt eine Frau in ihrem Laden, sie kenne Leute, die damals inhaftiert wurden, zwei Schwestern darunter. Aber mehr wolle sie nicht sagen, »wenn schon Herrn Pfarrer Käbisch vom Gericht der Mund verboten wird«. Und dann ist schnell von den kleinen Leuten die Rede, die ja nichts machen könnten, und ein ganz bestimmtes DDR-Gefühl ist wieder da.

Auch eine Frau, die zu den vier Inhaftierten des Jahres 1980 gehörte, will anonym bleiben. Zweieinhalb Jahre hat sie im Gefängnis verbracht, weil sie als Schülerin über Monate »Freiheit statt Sozialismus« auf Straßen der Gegend gesprüht hatte. Es war ihr klar, wer sie und die drei anderen verraten hatte. Immer wieder ist sie dem Denunzianten in den vergangenen Jahren begegnet. »Entschuldigt hat er sich nie, dieser Typ, der jetzt auf Superkapitalist macht.« Und dann fügt sie hinzu: »Die Angst ist immer noch da.«

Vielleicht liegt es an der Entfernung, an einer Art Sicherheitsabstand, die er hat - aber es gibt doch ein Opfer des IM »Schubert«, das offen redet. Thomas Singer war in Reichenbach Mitschüler des Spitzels. Er ist heute Lehrer in Brandenburg. In seiner Akte finden sich mehrere Berichte von IM »Schubert«.

»Schubert« borgte sich 1980 ein kleines Textbuch, in das Thomas Singer Liedertexte der DDR-kritischen Sänger Bettina Wegner und Gerulf Pannach geschrieben hatte. Kurz nachdem »Schubert« ihm das Büchlein zurückgeben hatte, wurde Thomas Singer aus dem Klassenraum gerufen. Dann ging es im Stasi-Lada zur Vernehmung. »Ich hatte Angst«, erinnert sich Thomas Singer. Unter Druck gesetzt, aus Sorge um die Familie, erklärte er sich später selbst kurzzeitig zu Treffen mit der Stasi bereit.

Thomas Singer, 46, ist nach der friedlichen Revolution einen anderen Weg gegangen als sein einstiger Mitschüler. Er hat sich nicht versteckt, er ist nicht vor seiner Geschichte geflohen. Er hat bei der Überprüfung im entsprechenden Fragebogen das Kreuzchen bei »IM« gemacht, obwohl er ja auch eine Opferakte hat. Wegen des Makels durfte er nicht Beamter werden, »das habe ich sozusagen ihm zu verdanken«, sagt Thomas Singer. Er ist Lehrer für Deutsch und Geschichte. Er redet oft mit seinen Schülern über das, was in der DDR geschah.

Die alte Geschichte lässt ihm keine Ruhe, er hat 28 Jahre später noch sehr genaue Erinnerungen. Einen bewegenden Brief an Pfarrer Käbisch hat er geschrieben, dem das Schreiben nun auch ein Stück Bestätigung ist. Oft genug ist Käbisch belächelt worden, weil er dem Thema Stasi noch immer Bedeutung beimisst.

Auf Käbischs Tisch in seinem Zwickauer Arbeitszimmer brennt eine Kerze in einem Ring aus Stacheldraht. Die Ausstellungstafel mit der Akte »Schubert« steht an seiner Bücherwand.

Diesen Dienstag wird das Landgericht entscheiden, ob er sie gemeinsam mit Oberbürgermeister Kießling wieder aufhängen darf. STEFAN BERG

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