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SPIEGEL Gespräch »Die Daten stimmen nicht mehr«

Arbeitsminister Herbert Ehrenberg über Arbeitslose, soziale Sicherheit und seine Zukunft
Von Heiko Martens und Winfried Didzoleit
aus DER SPIEGEL 6/1981

SPIEGEL: Herr Minister, die wirtschaftlichen Aussichten für dieses Jahr werden immer düsterer. Im Dezember waren bereits 1,1 Millionen Bundesbürger arbeitslos gemeldet. Glauben Sie immer noch, daß sich alles durch einen Konjunkturaufschwung in der zweiten Jahreshälfte von selbst erledigt?

EHRENBERG: So pauschal war mein Glaube nie, und sollten sich die schlechten Tendenzen durchsetzen, muß man etwas tun. Nur, ein Konjunkturprogramm jetzt, wo zur gleichen Zeit die Bundesbank aus Gründen des internationalen Zinsgefälles noch nicht -- die Betonung liegt auf noch -- mit den Zinsen herunter kann, wird wenig helfen. Erst müssen in gemeinsamer internationaler Kraftanstrengung die Zinsen herunter.

SPIEGEL: Vielen Sozialdemokraten erscheint es schon unzumutbar, wenn es im Durchschnitt dieses Jahres bei 1,1 Millionen Arbeitslosen bliebe. Der SPD-Abgeordnete Eugen Glombig hat deshalb eine »arbeitsmarktpolitische Offensive« gefordert.

EHRENBERG: Unzumutbar ist dieser Zustand für mich auch. Aber an der Arbeitsmarktpolitik liegt es nicht.

SPIEGEL: Wie erklären Sie es sich dann, daß die Bundesanstalt für Arbeit allen Arbeitsämtern mitgeteilt hat, daß keine neuen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bewilligt werden können?

EHRENBERG: Das ist ein Erlaß, mit dem kurzfristig Verpflichtungsermächtigungen und Baransätze aufeinander abgestimmt werden sollen. Tatsache ist, daß der Bundesanstalt für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Jahre 1981 neben 850 Millionen Mark Ausgabemittel über 1,1 Milliarden Mark für Bewilligungen von neuen Maßnahmen zur Verfügung stehen, die im Jahre 1982 ausgabewirksam werden. Beim Erlaß des Präsidenten geht es lediglich darum, kurzfristig festzustellen, wieviel von den 850 Millionen Mark Ausgabemittel durch Bewilligungen aus den Vorjahren gebunden sind. Und wenn im Laufe des Sommers Geld fehlen sollte, dann wird sich eine Möglichkeit finden, das aufzustocken.

SPIEGEL: Das ist sicher nicht die »arbeitsmarktpolitische Offensive«, die Glombig fordert.

EHRENBERG: Wir setzen alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente ein, vor allem, um aus ungelernten Arbeitnehmern Fachkräfte zu machen. Aber in einer Zeit schrumpfender Nachfrage nach Arbeitskräften kann ich mit der Arbeitsmarktpolitik nicht isoliert gegensteuern. Mit arbeitsmarktpolitischen Mitteln kann man nur in ganz begrenztem Umfang Arbeitsplätze schaffen, beispielsweise über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Bereich der sozialen Dienste; aber ein globales Arbeitsplatzdefizit kann ich nicht beseitigen. Mit den Instrumenten des Arbeitsförderungsgesetzes kann ich im wesentlichen nur in konjunkturellen Zwischenphasen helfen und die Qualifikationsstrukturen verbessern. Das haben wir mit Erfolg getan und werden es auch weiter tun.

SPIEGEL: Deshalb haben Sie ja auch zusammen mit dem DGB-Vorstandsmitglied Gerd Muhr zur »Wiedererlangung der Vollbeschäftigung« ein ganzes Bündel von Forderungen für diese Legislaturperiode zusammengestellt. Das geht von der Ausweitung der sozialen Dienste bis hin zu vorgezogenem Altersruhegeld. In den Koalitionsverhandlungen ist davon allerdings nicht viel übriggeblieben.

EHRENBERG: Das war kein Papier für die Koalitionsverhandlungen, wie der SPIEGEL fälschlich geschrieben hat, sondern für den Gewerkschaftsrat beim SPD-Parteivorstand, dem ich angehöre.

SPIEGEL: In einem Brief an den Bundeskanzler hat Helmut Rohde, der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, all dieses als Forderungen für die Koalitionsverhandlungen wiederholt.

EHRENBERG: Das ist richtig. Ich habe dies auch weitgehend selbst getan. Aber: In den Vorbereitungen der Regierungsarbeit mußten wir einen höchst schwierigen Kompromiß zwischen den Stabilitäts- und Haushaltserfordernissen einerseits und dem sozialpolitisch Wünschbaren andererseits finden. Aber nichts von den Punkten dieses Papiers ist ausdrücklich abgelehnt. Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung sind nicht flächendeckend.

SPIEGEL: Offenbar haben sich die Haushalts- und Finanzpolitiker durchgesetzt.

EHRENBERG: Nach deren Vorstellung längst nicht genug. Und natürlich S.58 hat der Arbeitsminister erst seine Vorstellungen zu vertreten, wie ich das nachdrücklich getan habe. Aber anschließend muß es in einer vernünftig geführten Regierung nach sorgfältigem Abwägen aller Notwendigkeiten eine gemeinsame Regierungsposition geben.

SPIEGEL: Gewerkschaften und Sozialpolitiker erwarten sehr wohl, daß der Arbeitsminister in diesem Interessengeflecht ihre Forderungen vertritt -- vor allem in der Beschäftigungspolitik gegenüber dem Finanz- und gegenüber dem Wirtschaftsminister.

EHRENBERG: Das tut er auch, aber das Ziel der Vollbeschäftigung ist bei der deutschen Sparermentalität nur gleichzeitig mit dem Ziel der Stabilität zu erreichen. Der alte Irrglaube, daß man das eine auf Kosten des anderen erreichen kann, der ist in den 70er Jahren gründlich widerlegt worden. Das wird zum Beispiel gegenwärtig in Großbritannien noch ad absurdum geführt.

SPIEGEL: Zur Zeit müßte aber doch wohl vor allem aus der Sicht eines Arbeitsministers die Vollbeschäftigung Vorrang bekommen.

EHRENBERG: Selbstverständlich hat für den Arbeitsminister die Beschäftigungspolitik hohe Priorität. Aber Sie dürfen nicht verkennen, daß mit einer Arbeitslosenquote von 4,8 Prozent nicht nur das Beschäftigungsziel verfehlt wird, sondern gleichzeitig auch das Ziel der Preisstabilität, denn hier haben wir heute eine Preissteigerungsrate von 5,5 Prozent. Beide Stabilitätsziele stehen in einem untrennbaren Zusammenhang. Deshalb kann es auch für einen Arbeitsminister kein »entweder -- oder« geben. Sondern nur eine Politik, die beide Stabilitätsziele gleichzeitig verfolgt, vor allem wegen der Rückwirkungen anhaltender Instabilität auf die künftige Beschäftigung.

SPIEGEL: Der Meinungsstreit geht darum: Muß jetzt gehandelt werden, um zu verhindern, daß die Zahl der Arbeitslosen weiter steigt? Die Bundesregierung soll, so fordern Sozialpolitiker und Gewerkschafter, ihren Sparhaushalt gerade in einer Konjunkturflaute aufgeben, soll offensiver Ausgabenprogramme planen.

EHRENBERG: Solange immer noch die Mehrheit der Voraussagen auf eine konjunkturelle Wende im Sommer dieses Jahres setzt, kann man vom Finanzminister nur schwer erwarten, jetzt schon neue Ausgabenvorhaben anzukündigen.

SPIEGEL: Die kommen sowieso.

EHRENBERG: Wenn die Konjunktur nicht besser wird, mit Sicherheit.

SPIEGEL: Vom Wirtschaftsminister wird gefordert, zusätzliche, langfristige Investitionsprogramme aufzulegen.

EHRENBERG: Investitionsprogramme müssen finanziert werden. Sie sollten dann freilich nicht bei der privaten Wirtschaft angesetzt werden, sondern bei den öffentlichen Investitionen. Bei der Privatwirtschaft höchstens im Wohnungsbau.

SPIEGEL: Und bei den öffentlichen Investitionen?

EHRENBERG: Neben Energiespar-Investitionen vor allem im öffentlichen Nahverkehr. Ich würde noch stärker auf die Bundesbahn setzen, die große, sofort einsetzbare Modernisierungsprojekte hat. Wir haben hier und bei anderen Verkehrsprojekten im Kabinett ausdrücklich beschlossen, keine Ansätze für Planungsarbeiten zu reduzieren.

SPIEGEL: Zur Zeit wird die Bundesbahn zum Sparen angehalten.

EHRENBERG: Aus Haushaltsgründen, ja. Man kann aber nicht zwei Finanzziele gleichzeitig verfolgen. Einen Haushalt, der nicht mehr als vier Prozent wächst, und gleichzeitig öffentliche Ausgabenprogramme. Wenn die Konjunktur schlecht bleibt, werden wir uns entschließen müssen, die vier Prozent zu überschreiten. Innerhalb der vier Prozent geht''s nicht.

SPIEGEL: Steigt die Zahl der Arbeitslosen weiterhin wie in den letzten S.59 Monaten, dann fehlen der Bundesanstalt für Arbeit sehr bald wieder Milliarden. Wollen Sie dann Leistungen kürzen, oder holen Sie den Plan einer Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige wieder hervor?

EHRENBERG: Von Leistungen kürzen ist überhaupt nicht die Rede. Im übrigen hat die Koalition beschlossen, eine interministerielle Arbeitsgruppe einzusetzen, die die Finanzbeziehungen zwischen der Bundesanstalt für Arbeit, den Rentenversicherungsträgern und dem Bundeshaushalt bis zur Mitte des Jahres vor allem auf versicherungsfremde Leistungen überprüfen soll. Ohne das Ergebnis dieser Arbeitsgruppe vorwegzunehmen, kann man heute schon über den Daumen gepeilt sagen: Rund die Hälfte der Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit sind versicherungsfremde Leistungen. Es ist daher auf Dauer kaum denkbar, daß die Gesamtleistung mit den großen Schwerpunkten Berufsberatung und berufliche Weiterbildung der Bundesanstalt für Arbeit allein von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert wird.

SPIEGEL: Die versicherungsfremden Leistungen machen über zehn Milliarden Mark aus. Wer soll dafür mit herangezogen werden?

EHRENBERG: Das ist eine Frage, die politisch zu klären ist. Es kann entweder aus der Bundeskasse kommen, was ja bedeutet, daß die gesamte Bevölkerung diese der gesamten Volkswirtschaft zugute kommenden Leistungen finanziert. Wenn das nicht möglich ist, dann müssen wir neu überlegen, wie wir die Bevölkerungsgruppen, die Leistungen in Anspruch nehmen, aber nicht dafür zahlen, mit heranziehen. S.60 Da kann auch eine Art Arbeitsmarktabgabe nicht tabu sein.

SPIEGEL: Herr Ehrenberg, Sie werden nicht nur wegen Ihrer Beschäftigungspolitik von den eigenen Parteifreunden kritisiert. Die Genossen fühlen sich von Ihnen auch verschaukelt, weil Sie so manches Versprechen, das Sie auf dem Wahlparteitag gemacht haben, nicht eingehalten haben.

EHRENBERG: Die Mehrheit der Partei fühlt sich nicht verschaukelt. Es ist nichts zurückgenommen worden von dem, was auf unserem Wahlparteitag in Essen beschlossen wurde. Es ist das Kernstück der Reform der Hinterbliebenenversorgung, die Teilhaberrente, beschlossen. Es ist das Babyjahr, es ist die Rente nach Mindesteinkommen beschlossen -- im Gegensatz zu dem, was der SPIEGEL schreibt.

SPIEGEL: Beginnen wir mit dem sogenannten Babyjahr, wonach berufstätigen Frauen für jedes Kind ein Beitragsjahr bei der Rentenversicherung gutgeschrieben werden soll.

EHRENBERG: Das ist Bestandteil der Koalitionsvereinbarungen, eindeutig beschlossen und steht in der Regierungserklärung.

SPIEGEL: In Essen haben Sie versprochen, daß die Kosten -- 3,5 Milliarden von 1985 an -- »aus Steuermitteln solide finanziert« würden. Jetzt ist das Babyjahr zwar beschlossen worden, nur die Kleinigkeit der Finanzierung hat die Koalition offengelassen. Ein Beschluß ohne Absprachen über die Finanzierung ist doch wohl wertlos.

EHRENBERG: Ich gehe davon aus, daß es so kommt, wie es in den Wahlprogrammen beider Regierungsparteien steht, nämlich zu Lasten des Bundeshaushalts. Nicht ich allein habe dies versprochen, der SPD-Parteitag hat es beschlossen. Notfalls müssen dann neue Prioritäten gesetzt werden. Beispielsweise könnte das Babyjahr in der Rentenversicherung zu Lasten eines Teils der nächstfälligen Tarifkorrektur der Lohn- und Einkommensteuer gehen.

SPIEGEL: SPD-Fraktionschef Herbert Wehner sieht das alles offenbar nicht so rosig. Er hat den Vorsitz der SPD-Arbeitsgruppe »Sozialpolitisches Programm« aus Verärgerung darüber, daß seine Vorschläge zusammengestrichen worden sind, niedergelegt. Hauptgrund: das Babyjahr ...

EHRENBERG: ... das schreibt der SPIEGEL. Ich bin dabeigewesen.

SPIEGEL: Auf der Veranstaltung in Salzgitter, auf der Wehner seinen Rücktritt begründet hat?

EHRENBERG: Nein, nicht auf dieser Veranstaltung. Aber ich bin dabeigewesen, als Herbert Wehner im Parteivorstand gesagt hat, daß er den Vorsitz dieser Kommission aufgeben will. Dort hat er diese Begründung nicht abgegeben.

SPIEGEL: Er hat aber auch keine andere gegeben?

EHRENBERG: Nein. Ich finde auch, daß keiner von uns Herbert Wehner, der so viel für die SPD geleistet hat, nach den Gründen fragen muß, warum er in seinem Alter eine seiner Positionen aufgeben will.

SPIEGEL: Die Gründe hat er selbst genannt.

EHRENBERG: Kann ja sein, daß der SPIEGEL dies irgendwo gehört hat. Fest steht jedenfalls, daß Herbert Wehner in der gleichen Vorstandssitzung Anke Fuchs als seine Nachfolgerin für den Vorsitz vorgeschlagen hat. Der Parteivorstand ist diesem Vorschlag gefolgt. Wenn Herbert Wehners Ansichten über die Zukunft dieser Arbeitsgruppe so wären, wie der SPIEGEL unterstellt, hätte er dies sicher nicht getan.

SPIEGEL: Zweiter Punkt des Essener Programms: die Gleichstellung von Mann und Frau in der Hinterbliebenenversorgung.

EHRENBERG: Es ist der erste Punkt aus Essen, und Sie können ihn in der Regierungserklärung nachlesen.

SPIEGEL: Daß die Gleichstellung von Mann und Frau in der Regierungserklärung drinsteht, ist nicht sonderlich aufregend. Damit wurde einem Spruch des Verfassungsgerichts Genüge getan. Inhalt der Zusage war es, daß Mann und Frau 70 Prozent des gemeinsamen Rentenanspruchs behalten sollten, wenn ein Partner stirbt. Davon steht nichts in der Regierungserklärung.

EHRENBERG: Die quantitative Ausfüllung ist aus guten Gründen offengeblieben. Zur Zeit laufen noch drei Gutachten zu diesem Thema, darunter eine Felduntersuchung der Sozialversicherungsträger. Ich habe keinen Anlaß zu glauben, daß diese Untersuchungen uns widerlegen werden.

SPIEGEL: Das war Ihnen auf dem Essener Parteitag auch bekannt. Trotzdem haben Sie den Delegierten zugesichert, das gesamte Programm, einschließlich der 70 Prozent, sei finanzierbar, Sie hätten das »mittel- und langfristig durchgerechnet«.

EHRENBERG: Seit Essen haben sich die gesamtwirtschaftlichen Aussichten des Jahres 81 und wahrscheinlich auch der weiteren verändert. Aber dieses gilt für die laufende Rechnung, nicht für die Reform der Hinterbliebenenversorgung.

SPIEGEL: Also stimmen Ihre langfristigen Rechnungen von vor sieben Monaten nicht mehr?

EHRENBERG: Die Daten auf der Einnahmenseite stimmen teilweise nicht mehr, denn sie sind abhängig von der Konjunkturentwicklung. Es wird wohl keiner glauben, daß der Arbeitsminister oder jemand anderes in der Lage wäre, Konjunkturprognosen über 15 Jahre abzugeben. Aber niedrigere Ansätze auf der Einnahmenseite der Rentenversicherung schlagen drei Jahre später in der gleichen Richtung auf der Ausgabenseite durch. Das veränderte Basisjahr signalisiert rauf und runter mehr, als dann im Verlauf eintritt.

SPIEGEL: Die Delegierten haben sich in Essen darauf verlassen.

EHRENBERG: Das konnten sie auch, und das können sie trotz veränderter Daten -- die langfristig auf beiden Seiten der Rentenbilanz wirksam werden -- auch in Zukunft. Und sie können sich über Details hinaus darauf verlassen, daß Sozialdemokraten anständige Politik machen.

SPIEGEL: Wir bezweifeln, daß Sie mit solchen Erklärungen die Basis zufriedenstellen können.

EHRENBERG: Ich glaube, meine persönlichen Wahlergebnisse und die in S.62 Niedersachsen, dort war ich Spitzenkandidat, bestätigen, daß ich etwas näher an der Basis bin als der SPIEGEL.

SPIEGEL: Herr Ehrenberg, es gibt Kritiker in Ihrer Partei, etwa das Mitglied der SPD-Grundwerte-Kommission Johano Strasser, die Ihnen vorhalten, daß Ihr sozialpolitisches Konzept allein auf nennenswerte volkswirtschaftliche Wachstumsraten ausgerichtet sei. Zweifeln Sie selbst manchmal daran, ob Ihre Prämisse noch stimmt?

EHRENBERG: Daß wir nicht in jedem Jahr zusätzliche Wachstumsraten erreichen können, hat die Weltwirtschaft uns aufgezwungen. Man kann auch ohne Wachstum gute Sozialpolitik machen, aber es ist entschieden schwerer. Johano Strasser hat ein ganzes Buch über die Grenzen des Sozialstaates geschrieben und nicht in einem einzigen Satz gesagt, wie er ohne Wachstum zusätzliche Sozialleistungen erbringen würde.

SPIEGEL: Es geht ja gerade darum, bei geringerem oder gar keinem Wachstum die vorhandenen Mittel gerechter zu verteilen. Für die Sozialpolitik wird eine Menge Geld ausgegeben. Sie verwalten den größten Bundesetat mit 48 Milliarden Mark, insgesamt werden in der Bundesrepublik 200 Milliarden Mark unter der Überschrift »Sozialpolitik« verteilt. Das Ergebnis dieser Anstrengung ist nicht gerade berauschend.

EHRENBERG: Das Ergebnis ist eine gute soziale Sicherung für die große Mehrheit der Bevölkerung, die keinen Vergleich zu scheuen braucht, nicht einmal -- wie noch in den 60er Jahren -- mit den skandinavischen Systemen. Natürlich gibt es trotzdem Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten, nur -- Umschichtungen im Bereich der Sozialleistungen sind nur in sehr begrenztem Umfang möglich. Denn die Mehrheit der Sozialleistungen sind gute, durch eigene Leistung erworbene Ansprüche. Ich bin nicht bereit, die Ansprüche eines Bergarbeiters, der 25 und mehr Jahre unter Tage gearbeitet hat, zu beschneiden zugunsten eines Versicherten, der nur 5 bis 15 Jahre der Rentenversicherung angehört hat und deshalb eine Minirente bekommt. Denn darauf laufen viele dieser Umschichtungsvorschläge hinaus.

SPIEGEL: Es gibt aber auch die Sekretärin im Bergbau, die nie im Leben unter Tage war, die aber von dem außergewöhnlich hohen öffentlichen Zuschuß an die Knappschaft profitiert.

EHRENBERG: Das ist richtig. Das erklärt sich daraus, daß die Knappschaft ein einheitliches Gebilde ist. Ich bin bereit, das zu ändern, wenn wir auch die Konditionen der landwirtschaftlichen Alterssicherung, der Beamtenversorgung und anderer Versorgungssysteme einbeziehen. Solange wir das nicht tun, lasse ich auch nicht an der Knappschaft rütteln.

SPIEGEL: Die FDP sagt: Wir sind nicht bereit, beim öffentlichen Dienst zu beginnen, solange Ehrenberg die Knappschaft deckt. Wenn das Sozialsystem durchforstet werden soll, dann müssen Sie irgendwo anfangen.

EHRENBERG: Richtig, aber ich will nicht gerade bei der Knappschaft anfangen, bei der Bedeutung des Bergbaus und der Schwere der Bergarbeit. So etwas kann man nur gleichzeitig machen. Und weil das nur mit ganz gründlicher Vorbereitung und unter Einbeziehung aller Aspekte, von der landwirtschaftlichen Alterssicherung über die Beamtenversorgung bis zur Knappschaft, möglich ist, hat die Koalition auf meinen Antrag hin beschlossen, daß wir eine Kommission einsetzen, die uns eine gründliche Bestandsanalyse erarbeitet. In dieses Gesamtkonzept gehören auch die Fragen hinein, die Sie hier anschneiden.

SPIEGEL: Diese vielen Expertengremien dienen doch nur als Alibi, erst mal nichts zu tun.

EHRENBERG: Das ist falsch. Wir haben ja nicht ohne Grund auch für die schwierige Aufgabe, die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Rentenversicherung herzustellen, eine unabhängige Kommission unter dem Vorsitz von Professor Meinhold eingesetzt, die sehr erfolgreich gearbeitet hat.

SPIEGEL: Die Vorschläge dieser Kommission werden doch nur deswegen in Politik umgesetzt, weil ein Spruch des Verfassungsgerichts zur Reform zwingt.

EHRENBERG: Einen solchen Spruch haben wir auch über die unterschiedliche Besteuerung von Beamtenpensionen und Renten. Aber man kann nicht zwei derart große Aufgaben --Gleichstellung in der Hinterbliebenenversorgung und Durchforstung der verschiedenen Altersversicherungen -- in einer Legislaturperiode bewältigen.

SPIEGEL: Herr Ehrenberg, wie lange bleiben Sie noch Arbeitsminister in Bonn? Werden Sie im nächsten Jahr als sozialdemokratischer Spitzenkandidat in Niedersachsen gegen Ernst Albrecht antreten?

EHRENBERG: Nein, mit Sicherheit nicht. Wenn Sie meine Erklärungen verfolgen würden, wüßten Sie das. Meine Aufgaben in Bonn sind groß genug, und mein Freund Karl Ravens macht seine Sache in Niedersachsen gut. Aber der SPIEGEL unterstellt mir ja laufend irgend etwas, was ich nicht will. Sie haben mich auch schon mal nach Brüssel als EG-Kommissar »wegloben« wollen.

SPIEGEL: Nicht wir. Darüber ist im Präsidium Ihrer Partei, dem Sie nicht angehören, gesprochen worden.

EHRENBERG: Der SPIEGEL hat dort auch keinen Zutritt. Ehrenberg als EG-Kommissar, das habe weder ich noch sonst jemand anderes außer dem SPIEGEL gewollt. Sie müßten mal aufhören, in Vor- und Hinterzimmern Politik machen zu wollen, sondern mit den Leuten reden, die es angeht.

SPIEGEL: Und dann nur das schreiben, was uns diese Leute sagen?

EHRENBERG: Natürlich nicht nur, aber auch. Es würde den SPIEGEL zu einem fairen Blatt machen, wenn Sie das täten.

SPIEGEL: Herr Ehrenberg, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

S.55Mit Redakteuren Heiko Martens und Winfried Didzoleit.*

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