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Die DDR - »despotischer Staatssozialismus«

Zum erstenmal setzt sich ein führender KP-Theoretiker mit den Thesen des ostdeutschen Marxisten Rudolf Bahro auseinander, der in seinem Buch »Die Alternative« die Verhältnisse im sowjetischen Machtbereich einer marxistischen Kritik unterzog: der Kommunist Lucio Lombardo-Radice, ZK-Mitglied der italienischen KP, in einem Sammelband »Antworten auf Bahros Herausforderung des »realen Sozialismus""*. Auszüge: Für Rudolf Bahro und alle deutschen Genossen, die für eine kommunistische Alternative kämpfen.
aus DER SPIEGEL 42/1978

Wir haben es mit einer rigoros zentralisierten politisch-ökonomisch-sozialen Struktur mit der Tendenz zur Totalisierung zu tun. Alles ist verstaatlicht; alle politischen und kulturellen Aktivitäten werden von den Behörden kontrolliert.

Staat und Kommunistische Partei sind ineinander verflochten und substantiell zu einem einzigen Machtapparat verschmolzen. An der Spitze dieses Apparats steht der Generalsekretär der Partei; er ist höchste und unanfechtbare Autorität und mit den Machtbefugnissen eines veritablen Monarchen ausgestattet.

In der autoritär-zentralistischen Phase des »Realsozialismus« ist die marxistisch-leninistische Doktrin zu einer echten »Staatsreligion« geworden. In der vorangegangenen Phase dagegen ging vom Marxismus eine wahre politische, kulturelle, philosophische und pädagogische Sturm-und-Drang-Bewegung aus, die alle Ideen und Institutionen mitriß und umgestaltete (das gilt besonders für die UdSSR).

Innerhalb des monolithischen, zentralisierten, autoritären Systems, das heute als »realer Sozialismus« bezeichnet wird, konnten sich -- auch nach vielen Jahren anscheinend stabiler Herrschaft -- Kräfte behaupten, die eine Periode der Liberalisierung (XX. Parteitag der KPdSU, Chruschtschow), Demokratisierung (Prager Frühling und Herbst, Januar 1968 bis April 1969, erste und zweite Ära Dubcek) und Entbürokratisierung (chinesische Kulturrevolution) eröffneten.

Diese Versuche zu mehr oder weniger tiefgreifender Erneuerung des »realsozialistischen« Systems kamen nicht durch Umsturz von außen zustande, sondern fanden innerhalb des Systems selbst statt; ihre Protagonisten waren führende Persönlichkeiten des »Systems«.

Unter den aktivsten Elementen der sozialistischen Erneuerung -- die Revolution, die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln wird dabei nicht in Frage gestellt -- befinden sich sogar Männer, die unter dem Regime der vorhergehenden Phase schrecklich zu leiden hatten und dennoch Kommunisten geblieben sind, darunter dei- außergewöhnliche, aber sehr bedeutsame Fall János Kádár.

Diese Versuche hatten bisher immer nur ein -- relativ -- kurzes Leben. Trotz des Fehlschlagens dieser Versuche eines »aufgeklärten Sozialismus«, eines »Sozialismus in Freiheit«. »mit menschlichem Antlitz«, eines antibürokratischen Sozialismus mit direkter Beteiligung der Massen an der Politik und der Macht, bildet sich in allen Ländern des »sowjetischen Systems« dennoch immer wieder eine Linksopposition, die sogar immer breiter und bewußter wird und beginnt, Politiker, Historiker und Theoretiker hervorzubringen, die versuchen, die Perspektiven und Kräfte einer kommunistischen Alternative zum »real existierenden Sozialismus« zu entwickeln.

Das System des »realen Sozialismus« hat bis jetzt zwei verschiedene Lebensperioden durchlaufen.

Erste Periode: brutale, mit blutigen und härtesten Repressionen (Prozesse, Gulag) verbundene Aufhebung der ersten demokratischen, nachrevolutionären Phase.

Zweite Periode: Tendenz zu einer relativ gemäßigten und toleranten Herrschaft (in der UdSSR die liberalisierende Chruschtschow-Phase), wenn auch mit Schwankungen, die von der geringeren oder größeren Gefährlichkeit der Oppositionellen abhängen, von denen einige offen über kürzere oder längere Zeit anderer Meinung sein durften, ohne verhaftet oder ausgewiesen zu werden.

An die Stelle der direkten Repression tritt als beherrschendes Element die Kontrolle: über die öffentlichen Ämter, die Gewerkschaften, die Sowjets, die Schulen, die Massenkommunikationsmittel, die Mobilität der Bürger im In-

* Verlag Olle & Wolter, Berlin; 14,80 Mark.

land, die Pässe für das Ausland und so weiter.

Es muß aber betont werden, daß die Tendenz zur relativen Toleranz, zum relativ friedlichen Abdrängen der Kritiker von der Tendenz zur Stagnation und dem Verlust an Konsens, Glaubwürdigkeit und Dynamik begleitet wird. Die Anfangsperiode der absoluten Macht war dagegen dynamisch, konstruktiv, begründet auf dem Konsens breiter Massen und dem Enthusiasmus der Freiwilligen zum Aufbau des Sozialismus.

Der erste Kommunist, der in bezug auf die Ära Stalin den Terminus »Degeneration« des Sozialismus verwendete, war Palmiro Togliatti in seinem zu Recht berühmten Interview in »Nuovi Argomenti« aus dem Jahre 1956.

Togliatti sprach -- polemisch -- von Degeneration des sozialistischen Systems, und zwar im Gegensatz zur offiziellen Erklärung des XX. Parteitags der KPdSU, die gewöhnlich in dem Ausdruck »Personenkult« zusammengefaßt wird.

Togliatti hatte völlig recht, als er behauptete. daß die These vom »Personenkult« von der Suche nach den tieferen Ursachen ablenke, die zur Abwendung von den demokratischen Normen und der Legalität und zu den »Degenerationen« geführt hätten.

Togliatti blieb aber dennoch der festen Überzeugung, daß der Sozialismus, der in der Sowjet-Union unter Stalins Führung verwirklicht wurde, Sozialismus ohne Abstriche und Vorbehalte sei, daß er aber Deformationen erfahren habe, die korrigiert werden könnten, ohne das System als Ganzes zu verändern.

Warum lehnen wir die Deformationstheorien ab?

Der real existierende Sozialismus -- wir denken dabei in erster Linie an das »sowjetische Modell« -- ist eine ihrem Wesen nach prinzipiell andere Ordnung als die in der sozialistischen Theorie von Marx entworfene, und zwar aus einem wesentlichen Grund: Im »sowjetischen Modell« stirbt der Staat, als abgetrennter Körper, nicht nur nicht ab, sondern bläht sich mit der Tendenz, alles zu kontrollieren, enorm auf und wird omnipotent.

Bahro schreibt: »Es gibt zwischen dem Kommunismus von Marx und dem real existierenden Sozialismus im sowjetischen Block in keinem Punkte einen schon theoretisch derart ins Auge fallenden Gegensatz wie im Hinblick auf den Charakter des Staates.«

Für Marx war klar, daß an die Stelle des Staates als separatem Machtapparat sofort eine neue, auf direkte Demokratie gegründete politische Struktur, die Kommune, treten müsse. Nun, das derzeitige sowjetische System ist zwar meiner absoluten Überzeugung nach ein nachkapitalistisches System, sein wesentlicher Charakterzug aber ist die Omnipotenz und Omnipräsenz des Staates.

Der Staatssozialismus, das heißt ein nachkapitalistisches System, in welchem der Staat alles ist (alles sein will), ist gewiß nicht vereinbar mit einer Demokratie -- diese verstanden als Emanzipation der Arbeiter/Bürger und ihre freie Beteiligung an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten.

Die Zwei-Phasen-Theorie (zuerst bürgerliche, dann sozialistische Revolution) erscheint daher als Utopie; die Sowjet-Union müßte nach der Beseitigung des Privateigentums eine bürgerliche Revolution durchmachen. So der sowjetische kritische Marxist Leonid Pljuschtsch in sehr expliziter Weise.

In Wirklichkeit aber muß eine Strategie entworfen und realisiert werden, durch die politische (Despotismus) und ökonomische (Staatseigentum) Institutionen gleichzeitig verändert werden. da sonst die Versuche der Liberalisierung und/oder Demokratisierung zum Scheitern verurteilt wären, wie die historische Erfahrung des XX. Parteitags der KPdSU gezeigt hat.

Wenn man nun unter Übergang, wie es üblich ist, einen natürlichen und friedlichen Übergang, eine Evolution versteht, so ist absolut nicht zu sehen, wie aus diesem Staat mit seiner Tendenz zur koloßartigen Vergrößerung, zur Hierarchie, zur Bürokratisierung eine sozialistische Demokratie werden könnte.

Dieser Staat wird sich, als solch er, jedem Demokratisierungsprozeß entgegenstellen, da ein solcher Prozeß (wir betonen es noch einmal) auch ein Abbau des Staates sein muß.

Ein Bruch und eine Tendenzwende scheinen unvermeidlich, damit sich eine Veränderung vollziehen kann, an die wir fest glauben. Diese Veränderung wird sich jedoch in der Form einer Krise, nicht eines Überganges vollziehen.

Heute ist der »reale Sozialismus (das »sowjetische Modell") eine neue, noch nicht dagewesene ökonomisch-soziale-politische Formation, ein Sozialismus, der anders ist als der, den Marx entworfen hat und mit dessen Aufbau Lenin begonnen hatte.

Die treffendste Bezeichnung für diese neue Formation ist meiner Meinung nach Staatssozialismus. Die Tatsache, daß es sich um einen Staatssozialismus handelt, wird, wie uns scheint, durch die globalen fortschrittlichen Merkmale der Außenpolitik des Sowjetstaates bestätigt.

Indem wir noch einen Schritt weitergehen, schlagen wir vor, die spezifische, dem Staatssozialismus inhärente Despotie als sozialistische Despotie zu bezeichnen.

Und hier der Widerspruch. der im »realen Sozialismus« ins Auge springt: Aufgrund ihrer nachkapitalistischen und nachrevolutionären Natur sind die heute in der Form des »Staatssozialismus« organisierten Gesellschaften extrem dynamisch. Hier wird jene Despotie, die sie so dynamisch industrialisiert, wissenschaftlich und modern gemacht hat, ein Prokrustesbett für ihre weitere Entwicklung. Oder eine »eiserne Jungfrau«, um das Bild von Bahro zu benutzen. Bahro schreibt:

Der Inhalt der Umgestaltung in der CSSR brachte nichts anderes an den Tag als die wirkliche Gesellschaftsstruktur, die aus den osteuropäischen Revolutionen und zuvor aus der Oktoberrevolution hervorgegangen ist.

Und das Tempo der Umgestaltungen, zuvörderst die rasche Gestaltveränderung der Kommunistischen Partei selbst, bewies, wie dringlich diese neue Struktur, zumindest in den industriell entwickelsten Ländern, darauf wartet, den Panzer abzuwerfen, der sie im Larvenstadium geschützt hat, jetzt aber zu ersticken droht.

Das 1968 entfesselte soziale Potential, das man mit Gewalt wieder in die überkommene Zwangsjacke gesteckt hat, bleibt da und wird -- zunächst durch passive Resistenz -- weiter gegen den inadäquaten überbau rebellieren, bis eines Tages auch in der Sowjet-Union der Anachronismus dieses Systems historisch vollendet ist.

Wir würden gerne mit diesen Worten von Rudolf Bahro schließen, die eine starke, klare Überzeugung von den Möglichkeiten des Sozialismus, auch des »Staatssozialismus«, ausdrücken. Doch müssen wir noch ein Wort -- nicht des Mißtrauens, sondern der Sorge -- hinzufügen. Je mehr der Bruch des »Systems« durch die kräftige konservative Strömung künstlich hinausgezögert wird, desto schwerer wird die Übergangskrise sein.

Der Parteistaat, der aus revolutionären Kadern entstanden ist, kann nicht ad infinitum revolutionäre Kader hervorbringen, die die notwendige Erneuerung vorantreiben. Prag 1978 ist nicht mehr, kann nicht mehr das Prag von 1968 sein. Es fand dort eine Rückentwicklung und ein Qualitätswechsel im Führungsapparat statt.

Die Verurteilung Bahros, eines kritischen Kommunisten, der den »realen Sozialismus« von innen her in einen emanzipatorischen Sozialismus umgestalten wollte, ist ein neues negatives Zeichen, das uns als Sozialisten und Revolutionären Sorge bereiten muß.

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