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Israel »DIE DIASPORA IST ISRAELS RESERVE-ARMEE«

aus DER SPIEGEL 53/1970

SPIEGEL: Herr Dr. Goldmann, seit der Gründung des Staates Israel spendeten Juden in aller Welt rund 15 Milliarden Mark für den neuen Staat, fast sechs Milliarden gaben sie noch einmal als Kredite. Wäre Israel ohne diese Hilfe überhaupt lebensfähig?

GOLDMANN: Nein. Israel kann man nur als Gesamtwerk des jüdischen Volkes erhalten. Die Israelis sind die Frontarmee; die Juden, die außerhalb Israels leben, in der Diaspora, sind die großen Reserven. Wenn diese Reserve-Armeen Israel eines Tages verraten würden, sähe Ich für dieses Land keine Zukunft mehr.

SPIEGEL: Danach sieht es gegenwärtig nicht aus. Nach dem Junikrieg von 1967 spendete das Weltjudentum mehr für Israel denn je zuvor. Wie erklären Sie diesen Spendenboom?

GOLDMANN: Es war das Gefühl der Angst vor der Vernichtung Israels und die Freude über den Sieg. Es hat sie alle gepackt.

SPIEGEL: Israel profitiert dann sozusagen von dem anhaltenden Spannungszustand im Nahen Osten?

GOLDMANN: Das Ist richtig und nicht richtig. Kurzfristig stimmt es, aber vergessen Sie nicht, daß Israel durch den Kriegszustand auch gewaltige Ausgaben hat. Sicher würden im Frieden die Einnahmen zurückgehen -- aber dafür könnten sie viel produktiver angelegt werden. Es ist daher kein gutes Geschäft, den Spannungszustand aufrechtzuerhalten.

SPIEGEL: Die Israelis sprechen selbst davon, daß sie die Diaspora »besteuern«, daß sie einen moralischen Anspruch auf die Hilfe des Weltjudentums haben. Halten Sie diesen Anspruch für berechtigt?

GOLDMANN: Ja. Denn Israel wurde nicht nur von den 600 000 Juden geschaffen, die dort lebten, als der Staat proklamiert wurde. Der Sinn dieser Staatsgründung war ja, die jüdische Existenz zu sichern. Deswegen habe ich immer argumentiert: Wollt ihr euer Judentum erhalten, müßt ihr Israel helfen. Dennoch würde ich nicht vom »Besteuern der Diaspora« sprechen, denn die Juden zahlen ja freiwillig für Israel.

SPIEGEL: Ganz freiwillig geschieht das freilich nicht immer. Besonders in Amerika wird nach unseren Eindrücken nicht nur moralischer, sondern vor allem auch sozialer und sogar ökonomischer Druck ausgeübt.

GOLDMANN: Gewiß gibt es in Amerika Leute, die mit dem Druck, den sie ausüben, ein bißchen aggressiv sind. Aber das Ist bei allen amerikanischen Geldsammlungen, auch bei Nicht-Juden, üblich. Und sicherlich gibt es auch den gesellschaftlichen Druck

SPIEGEL: ... vor allem In den kleinen Gemeinden.

GOLDMANN: Sicher. Wenn ein Jude nicht genug gibt oder überhaupt nicht, dann wird er in seinem Golfclub zuweilen schief angesehen. Es kann auch dazu führen, daß die Leute sagen: Wahrscheinlich geht es ihm wirtschaftlich sehr schlecht.

SPIEGEL: Sie haben keine Bedenken gegen einen solchen Druck?

GOLDMANN: Nein, ich halte das nicht für problematisch. Jeder Jude, solange er Jude sein will, hat ein Recht zu sagen, ich will nicht zahlen. Aber solange er Jude ist, hat er eine moralische Verpflichtung, Israel zu helfen -- jedenfalls solange das Land noch nicht gesichert ist.

SPIEGEL: Ein Jude, der regelmäßig seinen Obulus für Israel leistet, zahlt praktisch doppelt Steuern: an den Staat, dessen Nationalität er hat, und an Israel. Muß das nicht zu Loyalitätskonflikten führen?

GOLDMANN: Ich glaube nicht. Manche Länder, so die USA, erklären ja Spenden für Israel sogar als steuerfrei.

SPIEGEL: Diese Steuerfreiheit stößt auf heftige Kritik. Denn nach amerikanischem Recht ist die steuerliche Abzugsfähigkeit nur legal, wenn die Spenden an rein humanitäre, nichtstaatliche Organisationen geleitet werden. Die »Jewish Agency«, die In Israel die Hilfsgelder verausgabt, ist aber praktisch eine staatliche Organisation.

GOLDMANN: Ja. Aber die Agency darf ihr Geld nicht für die Armee, sondern nur für Schulen, für die Universitäten, für landwirtschaftliche Entwicklungsprogramme oder für die Einwanderung ausgeben, also für humanitäre, erzieherische oder kulturelle Zwecke. Die amerikanischen Behörden kontrollieren die Verwendung der gesammelten Gelder sehr genau.

SPIEGEL: Damit entlastet die Agency aber das Israelische Budget, das durch die hohen Kriegskosten strapaziert wird.

GOLDMANN: Das ist unvermeidlich. Insofern ist es sicherlich indirekte Hilfe für den Staat.

SPIEGEL: Hinzu kommt, daß die Hilfsmittel als Devisen nach Israel kommen -- Devisen, die Israel für Waffenkäufe dringend benötigt.

GOLDMANN: Gewiß, ohne diese Einnahmen wäre Israel, was seine Zahlungsbilanz anbelangt, schon in einer mehr als schwierigen Lage. Aber auch die deutschen Wiedergutmachungsleistungen -- an den Staat Israel wie an einzelne Israelis -- werden In konvertibler Währung gezahlt. Das ist ein riesiger Posten. Es gab Jahre, da waren die Einnahmen aus Deutschland größer als die Spenden aller Juden der Welt.

SPIEGEL: Die Araber laufen seit der Gründung des Staates Israel Sturm gegen die Spenden aus der Diaspora. Für sie ist die starke finanzielle Abhängigkeit Israels vom Weltjudentum der schlüssigste Beweis, daß der Judenstaat nur ein kolonialistischer Fremdkörper auf arabischem Boden ist.

GOLDMANN: Ich verstehe das nicht. Wenn Frieden wäre, wenn die Araber sich mit der Existenz Israels abfinden würden, könnte das Weltjudentum eine ungeheure Bedeutung für die arabische Welt haben. Milliarden würde das Weltjudentum in der arabischen Welt investieren, auch um beispielsweise die palästinensische Flüchtlingsfrage zu lösen.

SPIEGEL: Solange Israel den Anspruch erhebt, Heimstatt aller 13 Millionen Juden auf der Welt zu sein, erscheint uns das irreal.

GOLDMANN: Israel hat nie den Anspruch erhoben, Heimat aller Juden der Welt zu sein, sondern lediglich das Recht eines jeden Juden anerkannt, falls er es will, nach Israel einzuwandern und Bürger des Staates zu werden. Die Araber müssen sich damit abfinden, daß Israel verbunden Ist mit dem Weltjudentum. Solange sie das nicht akzeptieren und sozusagen verlangen, Israel solle sich nur auf Israel beschränken und keine jüdischen Einwanderung zulassen, wird es keine Verständigung geben. Das ist der besondere Charakter des israelischen Staates: Ein Volk, dessen Majorität nicht In seinem Staat lebt und doch innigst, moralisch, religiös und kulturell mit dem jüdischen Staat verbunden bleiben will.

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