Die Dosenrepublik
Irgendwann wird sie einbrechen, wird diesen Druck nicht mehr aushalten, es wird ein hässliches Geräusch geben, so, als würde man jemandem das Genick brechen, aber noch steht sie da und glänzt gülden, noch lebt sie, eine Halbliter-Getränkedose aus Weißblech.
Sie ist 52 Millimeter breit, 168 Millimeter hoch, 27,3 Gramm schwer. Auf ihrem Bauch steht »Holsten«, der Name einer Hamburger Brauerei. Aber es ist kein Bier in dieser Dose. Es geht jetzt nur um sie. Es geht um die Frage: Schafft sie 800 Newton?
Sie ist in einen Kraftgenerator geklemmt worden, zwei Platten so groß wie Dessertteller pressen auf sie, eine von oben, die andere von unten, und langsam, ganz langsam wird der Druck erhöht.
Drei Männer und eine Frau haben sich in einem Halbkreis um den Kraftgenerator gestellt, es sind Herr Heske, Herr Noll, Herr Dr. Sommer und Frau Köppe. Sie beobachten und schweigen. Es gibt eine digitale Anzeige, auf der man den Druck ablesen kann. Er ist jetzt bei 800 Newton. 800 Newton sind die Schallgrenze. 800 Newton muss eine Halbliter-Weißblechdose nach den deutschen Vorschriften aushalten. Heske, Noll, Dr. Sommer und Frau Köppe sind zuversichtlich. Sie wissen, was diese Dose kann. Dieses Dose ist ihr Geschöpf.
Heske und Noll sind Diplomingenieure, Dr. Sommer ist Physiker, Frau Köppe Metallkundlerin. Sie arbeiten in einem Gebäude, das mit Stahl verkleidet ist und von außen aussieht wie eine Weltraumstation. Das Gebäude steht im Bonner Stadtteil Auerberg, 80 Wissenschaftler sind hier damit beschäftigt, Bördelwinkel, Aufreißkraft oder Bodenstandfestigkeit zu prüfen. Sie fangen morgens um acht an, sie tragen Codekarten bei sich, um die Türen zu öffnen, und wenn sie abends um 18 Uhr nach Hause gehen, kommen sie an einem Bild von Albert Einstein vorbei.
Sie arbeiten an der perfekten Dose.
Das »Forschungs- und Entwicklungszentrum« in Bonn-Auerberg gehört der Firma »Ball Packaging Europe«. Zwölf Milliarden Getränkedosen hat Ball Packaging letztes Jahr in Europa hergestellt. Zwölf Milliarden Dosen bedeuten einen Umsatz von einer Milliarde Euro. Das Forschungs- und Entwicklungszentrum hat ein Budget von rund 20 Millionen Euro. Es geht hier nicht um irgendwas.
Der Druck liegt jetzt bei 1200 Bar. Die Holsten-Dose zittert noch nicht einmal, sie steht da wie ein Olympiasieger im Gewichtheben.
Herr Heske ist der zuständige Mann für die Produktion. Er lächelt still. Heske hat 1993 bei Ball Packaging, damals noch »Schmalbach-Lubeca«, angefangen, da war die Wand einer Dose noch 0,26 Millimeter dick. Jetzt sind es 0,205 Millimeter. Heske macht keine Karriere mit wachsenden Dienstjahren, sondern mit dünner werdenden Getränkedosenwänden. Es hat schon Tests mit 0,18 Millimetern geben. Vielleicht wäre das die Rettung.
Sein Labor, sein Unternehmen, die ganze Industrie, für die er arbeitet, steht im Moment in einem Kraftgenerator, so wie diese eine Holsten-Dose hier, und niemand weiß, wie lange man dem Druck noch standhalten kann. Von oben drückt Jürgen Trittin, der Bundesumweltminister, und von unten drückt die Lobby der Mehrwegflasche. Sie haben große Kraft.
Seit Anfang des Jahres muss man in Deutschland 25 Cent Pfand für eine Dose bezahlen, weil sie »ökologisch nicht vorteilhaft« ist, wie es im Bundesumweltamt heißt. 25 Cent sind ein Stigma. Seit es das 25-Cent-Pfand gibt, bricht der Dosenmarkt ein. Das Dosenwerk von Ball Packaging hat seit Anfang des Jahres Kurzarbeit angemeldet und 80 mittelständischen Zulieferern gekündigt. Heske, Noll, Dr. Sommer und Frau Köppe forschen an einer Todgeweihten. Aber sie machen weiter.
Die digitale Anzeige steht auf 1600 Newton. Dann gibt einen kleinen Knall, und die Holsten-Dose faltet sich in der Mitte zusammen. »Sechzehnhundert. Weltklasse«, sagt Heske.
Dr. Sommer wirft die Dose in den Mülleimer, dann laufen sie auseinander, erleichtert und mit sich selbst im Reinen, wie man es von Ingenieuren der Nasa kennt, wenn sie gerade eine Rakete erfolgreich ins All geschossen haben.
Es war Gottfried Krueger, ein Deutscher, dessen Brauerei 1933 in Amerika zum ersten Mal erfolgreich Bier in eine Dose füllte. Diese Dose wog 100 Gramm. Im Vergleich zur Dose von heute hat eine Entwicklung stattgefunden wie vom Affen zum Menschen. Warum soll es nicht ein Deutscher sein, der die erste Ökodose erfindet? Hauchdünn, umweltfreundlich, pfandfrei?
»Wir sind noch nicht am Ende«, sagt Heske.
Als in der Uno über Krieg und Frieden gestritten wurde, stritt Deutschland über das Dosenpfand. Als in den Supermärkten der USA gelbe Schleifen in den Schaufenstern hingen, zum Gedenken an die Soldaten, stapelten sich hinter Deutschlands Registrierkassen Plastiksäcke mit triefenden Flaschen und klebrigen Dosen. Als an der galizischen Küste die Strände weiter unter dem Öl verstarben, überlegte die Bundesregierung, ob auch Molkeanteile von 49 Prozent im Drink zur Bepfandung führen müssten.
Die gegenwärtig praktizierte Pfandverordnung ist jedem ein Rätsel, der nicht in diesem Lande lebt. Ein Gesetz, das Millionen Bürger in Müllsammler und Dosenhorter verwandelt, aber von der überwiegenden Mehrzahl der Bürger gutgeheißen wird - wenn auch nicht verstanden.
Ein Gesetz, das seinerzeit von einem CDU-Umweltminister beschlossen wurde, von der späteren CDU-Vorsitzenden umgeschrieben - und von Angela Merkel heute als »grenzenloser Schwachsinn« bezeichnet wird.
Jürgen Trittin sagt, er exekutiere nur, was seine konservativen Vorgänger beschlossen hätten. Und der Kanzler sagt - im Kreis mit Wirtschaftsführern -, er halte das Dosenpfand für einen Auswuchs von Ökobürokratie.
Eine Verordnung, die irgendwann einmal auch in der guten Absicht erlassen wurde, die Bierdosen von den Waldwegen wegzubekommen, ist offenbar zu einem Monstrum geworden, für das keiner mehr die Verantwortung übernehmen will.
In Dänemark hat es wenige Monate gedauert, ein Pfand auf Dosen einzuführen. In Deutschland wird seit zwölf Jahren diskutiert und dekretiert, geblufft, gepokert und gelogen. Wie will sich ein Land erneuern, das sich an einer Dose festbeißt? Wie soll ein Gemeinwesen in Gesundheits-, Steuer-, Rentenreform zur Vernunft finden, wenn Getränkeindustrie und Politik die Bürger seit Monaten zu Pfandbonarchivaren und Abfallkutschern macht?
Die Geschichte des Dosenpfands ist die Geschichte vom Versagen eines Systems, in dem die Macht so verteilt ist, dass am Ende niemand mehr etwas entscheiden kann. Es ist die gleiche Geschichte wie bei der missglückten Einführung der Lkw-Maut: die Geschichte des Versagens von Deutschlands Eliten, in Wirtschaft, Verbänden und Politik.
Etwa zwei Kilometer Luftlinie vom Dosenlabor Bonn-Auerberg entfernt sitzt Ministerialrat Thomas Rummler, Leiter des Referats WA II 3, in einer der 560 Bürowaben des Bundesumweltministeriums und verändert die Welt.
Rummler ist ein grau gelockter Rheinländer Anfang 50. Seit 20 Jahren fährt er jeden Urlaubssommer in die Bretagne, stets an denselben Ort. Andere mögen es genießen, im Land der »Evian«- und »Volvic«-Einwegplastikflaschen unbeschwert herummüllen zu können. Rummler nicht. Er bringt aus Frankreich seit 20 Sommern die Gewissheit mit: »Unser Weg ist der Richtige.«
Rummlers Referat WA II 3 ist für »Produktverantwortung, Vermeidung und Verwertung von Produktabfällen« zuständig. Er ist Deutschlands Mister Dosenpfand. Auf seinem Schreibtisch entstehen die entscheidenden Referentenentwürfe, Vorlagen, Protokolle und Gesetzesentwürfe zum Thema. Rummler ist Mitverfasser eines 176-seitigen Kommentars zum Verpackungsverordnungsrecht. Die Bibel der Dosenlobbys und der Dosenfeinde.
Seit 13 Jahren formuliert Rummler das Recht der Dose, und mit jedem Satz, den er von seinem Schreibtisch weiterreichte an die jeweiligen Minister - gleich ob sie Töpfer, Merkel, Trittin hießen -, ist es enger geworden für die deutsche Dose.
Die Forscher in Bonn-Auerberg fürchten den Ministerialrat. Kein anderer kennt die juristischen Feinheiten im Dosenrecht so gut wie er. Und wenn §3 (2) VerpackV bestimmt: »Getränkeverpackungen sind geschlossene oder überwiegend geschlossene Verpackungen für flüssige Lebensmittel, die zum Verzehr als Getränke bestimmt sind, ausgenommen Joghurt und Kefir« - dann freut eine so klare oder überwiegend klare Definition den MinR Dr. Rummler im Raum 3/684 des Bundesumweltministeriums.
»Die Regelung will Umgehungstatbestände verhindern«, sagt er. Er ist ein sympathischer Mensch mit glatter Stirn. »Man könnte sonst geöffnete Dosen verkaufen und sich weigern, Pfand zu erheben.« Rummler spricht anders, als er aussieht. Vor ihm steht eine Mehrwegflasche Deutscher Brunnen, in der langsam kleine Blasen emporsteigen.
Es ist ruhig in seinem Büro. Nichts zu spüren von dem Sturm, der durch das Land gegangen ist in diesem Jahr, als Deutschland unters Pfand kam. Den Umsatzrückgängen bis zu 50 Prozent bei den Einwegbrauereien. Dem Pfandflaschenmangel in weiten Teilen des Landes, den verzweifelten Appellen der Getränkeabfüller an die Kunden, doch ihre leeren Flaschen zurückzubringen.
Nichts ist zu hören von der Verzweiflung am Bahnhofskiosk: »Wo soll ich mit der Dose hin? Aber ich komme doch nie wieder nach Limburg an der Lahn!«
Weit weg sind jene Szenen aus dem Kölner Karneval, als kaum Dosen auf den Straßen lagen, aber die Jecken mit Schnittverletzungen abtransportiert wurden und sich die Pferde an den Hufen verletzten, weil alles voller Scherben war.
Die Menschen werfen jetzt keine Bierdosen mehr weg, sondern Bierflaschen. Weil die 17 Cent weniger Pfand kosten. Oder sie trinken nur noch Apfelsaft aus dem Karton, weil es schwieriger scheint, ein Dosenpfand einzulösen, als seine Lohnsteuererklärung abzugeben.
Wo bislang beim Aufreißen einer Dose im Wesentlichen nur »Pschschttt-tokk« gedacht wurde, da muss jetzt bedacht werden, dass es »Pfandbonsysteme« gibt, »Insellösungen« und »Auslistungen«. Und »Pfandschlupf«. Und »Folien-Standbodenbeutel«.
»Nein, nein, ich denke«, sagt Thomas Rummler im Raum 3/684 des Bundesumweltministeriums, »ich denke, die Irritationen sind gar nicht so groß.« Sobald der Handel endlich seine Pfandautomaten aufgestellt habe, werde die Lage sich beruhigen, da ist er ganz sicher.
Vielleicht wird auch in diesem Büro manchmal geträumt. Der Traum von einer Welt, in der Kinder und Obdachlose all die Dosen aufsammeln, die sich auf Reitwegen und in Straßengräben finden, und sie, um sich ein Zubrot zu verdienen, in kluge und allwissende und allgegenwärtige Automaten werfen.
So wäre es schön.
Etwas verloren steht er da, ein großer Mann mit einem starken Bauch, und langsam wandern seine Augen nach oben, es sind traurige Augen.
»Ach, meine Döschen«, sagt er.
Andreas Rost ist Vorstandsvorsitzender bei der Holsten-Brauerei. »Holsten knallt am dollsten«, sagt man in Hamburg. Das war mal komisch gemeint.
Rost guckt auf einen »Tall-Pack«, eine Palette mit 2700 Getränkedosen. Die Paletten stehen in einer Produktionshalle, sie sind bis unter die Decke gestapelt, man könnte sie alle mit Bier befüllen, das wäre kein Problem. Nebenan gibt es drei Abfüllanlagen, Hochleistungsgeräte, von denen jedes 90 000 Dosen pro Stunde verarbeiten könnte.
Könnte. Wenn es einen Bedarf gäbe. Im Moment läuft nur eine Anlage. Die anderen stehen still. Es gibt keinen Bedarf mehr an Turbodosenabfüllstationen. Viereinhalb Millionen Euro kostet so ein Gerät. »Die verkauf ich nach Russland«, sagt Rost. »In Russland boomt die Dose.«
Rost arbeitet seit 1975 im Brauereigeschäft. Es ging immer aufwärts. Bis Ende letzten Jahres war Holsten die größte Brauereigruppe Deutschlands. Dann kam das Dosenpfand.
»Es sind Verwerfungen, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat«, sagt Rost. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer, er hat hier alle Zahlen archiviert. Seit Anfang des Jahres ist die Einwegproduktion um 70 Prozent zurückgegangen. Hochgerechnet aufs Jahr sind das 1,2 Millionen Hektoliter weniger.
1,2 Millionen Hektoliter macht rund 300 Millionen Dosen. Man könnte ganze Fußballfelder damit pflastern. Eine Katastrophe. 150 Stellen sind schon weg, in den ersten fünf Monaten des Jahres. Rost schaut aus dem Fenster, er sieht die Weite des Werksgeländes. Da parken Lkw, die eigentlich fahren müssten. »So was wie das da - einfach weg«, sagt er. Wegen 25 Cent Dosenpfand.
Und Andreas Rost erzählt von Weihnachten 1990. Wie er auf dem Werksgelände stand und seinen Lkw hinterhersah, die vom Hof fuhren, bis unters Dach mit Dosen beladen. Sie fuhren nach Dresden. Die Mauer war gefallen, und der Osten wollte vom Westen keine Weihnachtspakete mehr mit Jakobs-Bohnenkaffee und Bellinda-Feinstrumpfhosen. Der Osten wollte Dosenbier.
»Man musste die Menschen in den neuen Ländern erst mal versorgen«, sagt Rost. Holsten baute eine Luftbrücke aus Bier. Holsten ließ die DDR nicht allein. Holsten baute den Osten auf Halbliter-Dosen auf.
Früher mussten die Menschen der DDR jede Flasche, die sie kauften, zurückbringen. Jetzt gab es die Freiheit, auch die Freiheit, aus Dosen zu trinken, und die Freiheit, Dosen wegzuschmeißen. Holsten kaufte neue Abfüllanlagen, die Umsätze explodierten. Es ging gut bis 1994, als der Osten auf einmal nur noch Ost-Produkte wollte. Um die Kapazitäten auszulasten, belieferte Holsten jetzt nicht mehr die Zone, sondern füllte für Aldi ab.
Dose war Kult. Dose hieß Schnelligkeit, Flexibilität, Leichtigkeit, Billigpreise. Europas Märkte wurden geöffnet, seine Menschen waren jetzt mehr unterwegs, sie aßen unterwegs, sie tranken unterwegs, sie telefonierten beim Gehen.
Was für Ron Sommer das Handy war, war für Andreas Rost die Dose. Er dachte: Der mobile Mensch steckt keine Münzen mehr in Telefonzellen, und er läuft auch nicht in Supermärkte, um seine Flaschen loszuwerden. Die Menschen wollten die Dose, der Handel wollte die Dose, Holsten wollte die Dose. Nur die Umweltschützer wollten sie nicht.
»Aber jetzt sag ich Ihnen mal was«, sagt er. Wenn man einen Lkw voll lädt und über die Autobahn schickt, dann passen da 100 Hektoliter Bier rein, wenn man es in Mehrwegflaschen abpackt. In Einwegdosen gefüllt, passen 200 Hektoliter. Das heißt: Die Dose hält die Luft sauber.
Rost sieht zufrieden aus am Ende dieser Rechnung. Wenig gegen zu sagen. Allenfalls, dass das, was er Döschen nennt, immer in der Landschaft liegt. »Okay. Aber warum machen wir nichts dagegen? Wenn Sie in Singapur eine Zigarette wegwerfen, kommen die Aufpasser, und dann zahlen Sie. 50 Euro pro Dose - meinetwegen. Aber man bräuchte Aufpasser. Warum haben wir die nicht?« Man könnte eine Abgabe von sechs Cent pro Dose erheben und davon die Müllaufpasser bezahlen. »Wäre auch etwas gegen die Arbeitslosigkeit«, sagt Rost.
Er hätte niemals geglaubt, dass sich Umweltschützer gegen das Gesetz der Marktwirtschaft durchsetzen würden. Auf einem Sideboard in seinem Büro steht eine Sammlung Bierflaschen, alle aus Glas, alle Mehrweg. Früher standen auch Dosen hier. Er hat sie weggeschmissen. »Gehen Sie mal davon aus, dass die Dose in Deutschland weitgehend tot ist«, sagt Andreas Rost.
Under-Secretary-General Dr. Klaus Töpfer ist heute Morgen in Nairobi aufgebrochen, er hat nachmittags in London mit einer Ministerin konferiert und wird morgen über Frankfurt weiter nach Australien fliegen, um dort in New South Wales die Jack-Beagle-Vorlesung über »Konsum im Wandel« zu halten.
Seit Töpfer Chef des Unep, des Entwicklungsprogramms der Uno ist, reist er nur mit Handgepäck. Ein Koffer, einmal falsch verladen, würde ihn bei diesem Reisetempo nie wieder einholen.
Jetzt sitzt Töpfer in der Lobby eines Bonner Hotels, gleich gegenüber vom Bundesumweltministerium, wo im Raum 3/684 an der jüngsten Novelle gearbeitet wird. »Thomas Rummler ist ein Phänomen«, sagt Töpfer. »Der hat damals für mich schon die Dose gemacht. Grüßen Sie ihn.«
Dann erzählt Deutschlands erster Umweltminister, wie alles angefangen hatte. Wie sie damals, 1988, den Großangriff von Coca-Cola mit 1,5-Liter-Plastikflaschen durch eine erste Pfandverordnung zurückgeschlagen hätten. Wie sie zum ersten Mal »Produktverantwortung« in ein Gesetz geschrieben hätten, jenen Gedanken, dass bereits der Hersteller sich um die Entsorgung sorgen müsse.
Wie sie die Revolution gemacht hätten, damals, unter Helmut Kohl.
Töpfer spricht vom Johannesburger Umweltgipfel, wo sie zum ersten Mal die Produktverantwortung in einen Implementierungsplan aufnehmen können. »Wir haben jetzt auch eine freiwillige Rücknahme bei Handys durchgesetzt, weltweit. Das hat in Deutschland begonnen.« Mit der Dose. Klaus Töpfer ist Weltpolitiker. Aber das Thema begleitet ihn, treuer als sein Koffer.
In der Lobby steht ein Fernseher. Auf dem Schirm läuft lautlos ein Beitrag, in dem es um Flaschen und Dosen geht. Töpfer hält sich aus der deutschen Pfanddebatte heraus. In Nairobi würde man von der deutschen Verwirrung wenig mitbekommen. Aber: »Es hat mir einen Stich versetzt, als neulich ein Landesminister erklärte, er würde doch nur umsetzen, was der Töpfer erlassen habe.«
Dabei sei seine Pfandverordnung nur als Drohung gedacht gewesen. Beschlossen, um nie Wirklichkeit zu werden: »Sie sollte das Schwert an der Wand sein. Wie bei der Inquisition im Mittelalter: Das bloße Vorzeigen der glühenden Folterzangen führt zum Geständnis des Delinquenten.«
Auch seien es andere Zeiten gewesen. Damals war Deutschland ein Land ohne gelbe Tonnen und ohne Duales System. Aber voller Müll. Und die Discountläden gefüllt mit Dosenbier zum Dumpingpreis. Die Mehrwegquote sank, und die kleinen Brauer in Bayern schauten auf ihre Pfandkästenberge und wurden unruhig.
So rief im Frühjahr 1991 Klaus Töpfer eine achtköpfige Kreativgruppe in sein Besprechungszimmer: »Wir müssen etwas tun.« Auf dem Tisch stand Mineralwasser und ab 18 Uhr Pfälzer Weißwein. Die Runde sollte klein gehalten werden, um die Lobbys nicht zu alarmieren. Das Umweltministerium war neu und seine Mitarbeiter engagiert. Sie spürten den Rückenwind der Geschichte. Umweltschutz war das Thema. So dauerte es nicht lange, bis der Urtext einer Allgemeinen Verpackungsverordnung fertig war.
Der Text schrieb den Herstellern in 14 Paragrafen vor, wie sie ihren Müll auch wieder einzusammeln hätten. Für die Getränkeindustrie waren die Paragrafen 7 und 9 vorgesehen: »Wir haben die Getränkeverpackung auch aus Gründen des Umweltbewusstseins besonders herausgestellt«, erinnert sich Töpfers damaliger Staatssekretär Clemens Stroetmann. »Die Dose war sichtbar, die Dose war Alltag. Der Umweltschutz spielte sich nicht hinter geschlossenen Fabriktoren ab.«
Die Dose war das Menetekel. Mit dem Bild einer rostigen Cola-Dose im Wald würden die Deutschen zu ökologischen Großtaten bewegt werden können.
Dabei ging es bei der Verordnung keineswegs um Müll in der Landschaft, sondern um Mittelstand in der Krise. Das Dosenpfand sollte die Kleinbrauer vor Leuten wie Andreas Rost und seinen Holsten-Lkw schützen. Die Paragrafen drohten der Getränkeindustrie mit Pflichtpfand, falls der Mehrweganteil »im jeweiligen Einzugsgebiet« bei Bier, Wasser, Sprudelgetränken, bei Saft und Wein ("ausgenommen Perl-, Schaum-, Wermut- und Dessertweine") unter 72 Prozent sinke. Das war der von Töpfers Beamten für 1991 festgestellte Durchschnittswert. Eine Zahl, die das Leben der Deutschen verändern würde. Zwölf Jahre später.
Der Plan war gut. Das Pfand sollte hoch genug sein, um einen Anreiz fürs Sammeln zu bieten. Für 50 Pfennig würde man sich schon mal bücken. Der Dosenhersteller würde das Pfand vom Abfüller kassieren. Der würde es an den Großhändler weiterreichen. Der wiederum an den Supermarkt oder Kiosk, bis zum Konsumenten. Und umgekehrt würde die Dose wieder bis zum Hersteller zurückgereicht. Ein Pfänderspiel, bei dem es eigentlich keinen Verlierer geben dürfte.
Es würde in einer Welt funktionieren, in der es keinen Dosenschmuggel aus pfandfreien Nachbarländern, keine Habgier, Missgunst, Tricksereien gäbe, keine Verbände, Länderminister und Ausführungsbestimmungen. In einer Welt, wo die Akteure über unbegrenzte Ressourcen an Zeit, Geld und Vernunft verfügten.
Der Bundesrat stimmte in seiner Mehrheit zu - nachdem Thomas Rummler über 100 Änderungsanträge notiert und berücksichtigt hatte. Es war eine der längsten Sitzungen des Bundesrats in seiner Geschichte. Am 20. Juni 1991 erschien Töpfers Verpackungsverordnung im Bundesgesetzblatt, unterschrieben von Helmut Kohl. Niedersachsens Umweltminister hatte gegen die Verordnung gestimmt. Seine Name war: Jürgen Trittin.
Aber das Pfand war durch. Und seine Erfinder plagte insgeheim nur noch eine Furcht: dass ihre Idee eines Tages angewendet werden, dass ihr Geschöpf in die wirkliche Welt hinaustreten könnte. Es war die Angst des Dr. Frankenstein.
Doktor Uwe Rantzsch steht vor einem Fließband, auf dem Lücken klaffen. Hin und wieder zieht ein Teil aus Metall an ihm vorbei, ein geleerter Whiskas-Napf, ein paar Kronkorken, ein alter Fleischwolf.
Nur eben keine Dosen.
»Sie müssen wissen: Ich liebe die Dose. Aber es gibt ja keine mehr.« Seit es das Dosenpfand gibt, ist Platz auf dem Fließband. Weniger Dosen bedeutet für Uwe Rantzsch: weniger Geld.
Rantzsch ist Geschäftsführer der Firma »Sero« in Leipzig. Er betreibt die modernste Mülltrennungsanlage, die das Land hat. Sie trennt besser als jeder Privathaushalt.
Es gibt hier Gebindeöffner, Trommelsiebe, Windsichter und vor allem Ballistikseparatoren. Ballistikseparatoren erkennen die Unterschiede zwischen einem Margarinetopf und einem Joghurtbecher. Sie können einen Margarinetopf, der gerade nicht gebraucht wird, mit Pressluft vom Förderband schießen. Am Ende ist alles in »Fraktionen« getrennt, wie es in der Sprache der Abfallentsorger heißt, so sortenrein, dass man es fast wieder bei Tengelmann ins Regal stellen könnte.
Nirgendwo auf der Welt sieht Müll so aus wie bei Sero. Sero macht den perfekten Müll.
Hauptkunde der Anlage ist das »Duale System Deutschland« (DSD), jenes Unternehmen, das seit 1992 den wertvollen Müll einsammelt, den Müll, den man wiederverwerten kann, den Müll, der den Grünen Punkt bekommt; Pappe, Plaste, Glas, Blech. Die Produzenten solcher Sachen zahlen dem DSD Geld dafür, dass sie dieser Eliteflotte der Verpackungsindustrie angehören. Der Grüne Punkt ist der Mercedes-Stern des deutschen Mülls.
Uwe Rantzschs Problem: Es gibt zu wenig deutschen Müll. Bis zum Silvester-Tag des vergangenen Jahres hatte jede Getränkedose einen Grünen Punkt; dann kam das neue Jahr, und der Grüne Punkt verschwand. Sein Nachfolger wurde das Dosenpfand. Das DSD entsorgt seitdem bundesweit 650 000 Tonnen Abfall weniger im Jahr. Sero in Leipzig wird dieses Jahr 760 000 Euro weniger einnehmen.
Seit man keine Dosen mehr in gelbe Tonnen werfen kann, ist das System ärmer geworden. Die Dosenhändler und Supermärkte brauchen keine Lizenzgebühren mehr zu bezahlen. Aber die Maschine von Doktor Rantzsch läuft weiter, mit oder ohne Dosen.
Die Dosen waren einfach so mitgelaufen, vollautomatisch. Der Magnetabscheider hatte sie vom Band gesaugt, dann wurden sie gepresst und ins Stahlwerk zum Einschmelzen geschafft. Es funktionierte eigentlich ganz gut.
Die Deutschen haben sich an das Duale System gewöhnt wie ans Zähneputzen. In keinem anderen Land wird so sortenrein getrennt, werden »Fehlwürfe« von Kaffeefiltern in die Grünglastonne so gnadenlos vom Hausmeister geahndet wie in Deutschland.
»Es gab ein funktionierendes System, das viel Geld gekostet hat. Das Duale System. Das haben wir durch ein Chaos ersetzt, das noch mehr Geld kostet«, sagt Rantzsch. Aber ein deutsches Gesetz ist deutsches Gesetz. Und 72 Prozent sind 72 Prozent. Uwe Rantzsch sieht seinem Pfeifenrauch hinterher. Er hat kleine Mülltonnen in verschiedenen Farben auf seinem Schreibtisch stehen. Er sagt: »Der Transrapid wird jetzt in China gebaut, aber wir haben ein tolles Dosenpfand. Da stelle ich mir die Frage der Verhältnismäßigkeit.«
Rantzsch redet vom »Pfandschlupf«. Man war davon ausgegangen, dass die allermeisten Deutschen ihre Dosen zurückbringen würden; niemand hatte geglaubt, dass sie ihr Geld freiwillig wegschmeißen würden.
Aber sie tun es. Werfen ihre Pfanddosen weg, weil sie nicht wissen, wohin damit. Das Geld, 25 Cent pro Dose oder PET-Einwegflasche, verbleibt im Handel. Bis zum Oktober dieses Jahres sollen es 400 Millionen Euro sein.
400 Millionen Euro Pfandschlupf, 400 Millionen in den Kassen der Supermärkte, weil die Bierdosen nicht zurückgebracht werden. Rantzsch fragt sich, wo diese Dosen alle landen. Vielleicht im Hausmüll, vielleicht in öffentlichen Papierkörben, vielleicht im Wald? In seiner vollautomatisierten Mülltrennungsanlage jedenfalls nicht.
Sie sitzt im Dienstwagen, der sie in ihren Wahlkreis nach Rügen bringt, ihr Kopf ist voll mit den Problemen einer CDU-Chefin des Sommers 2003. Roland Koch hat den Machtkampf eröffnet, auch Friedrich Merz macht Ärger.
Aber Angela Merkel redet über das Dosenpfand. Das Thema lässt sie nicht los. Vor kurzem im Bundestag hat sie das, was das Dosenpfand in Deutschland zurzeit anrichtet, als »grenzenlosen Schwachsinn« bezeichnet. Und alle lachten. Nicht über das Dosenpfand, sondern über sie.
Merkel war 1994 Bundesumweltministerin im Kabinett von Helmut Kohl geworden, und sie nahm dieses Amt sehr ernst. Sie sah, dass sich die Gesellschaft seit 1991 verändert hatte, sie glaubte, dass man Töpfers Verordnung weiterentwickeln müsse, sie wollte nicht, dass einmal gefasste Beschlüsse der Politik das Leben von Gesellschaften über Jahrzehnte bestimmen. Angela Merkel ist in der DDR groß geworden.
»Ich habe damals versucht, eine revolutionäre Neuerung einzuführen, worauf ich auch heute noch stolz bin: Ich wollte, dass man nach und nach Einwegverpackungen zu Mehrwegverpackungen erklärt, wenn sie ökologisch genauso gut abschneiden«, sagt sie. Denn Milchkartons zum Wegwerfen sind ökologisch besser als Milchpfandflaschen. Merkel wollte mit ihrer Politik irgendwann so weit sein, dass Deutschland nicht mehr nach Getränkesorten seinen Müll sortiert, sondern nach der Art von Verpackungen. Aber sie fand keine politische Mehrheit dafür.
Angela Merkel sagt: »Ich habe diese Verordnung geerbt, und ich habe keine Mehrheit gefunden, das Erbe sachgerecht weiterzuentwickeln.« Sie sei an SPD und Grünen gescheitert, die »wollten am liebsten Pfand auf alle Verpackungen«, sagt sie, »und Unterstützung bekamen sie von Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg, die ihre kleinen Brauereien unterstützen wollten. Dabei ging es mehr um Mittelstandspolitik«.
Wahrscheinlich hat das, was dann geschah, sehr viel mit Angela Merkels Aufwachsen in der DDR zu tun. DDR-Bürger mussten auf jedes Glas, das sie kauften, Pfand zahlen, also brachten sie auch jedes Glas zurück. Merkel musste damals sogar klebrige Ketchup-Flaschen zurückbringen. Sie wollte so etwas nie mehr erleben.
Aber die Mehrwegquote sank weiter. Merkel musste handeln. Getränkequoten werden in Deutschland überprüft wie Einschaltquoten und Frauenquoten. Für die Getränke ist die »Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung« in Wiesbaden zuständig. Töpfers »72 Prozent« war die Quote für alle Getränke. Merkels Idee war, dass man nur für solche Getränke Pfand bezahlen sollte, die ihre eigene Quote von 1991 unterschritten hatten. Sie glaubte, dass es eine faire Lösung für die Industrie sei.
Ihr Ministerium schrieb die Novelle der Verpackungsverordnung. Um die Einzelheiten kümmerte sich das Referat WA II 3, das Referat von Ministerialrat Thomas Rummler. Rummler saß noch immer in dem Büro, das er unter Klaus Töpfer bezogen hatte, es lag in der Bonner Ahrstraße. Am 21. August 1998 trat die Novelle in Kraft. Rummler hatte die entscheidenden Worte in § 9 untergebracht. Pfandpflicht, hieß es da, bestehe für solche Getränke, »für die der im Jahr 1991 festgelegte Mehrweganteil unterschritten ist«.
Es sind nur zehn Worte. Aber es sind zehn Worte, die für die deutsche Wirklichkeit im Jahr 2003 verantwortlich sind: Apfelschorle kostet Pfand, Apfelsaft nicht. Eistee mit Kohlensäure kostet Pfand, Eistee ohne Kohlensäure nicht. Cola in Dosen kostet Pfand, Whisky-Cola in Dosen nicht.
Angela Merkels Auto schnurrt auf Rügen zu. Wahrscheinlich hat sie das, was in Deutschland mit dem Pfand passiert ist, so nie gewollt. Ihr Handy klingelt. Sie muss sich jetzt um andere Sachen kümmern.
An den Wänden des Ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit am Berliner Alexanderplatz hängen gerahmte Fotos, sie zeigen saubere Landschaften, gesunde Bäume, satte Wiesen. Wer die Zentrale anruft und in der Warteschleife landet, wird vom Tonband in eine Welt entführt ohne Dosenlabore, Holsten und Mehrwegquoten. Es ist eine Welt ohne Zank und Streit. Man hört das Zwitschern von Vögeln, manchmal hämmert ein Specht.
Der Tisch in Zimmer 4204 ist aus dem Holz der Elsbeere gefertigt, auf ihm stehen kleine Mehrwegflaschen mit Apfel-Mango-Saft, man bekommt sie nur in Bio-Läden. Der Tisch gehört Jürgen Trittin.
Er trägt einen grauen, dreiteiligen Anzug, sein Gesicht ist glatt rasiert, er sitzt zurückgelehnt in einem Stuhl, manchmal lächelt er still in sich hinein, er ist ein Mann, der mit sich zufrieden ist.
Einmal steht er auf, geht an sein Regal, »hier ist sie«, sagt er, er holt eine kleine, weiße Rosenthal-Vase heraus, sie hat die Form einer Getränkedose. Trittin hält die Vase in die Luft, wie ein Jäger den Hasen.
Jürgen Trittin erzählt Geschichten von Kühen aus Bayern, die plötzlich gestorben waren; man habe sie obduziert, sagt Trittin, und in den Mägen seien klein gehäckselte Dosen gefunden worden. »Da haben die Bauern Heu gemacht, sind mit ihrem Mähdrescher über die Dosen gefahren und haben sie klein gehauen, und die Kühe haben das gefressen.«
Er stellt die Dose zurück ins Regal. »Den Status ,ökologisch vorteilhaft' wird die Dose nicht bekommen, das ist bar jeder Realität«, sagt er. Da können die in Bonn-Auerberg forschen, solange sie wollen. Nicht, solange er Bundesumweltminister ist.
Als er 1998 in das Amt kam, hat Jürgen Trittin zunächst den Atomausstieg betrieben. Als er damit fertig war, nahm er sich das Dosenpfand vor. Das war schon schwieriger.
Trittin rief die Leute aus der Wirtschaft und den Industrieverbänden an seinen Tisch aus Elsbeeren-Holz, er organisierte »Dosengipfel«, er stritt, er verhandelte, er setzte Fristen. Er traf auf Wirtschaftseliten, »die mit der Erfahrung auftraten, dass die Politik für ihre Manöver erpressbar ist«, sagt er. »Sie haben sich als Marktmacht im real existierenden Kapitalismus verstanden und dachten, die Regierung tanzt nach ihrer Pfeife.«
Das Dosenpfand war auch eine Chance für Trittin. Er konnte daran zeigen, dass in Deutschland eine andere Politik gemacht wird, jetzt, wo er Minister ist. Dass es in Deutschland den Primat der Politik gibt.
Als Jürgen Trittin noch ein junger Mann war, studierte er in Göttingen Sozialwissenschaften. Er war Sprecher des Studentenparlaments und Mitglied im »Kommunistischen Bund«. Er glaubte, den Kapitalismus verstanden zu haben. Er war davon überzeugt, dass Politik immer verliert, wenn sie sich mit dem Kapital anlegt.
Jetzt hat er das, woran er einmal geglaubt hat, widerlegt. Er ist klüger als damals, auch stärker.
Jürgen Trittin hat gewonnen. Er und seine Neun-Prozent-Partei. »Die Leute haben gesehen: Die Grünen sind diejenigen in der Regierung, die sich nicht einfach beiseite drängen lassen von Unternehmen, die viel Geld haben«, sagt der Minister. Die Grünen haben die letzten Wahlen auch wegen des Dosenpfands gewonnen.
»Das Symbolhafte an dieser Geschichte ist, dass in diesem Lande ökonomisch relevante und mächtige Gruppierungen immer noch glauben, sie könnten sich dem entziehen, was politische Rahmensetzung ist. Letztendlich funktioniert Gesellschaft aber nicht nur aus dem Markt. Zur Gesellschaft gehört auch, dass Gesetze und Verordnungen für alle gelten, auch für die Großen. Sie setzen einen Rahmen für den Markt.« Wenn er über das Dosenpfand redet, hört sich Jürgen Trittin an wie Otto Schily.
So wie sich Schily später in das Zuwanderungsgesetz verbiss, so machte sich Trittin an die Verpackungsverordnung seiner beiden Vorgänger. Er wusste, dass die 72-Prozent-Quote, jene Marke, bei der Töpfers Sprengsatz scharf gemacht werden müsste, unterschritten war. Er musste handeln. Und er wollte handeln.
Für einen kurzen Moment in der zwölfjährigen Dosenpfandgeschichte schien beim Dosengipfel am 13. Juni 2000 alles gut zu werden. Ministerium, Getränkegroßhändler und Dosenhersteller waren sich einig darin, dass eine Abgabe auf Einwegdosen das Mehrwegsystem besser stützen würde als ein Pfand, aber weniger umständlich und billiger sei. 25 Cent auf jede Bierdose, und der Markt würde den Rest schon regeln.
Doch das bloße Wort »Abgabe« ließ den Vertreter des BDI aufspringen: »Auf gar keinen Fall«, man sei grundsätzlich gegen jede weiteren Abgaben.
Damit war der Konsens gescheitert. Durch den ideologischen Starrsinn des Industrieverbands.
Also würde bepfandet werden. Trittin rief seine Fachleute zusammen. Die von Merkel weitergereichte Verordnung sollte übersichtlicher werden: Pfand nur noch auf ökologisch schädliche Verpackungen wie Bierdosen und PET-Einwegflaschen. Auf Mehrwegflaschen, Schlauchbeutel und Tetrapacks nicht. Damit war schon Angela Merkel gescheitert.
Am 23. April 2001 lag die Novelle dem Kabinett vor. Sie war im Referat WA II 3 geschrieben worden. Thomas Rummler arbeitete noch immer in Bonn, er war inzwischen von der Ahrstraße in die Bernkasteler Straße gezogen, ansonsten war seine Welt die alte geblieben. Er fuhr noch immer in die Bretagne und war froh, wenn er in ein Deutschland zurückkam, das sauber war.
Das, was so anders, so einfach und so übersichtlich werden sollte, klang in der einwandfreien Formulierung von MinR Thomas Rummler so: »Die Befreiung nach Absatz 1 sowie §6 Abs. 3 gelten nicht für Verpackungen von Bier, Mineralwasser (einschl. Quellwässer, Tafelwässer und Heilwässer), Erfrischungsgetränken mit Kohlensäure und Fruchtsäften (einschl. Fruchtnektare, Gemüsesäfte und andere Getränke ohne Kohlensäure; ausgenommen diätische Lebensmittel), die keine ökologisch vorteilhaften Getränkeverpackungen sind.«
Am 13. Juli 2001 ging die Verordnung in den Bundesrat. Dessen damaliger Präsident Kurt Beck rief den Tagesordnungspunkt 72 auf, »Zweite Verordnung zur Veränderung der Verpackungsverordnung«. Dann meldete sich Wolfgang Clement zu Wort, zu der Zeit Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.
Er sagte: »Ich spreche im Interesse eines Landes, das Sitz bedeutender, ja der größten deutschen Handelsunternehmen, gleichzeitig Standort von Unternehmen der großen Aluminium- und Weißblechindustrie ist.« Clement redete lange, und irgendwann sagt er: »Ich befürchte, dass es sich dann für die Dose entscheiden wird.«
Und gegen Trittins Novelle. Nun galt wieder das, was 1998 von Angela Merkel erfunden wurde. Pfand auf Eistee mit Kohlensäure, kein Pfand auf Eistee ohne Kohlensäure. Es war eine Verordnung, die bisher nur auf Papier bestand. Niemand hatte sich getraut, Merkels Verordnung Wirklichkeit werden zu lassen. Aber Jürgen Trittin ist ein Minister von vatikanischer Konsequenz.
»Ich bin nur Töpfers Testamentsvollstrecker«, sagt er bei einem Kamingespräch der Landesumweltminister. »Ich exekutiere nur.« Und er sah wieder vergnügt aus.
Trittin war entschlossen, Töpfers Gesetz in die Welt zu setzen. Die Mehrwegquoten aller deutschen Getränke für 1997 und 1998 waren seit Frühjahr 2000 veröffentlicht, und sie lagen unter den 72 Prozent. Jetzt musste nur noch nachgemessen und das Ergebnis im »Bundesanzeiger« veröffentlicht werden. Dann wäre Töpfers Geschöpf, Merkels Fortzüchtung, Trittins ungeliebtes Monstrum freigesetzt.
Aber es war ein langer Weg, bis eine seit langem festgestellte Getränkequote im »Bundesanzeiger« veröffentlicht werden konnte. Zumal, wenn es um die Belange von Metro, Aldi, Rewe geht, also um sehr viel Geld. Zumal, wenn es eine Lobby betrifft, die genauso entschlossen ist wie der Bundesumweltminister. Zumal in einem Land, das über erstklassige Wirtschaftsanwälte verfügt.
Am 7. Juli 2000 saßen die drei Herren der Getränke- und Verpackungsindustrie im Besprechungszimmer des Stuttgarter Rechtsprofessors Klaus-Peter Dolde. Vor ihnen stand »Teinacher Stilles Mineralwasser« in der PET-Flasche, Mehrweg. Der Verwaltungsrechtler Dolde hat schon für Biblis und andere Großprojekte gestritten. Jetzt ging es darum, eine Notiz im »Bundesanzeiger« zu verhindern.
Dolde sah darin kein Problem. »Die Ermittlung der Mehrwegquote ist nirgendwo geregelt«, sagt er. In absoluten Zahlen werde heute deutlich mehr in Mehrwegflaschen abgefüllt als 1991. Nur der relative Anteil sei gefallen, vor allem weil Milch kaum mehr in Flaschen, sondern in Kartons gekauft werde.
Und wenn das Pfand tatsächlich erhoben würde, die Ladenbesitzer für teures Geld ihre Automaten installiert hätten, könnte die Mehrwegquote wieder über die 72 Prozent steigen. Dann müsste die Pfandpflicht laut Verordnung wieder entfallen. Das wäre doch absurd. Der Fall schien klar.
Im Namen von Karlsberg, DAB, Bitburger, Aldi, Rewe, Plus und anderen klagte Dolde vor dem Verwaltungsgericht Berlin gegen die Bekanntgabe der Nacherhebung im »Bundesanzeiger«.
Der Richter wies die Klage aus formalen Gründen zurück. Die Ritter der Dose zogen weiter, eine Ebene höher, vors Oberverwaltungsgericht Berlin. Dort erreichten sie einen Aufschub der Bekanntgabe, so lange, bis auch die Richter sich in die Problematik des Standbodenbeutels und der Ausnahmesituation von »Perl-, Schaum- und Wermutwein« eingearbeitet hätten.
Am 20. Februar 2002 war es so weit. In einem 58-seitigen Urteil wurde die Klage abgelehnt: Es könne, so die Richter, »jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass die Quotenregelung des § 9 Abs. 2 VerpackV nach wie vor die ihr zugeschriebene Stabilisierungsfunktion erfüllen kann«.
Stabilisierung der Mehrwegindustrie. Nicht Stabilisierung des deutschen Landschaftsbilds. Die Bierdose lag zwar immer noch auf dem Waldweg, war den Akteuren jedoch längst außer Sicht geraten.
Es wurde eng für die Dosenlobby. Als einziger Ausweg blieb Karlsruhe. 1994 hatte das Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde des Rewe-Chefjustiziars Gert Meier gegen das Dosenpfand abgelehnt. Meier war damals der Auffassung, das Sammeln von Milchbechern und Dosen im Laden sei »Ekel erregend« und somit mit der Menschenwürde der Beschäftigten nicht zu vereinbaren. Die Klage wurde als verfrüht abgewiesen, »mangels gegenwärtiger Betroffenheit«.
Jetzt war die Betroffenheit mehr als gegenwärtig. Dolde legt im Namen von Heemann Mineralbrunnen Beiseförth und anderen Besser-Wässern Verfassungsbeschwerde gegen die Veröffentlichung ein. Im Juni 2002 lehnt Karlsruhe ab.
Die explosiven Zahlen »71,33 v. H.« und »70,13 v. H.« durften im »Bundesanzeiger« erscheinen. Das geschah am 2. Juli 2002. Damit war die Verordnung in Kraft. Dolde schickte in letzter Sekunde noch einen Schriftsatz nach Berlin, bei dem allein die Klägerliste 1000 Seiten umfasste, die vermutlich größte Klage der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte - doch ohne aufschiebende Wirkung.
Die Bombe tickte. Nichts und niemand konnte sie mehr entschärfen.
Außer einer neuen Regierung. Karlsberg, DAB, Bitburger, Aldi, Rewe und andere hofften jetzt auf Edmund Stoiber.
Es ist nicht Hass, was - nur wenige Straßen von Doldes Stuttgarter Kanzlei entfernt - Rechtsanwalt Clemens Weidemann empfindet, wenn er auf den Bundesumweltminister angesprochen wird. Auch nicht Verachtung. Obwohl er Jürgen Trittin selbstverständlich für einen interventionsverliebten Altkommunisten hält. Er versteht nur nicht, wie das geschehen konnte.
Weidemann ist seit 20 Jahren im Abfall- und Verpackungsrecht tätig. In den letzten Jahren hat er gut die Hälfte seiner Arbeitszeit für den Kampf gegen Trittin verwendet. Er ist einen anderen Weg als Dolde gegangen und hat gegen die Länder geklagt. Die Länder sind für den Vollzug der Verordnung zuständig.
Er ist ein kräftiger, gut frisierter Mann. Ein Kämpfer. Weidemann hat vor gut zwei Dutzend Verwaltungsgerichten Klage gegen das erhoben, was er »Zwangspfand« nennt. Er hat in Karlsruhe geklagt, in Leipzig, in Berlin. Hat in Düsseldorf den einzigen Sieg im Dosenkrieg errungen, bevor er wenige Wochen später in Berlin wieder kassiert wurde. Hat Sprungrevisionen beantragt, Schriftsätze formuliert, Fachaufsätze geschrieben.
Am 16. Januar 2003 hat das Bundesverwaltungsgericht in einer formalen Entscheidung erklärt, Weidemann hätte gegen den Bund klagen müssen. Eine Sachentscheidung steht weiter aus. Jetzt wirkt der Anwalt müde. Er hat diesen Schlag noch nicht verdaut. Warum das Ganze? Warum eine Milliarde Euro investieren in Automaten, warum die Dosenindustrie in den Bankrott treiben, nur um eine Verordnung aus einer anderen Zeit zu exekutieren, als es noch keine gelben Tonnen gab?
»Wir haben«, sagt er schließlich, »ein Vermittlungsproblem. Die besten Argumente nutzen nichts, wenn 70 Prozent der Wähler vom Gegenteil überzeugt sind.« Aber so sei dieses Land: »Wenn in Deutschland die Silben ,Öko' vor etwas gesetzt werden, dann ist das nicht mehr zu hinterfragen.« Der Deutsche sei eben obrigkeitshörig.
Und die Verbände hätten zu früh aufgegeben. Nach der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts sind sie nach und nach eingeknickt. Der Handel denkt erst mal an den nächsten Kassentag. Der ist kein Kämpfer. Trittin ist es gelungen, einen Keil zwischen die Großhändler und die Dosenindustrie zu schlagen. »Wähler sind eben auch Käufer«, sagt Weidemann. »Verständlicherweise war auch die Angst vor dem Vollzug und vor den Bußgeldern groß. Und die Angst vor Resch.«
Der Name fällt, als müsste man ihn kennen.
Eigentlich wollte Jürgen Resch am Wochenende in England sein. Er hatte eine Einladung von Prince Charles. Resch sollte auf einem Landgut wohnen, er sollte an einer Gesprächsrunde mit Prince Charles zum Thema »Nachhaltigkeit« teilnehmen und ansonsten das Leben genießen.
Aber dann kamen Anrufe. Sie klangen nicht gut. Seine Zuträger raunten, das bundeseinheitliche Rücknahmesystem für Einweggebinde sei neuen Gefahren ausgesetzt. Ein »Großangriff« sei geplant. Jürgen Resch beschloss, dass er in Deutschland gebraucht werde. Er sagte Prince Charles ab.
Jetzt sitzt er im Restaurant des Berliner Hotels »Maritim Pro Arte« und telefoniert. »Großangriff«, murmelt Resch in sein Telefon, »man weiß noch nichts Genaues.« Er kommt nicht zu Ruhe.
Resch ist Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe. Er kämpft für das Dosenpfand, als ginge es um sein eigenes Leben. Resch ist ein groß gewachsener Schwabe in Blue Jeans. Er hat Roland Demleitner mitgebracht, einen eher kleinen Mann aus Bayern, der einen Anzug trägt. Demleitner ist Geschäftsführer beim Bundesverband mittelständischer Privatbrauereien, ein Lobbyist der Mehrwegindustrie.
»Der Herr Demleitner weiß auch alles«, sagt Resch. Demleitner nickt.
Resch und Demleitner haben nicht die Macht von Aldi oder Coca-Cola, aber sie sind stärker. Sie sind gegen Industriegiganten zu Felde gezogen, sie haben sie gehetzt, getriezt und manchmal aus der Fassung gebracht, weil sie immer das letzte Argument hatten. Ihr Argument ist das Gesetz. Die Verordnung. Die Quoten. Rummlers Paragrafen. »Man kann das ja alles nachlesen«, sagt Jürgen Resch oft.
Vielleicht war der 5. Dezember des letzten Jahres der schönste Tag, den Resch in seinem Mühen erlebt hat, besser als ein Essen mit Prince Charles jedenfalls.
Er saß im Konferenzraum 4134 des Ministeriums von Jürgen Trittin, 28 schwarze Ledersessel standen um einen Tisch herum, der Minister war da, sein Staatssekretär, Vertreter aus dem Kanzleramt, dem Wirtschaftsministerium, dem Handel, der Getränkeindustrie. Und er, Jürgen Resch von der kleinen Deutschen Umwelthilfe. Man traf sich zum »Dosengipfel«.
Es waren nur noch ein paar Tage bis zum Jahreswechsel, ab dem 1. Januar sollte Deutschland unter Pfand stehen, aber die Situation war unübersichtlich geworden. Es gab noch die Ankündigung des Handels, das Dosenpfand vorerst zu boykottieren. Es gebe keine Rechtssicherheit, man wisse nicht, ob das Gesetz Bestand haben werde. Es lief auf einen Eklat hinaus.
Jürgen Resch hörte sich die Argumente seiner Gegner an. Er wusste, was er zu tun hatte. Irgendwann meldete er sich zu Wort und sagte: Es gibt geltendes Recht. Wenn der Handel gegen dieses Recht verstößt, werden wir Testkäufe durchführen. Wir werden in die Geschäfte ziehen und prüfen, ob sie das Gesetz einhalten. Es werden Tausende Geschäfte sein. Wir werden Anzeigen erstatten. Es wird teuer werden. Es drohen Strafgelder von 250 000 Euro. Wir werden Medien mitbringen.
Resch erzählt diese Geschichte mit Zufriedenheit, sein Freund Demleitner nickt dazu, während er auf seinem Teller einen Fisch zerlegt. Dann sagt Resch: »Und wissen Sie, was dann passiert ist? Dann ist der Mann von Aldi ausgerastet. Der hat gesagt: ,Wenn Aldi von Wettbewerbern angezeigt wird, gibt es Krieg!'«
Nicht mal von Aldi hat sich Jürgen Resch einschüchtern lassen. Am nächsten Tag schrieb er einen Brief, in dem er ausgesuchten Supermärkten seine Testkäufe ankündigte. Er verschickte ihn 4130-mal. Er sagt, er habe damit den Pfandboykott »totgetreten«.
Jürgen Resch kämpft den Kampf eines deutschen Ralph Nader, er ist in der Nahrungsindustrie schon jetzt so berüchtigt wie der amerikanische Verbraucheranwalt, der sich mit allem anlegte, was groß war, mit Volkswagen, Microsoft, mit Ronald Reagan. Nader wurde Präsidentschaftskandidat. Resch ist immerhin der König des Dosenpfands. Er ist besser als seine Gegner. Man kann ihm ein Gutachten vorlegen, das der TÜV im Auftrag der deutschen Verpackungsindustrie erstellt hat - und Resch winkt ab. In dem Gutachten steht, dass Getränkedosen nur einen Anteil von 0,8 Prozent an dem sichtbaren Müll haben, der in deutschen Landen liegt. Resch kennt dieses Gutachten natürlich. Als er es in die Finger bekam, beauftragte er das Witzenhausen-Institut mit einem Gegengutachten. Darin stand, dass bei Gutachten des TÜV unsauber gearbeitet worden ist. Resch sagt, Witzenhausen sei absolut seriös, »das bestätigt Ihnen jeder«. Roland Demleitner nickt.
Man kann ihm auch ein Gutachten des Baseler Prognos-Instituts vorlegen, und Resch schüttelt schon mit dem Kopf, bevor man daraus vorgelesen hat. Das Prognos-Institut hat Forschungen im Auftrag des Umweltbundesamtes betrieben und kam danach zu dem Schluss, Pflichtpfand auf Einwegverpackungen sei »ökologisch ohne Belang und ökonomisch eine Fehlleitung von Ressourcen«.
Resch schüttelt noch immer den Kopf. Bewertungen, sagt er, darf nur das Bundesumweltamt selbst vornehmen, nicht irgendwelche Institute.
Auf dem Tisch liegt ein grünes Buch, 29,2 Zentimeter hoch, 20,6 Zentimeter breit, 17 Millimeter dick, es hat 239 Seiten, ohne Anhang. »Ökobilanz für Getränkeverpackungen II/Phase 2« steht vorn auf dem Buch. Das Umweltbundesamt hat es herausgegeben, und damit ist es amtlich. Es liegt auf dem Tisch, grün und schwer, endgültig wie die Gesetzestafeln Mose.
Es sagt Nein zur Dose. Zu viel CO2-Ausstoß, zu viel Wasserverbrauch, zu viel Bodenbelastung.
Und die Dosenforscher, die Trauer des Holsten-Chefs, die Kurzarbeit bei Ball Packaging? Dafür gibt es eine Mitteilung des Getränkegroßhändlerverbands: 10 500 Leute seien im ersten Halbjahr eingestellt worden, allein 1500 bei Demleitners Privatbrauern. Ist das nichts?
Wenn man Jürgen Resch fragt, ob er das, was Millionen Bundesbürger beim Einkaufen erleben, gut findet, diese überforderten Verkäuferinnen, diese klebrigen Säcke, dann schaut er erst einmal hinüber zu Roland Demleitner. Demleitner nickt nicht mehr. Er trinkt hastig aus seinem Glas »Radeberger«. Dann sagt Resch: »Aber das ist doch nur eine Übergangslösung.«
Es ist ein anderes Land geworden, dieses Deutschland unterm Pfand. Eine Frau, sie ist Filialleiterin bei Plus, erzählt, dass sie jeden Morgen einen Schock bekommt, wenn sie zur Arbeit kommt. In ihrem Laden lagern leere Bierdosen, es riecht wie in einer Kneipe. Ein Mann steht bei Real vor einer Kasse, er stellt zehn leere Bierdosen auf das Band und einen Kassenbon.
Auf dem Bon steht, dass er neulich bei Real 20 Bierdosen gekauft hat. Die Kassiererin notiert auf dem Zettel, dass der Mann noch ein Guthaben auf zehn Bierdosen hat. Der Mann steckt seinen Bon wieder ein.
Die Firma Tengelmann hatte ihren Kunden sechs Monate lang Pfandgutscheine mitgegeben, die sie »Token« nannte. »Hast du die Token, Schatz?«, fragte ein Mann, der mit seiner Frau bei Tengelmann einkaufen ging. Zum geregelten Leben brauchte der Bundesbürger nun Personalausweis, Führerschein und Token.
Seit Mitte Juni sind Tengelmanns Token verschwunden. Das Unternehmen hat alle Einweggetränke aus dem Regal genommen. »Red Bull« zum Beispiel gibt es jetzt bei Tengelmann einfach nicht, so wie es im DDR-Laden keine Südfrüchte gab.
Tengelmanns Gesandter bei den Dosengipfeln im Umweltministerium war Peter Zühlsdorff. Ein gelernter Kaufmann, der in diverse Konzernaufsichtsräte aufgestiegen ist und einen gepflegten Dreitagebart trägt. Als Jürgen Trittin ihn bei einem der Dosentreffen als »Verweigerer« ansprach, antwortete Zühlsdorff: »Aber mit Steinen geschmissen habe ich nie. Sie sind doch fundamentalistischer als der Chomeini.«
Dieser Ton, sagt Zühlsdorff, sei allerdings die Ausnahme gewesen.
Nachdem die Wahl verloren und das Pflichtpfand damit unausweichlich war, reiste auch Zühlsdorff kurz vor Weihnachten noch einmal nach Berlin. »Die Juristerei war gelaufen. Jetzt musste die Kuh vom Eis«, sagt Zühlsdorff.
Der Handel stand vor dem Problem, die zu erwartenden Pfand- und Verpackungsflüsse irgendwie zu kanalisieren. Es ging um bis zu sechs Milliarden Euro Pfand pro Jahr. Die umständlichste Lösung: Jeder bringt seine leere Dose dorthin zurück, wo er sie gekauft hat. Eine absurde Vorstellung, darin waren sich die Versammelten einig. Was sie nicht daran hinderte, genau dies dem Land für eine Übergangszeit zuzumuten.
Im Gespräch war eine Art Internet-gestütztes Zentralregister für Dosen, das jede der sieben Milliarden Getränkedosen in Deutschland verorten können müsste. Ähnlich lückenlos wie Atommüllfässer.
Ein »Exekutivausschuss Pfandsystem«, in dem neben Zühlsdorff auch Metro und Rewe saßen, schlug vor, das Duale System, in dem alle drei Firmen auch Aktionäre sind, mit dem Auseinanderfummeln zu betrauen. Das Kartellamt lehnte ab. Zühlsdorff legte nieder.
Es übernahm der Bundesverband der deutschen Ernährungsindustrie (BVE). Dessen Vorsitzender Peter Traumann durfte jetzt das Rücknahmesystem ausarbeiten. Es musste perfekt sein. So perfekt wie die Lkw-Maut; eben nicht einfach nur Vignetten. Die Großdiscounter fingen währenddessen an, ihre Regale leer zu räumen: »Die Automaten bedeuten für uns«, sagt Peter Zühlsdorff von Tengelmann, »100 Millionen Euro Investition. Wir sind Kaufleute und haben gerechnet. Es ist wirtschaftlicher, auf Einweggetränke ganz zu verzichten.«
Ende März diesen Jahres - die USA waren gerade im Irak einmarschiert - traf der Systemfindungsausschuss seine Entscheidung: Gegen das »Balken-Scanner-Verfahren«, mit der die Bundesdruckerei Dosen fälschungssicher machen wollte. Und für die »Farbumschlags«- oder »Direktdruck«-Dosenautomatenphilosophie.
Doch bevor die Ingenieure sich an die Arbeit machen konnten, kam ein Brief aus Brüssel: Die EU-Kommissare Frits Bolkestein und Margot Wallström mahnten im Namen der ausländischen Dosenabfüller an, endlich das allgemeine Rücknahmesystem einzuführen, »schon vor dem 1. Oktober«; und ganz egal, ob mit Balken-Scanner oder nicht. Außerdem bemängelten sie die »erhebliche Rechtsunsicherheit« der Verpackungsverordnung.
Zumindest Letzteres war dem Groß- und Einzelhandel aus der Seele gesprochen. Traumann von der Lenkungsgruppe ergriff die Vorlage und teilte den Automatenbauern mit, sie könnten die Arbeit bis auf weiteres einstellen.
Damit gab es zwar eine gültige Verordnung, ein Ultimatum und einen entschlossenen Minister. Doch jeder war auf sich selbst gestellt. In Deutschland, dem Heimatland des Regelwerks, kehrte die Anarchie ein: Jeder durfte machen, was er wollte. Es begann das Durchwursteln.
Jürgen Trittin steht vor einem Kühlregal, zwischen »Radeburger Knackern« und Spaghetti der Marke »Schneller Teller«. Er trägt einen grauen Anzug. Er sieht immer noch glücklich aus.
Gleich wird der Bundesumweltminister den ersten Automaten einweihen, der bepfandete Einweggebinde zurücknehmen kann. Der Automat steht in einer Filiale der Supermarktkette Netto in Berlin-Pankow. Es ist 10.30 Uhr an einem Montagmorgen. Viele Fotografen sind da, auch Fernsehteams drehen diesen Moment. Es sieht so aus, als sei nun alles gut.
Neben Trittin steht ein Netto-Mitarbeiter in einem Hundekostüm. Es ist nach dem Aussehen eines schwarzen Yorkshire-Terriers geschneidert worden, dem Wappentier von Netto. Der Mann in dem Hundekostüm übergibt dem Minister eine gelbe Tragetasche, in der leere PET-Flaschen liegen. Dann gehen sie ein paar Schritte nach rechts, Trittin, die Fotografen und der Hund.
Der Automat steht etwas verloren in einer Ecke, aber er strahlt marineblau. Er heißt »Rhepro« und kommt von der Firma »Prokent« aus Thüringen. Das Vorgängermodell hat vor einigen Jahren den Thüringer Designpreis gewonnen.
Trittin zieht eine Flasche aus der Tragetasche und schiebt sie in ein Loch. Langsam zieht der Rhepro das zwangsbepfandete Einweggebinde in sein Innerstes, es ist ungefähr so, als wenn ein Patient in einen Computertomografen einfährt.
Drinnen rollt die Flasche um ihre eigene Achse, in 0,5 Sekunden wird sie von Scannern auf Pfand untersucht, ein mechanischer Arm fährt aus und wischt sie vom Band, die Flasche landet in einem silberfarbenen Container, es knirscht und knackt, die Flasche wird aufgeschlitzt und platt gedrückt, dann ist es wieder ruhig.
Alles könnte so einfach sein wie das hier. Überall in Deutschland könnten marineblaue Rhepro stehen, in den vielen tausend Supermärkten, Tankstellen, Kiosken, Kantinen, Kaufhäusern, überall da, wo man etwas zu trinken kaufen kann.
Aber so ist es nicht. Ein Rhepro mit Crasher und kleinen Extras kostet um die 30 000 Euro, so viel wie ein Kleinbus, zu viel für den deutschen Handel. Sagt der Handel. Dieser Automat wird kein einheitliches Rücknahmesystem über Deutschland bringen. Er steht jetzt in 10 von 193 Netto-Filialen, mehr nicht. Er ist nur eine kleine Insellösung in der großen Landschaft der anderen Inseln.
Die Firma Lekkerland-Tobaccoland, die hauptsächlich Tankstellen und Kioske beliefert, hat vor kurzem behauptet, sie habe ein flächendeckendes System erfunden. Es arbeitet mit einem Pfandlogo auf Dosen und Flaschen, sie werden in Plastiksäcke gestopft, mit Barcodes beklebt und in Zählzentren gefahren. Dort wird jede Dose gezählt, bewertet, auf Pfandlogo und EAN-Code geprüft, werden Pfandgutschriften und -belastungen errechnet und verbucht. Alles sei sehr einfach, sagt Lekkerland-Tobaccoland. Jeder Händler könne sich daran beteiligen. Überall ist Lekkerland.
Noch ist allerdings nicht einmal klar, ob jede Tankstelle mit kodierten Plastiksäcken arbeiten möchte. Vielleicht wird Lekkerland eines Tages eine große Insel geschaffen haben, vielleicht. Aber es wird wohl eine Insel bleiben, eine von vielen Inseln in einem wiedervereinigten Land.
Jürgen Trittin drückt auf einen grünen Knopf und zieht den Pfandbon aus dem Schlitz. 2,25 Euro. Der Rhepro hat alle Flaschen geschluckt. »Die Inseln werden zu Kontinenten zusammenwachsen«, sagt Trittin. Dann geht er schnell davon.
Er weiß, was es bedeutet, wenn ein Kontinent zusammenwächst. Jürgen Trittin hat die deutsche Industrie besiegt, aber jetzt steht die Europäische Union vor ihm. Größer als Holsten-Pilsener. Vielleicht wird Trittin am Ende an einem Holländer mit weißen Haaren scheitern.
Frits Bolkestein ist EU-Kommissar für die Belange des Binnenmarktes. Er passt darauf auf, dass niemand aus der Reihe tritt, seine Freizeit verbringt er als Vorsitzender eines Bach-Orchesters in Amsterdam. Bolkestein möchte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten, weil ein Land, das mit Pfandbons und Insellösungen hantiert, gegen europäisches Recht verstößt. Es gibt Klagen ausländischer Sprudelabfüller, die ihre Flaschen nicht mehr in deutsche Regale bekommen. Inzwischen ist die Angelegenheit auf die höchste Ebene gewandert - EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hat Gerhard Schröder einen Brief geschrieben, in dem er den Kanzler darum bittet, sein Land vom Pfand zu befreien. So lange jedenfalls, bis es ein geregeltes Rücknahmesystem gibt.
Gerhard Schröder schrieb, es gebe keinen Grund zur Aufregung, weil das Rücknahmesystem kommen werde, »in wenigen Wochen«. Es sind die Reflexe eines Schuldners, der seine Miete nicht mehr bezahlen kann.
Mit Deutschland und der Dose ist es wie mit Deutschland und der Welt. Die anderen ziehen davon, und Deutschland schraubt an seinen maroden Systemen. Am Bildungssystem, am Arbeitsmarkt, am Steuersystem. Und am Rücknahmesystem.
Die Deutschen sammeln währenddessen weiter ratlos ihre Dosen. Sie murren, aber wüten nicht. Sie glauben immer noch, die ganze Unbill müsse doch zu irgendetwas gut sein, und wenn sie sonntags durch ihre Wälder laufen, glauben sie, da lägen jetzt weniger Dosen herum. Und vielleicht stimmt das ja auch. Vielleicht wird nach dem 1. Oktober, dem Ende der endlos scheinenden Übergangszeit, alles besser werden. Vielleicht.
Kürzlich stand ein Herr mit einem großen Karton im Büro des bayerischen Umweltministers. In der Kiste lagen Bier- und Erdnussdosen, Sportgetränke, Weichspüler- und Schnapsflaschen, »Capri Sonne« im Standbodenbeutel, Nescafé, »Smirnoff Ice« und Cola-Mix - alles bunt durcheinander und unbestimmbar wie der Korb eines Pilzesammlers. Der Herr war von der bayerischen Ernährungswirtschaft, und er hatte nur eine einzige Frage: »Was ist davon in Zukunft pfandpflichtig?«
Für Pfandbestimmungsfragen gibt es im bayerischen Ministerium den Sachbearbeiter Helmut Hetz. Doch auch der erbat Bedenkzeit: »Ich muss erst die genauen Produktbeschreibungen studieren. Den exakten Molkeanteil, die Alkoholprozente, die Schnaps- und Joghurtproportion.«
Bayerns Umweltminister Werner Schnappauf sitzt im Landtagsrestaurant im Maximilianeum und isst Leberkäse, während er die Geschichte erzählt. Er sieht kein bisschen bayerisch aus. Eher wie sein Ministerpräsident.
Schnappaufs Heimat Oberfranken hat die größte Brauereidichte der Welt. Die bayerischen Brauer wollten das Pfand mehr als jeder andere. Jetzt haben sie es. Schnappauf wollte es nicht: »Wenn wirklich eines Tages Automaten aufgestellt sein sollten, könnte das dem Mehrwegsystem sogar schaden. Weil der Kunde dann kein schlechtes Gewissen mehr beim Dosenkauf hat.«
Von Schnappauf wird maßgeblich abhängen, wie der Bundesrat am 26. September abstimmt, wenn Jürgen Trittin die Novelle der Verpackungsordnung vorlegt. Es ist Trittins zweiter Versuch.
Auf die Mehrwegquote wird verzichtet, sofern 80 Prozent der Getränke »ökologisch vorteilhaft« verpackt sind. Anstatt zwischen Getränkesorten soll nun zwischen Verpackungsarten unterschieden werden. »Vorteilhafte« Verpackungen wie Milchbeutel und Saftkartons werden vom Pfand befreit, die anderen nicht.
Und wer entscheidet über die Vorteilshaftigkeit? »Wenn es nach dem Trittin geht«, Schnappauf betont den Namen auf der ersten Silbe, »sollen drei Verfassungsorgane, nämlich Kabinett, Bundestag und Bundesrat, sich in der Zukunft mit der Frage befassen, wie ökologisch ein neuer Joghurtbecher oder eine Superdose ist«, sagt Schnappauf. »Das ist doch Wahnsinn.«
Dann zieht er aus der Aktentasche seines Referenten eine schwarze, popgrün bedruckte Dose hervor, auf der »Get One!« steht, ein ökologisches Unding, mit Plastikdeckel und Plastikspieß. »Hier«, sagt Schnappauf, »da ist kein Pfand drauf. Weil's eine Gurke ist.« »Get One!« ist eine Spreewaldgurke.
Nachdem Rummlers Text durch die Instanzen gereicht war, hatte sich die Rationalität der Novelle bereits stark gemildert. So werden Fun-Drinks bepfandet, Whisky-Colas nicht, sofern der Alkoholgehalt über 15 Prozent liegt, »Müller Drink Vitamin«-Saft ist bepfandet, »Müllermilch Erdbeer« dagegen nicht - und Gurken sowieso nicht, weil man sie nicht trinken kann.
»Es bleibt kompliziert«, sagt der Minister und müsste jetzt eigentlich noch etwas hinzufügen. Es ist ein schöner Tag, und eine Besuchergruppe im Landtag hat eine Blaskapelle mitgebracht. Wozu jetzt erzählen, dass die kuriose Ausnahmeregelung für Milch auf Druck Bayerns zu Stande gekommen ist. »Müller Milch« kommt aus Bayern.
Manchmal trifft Schnappauf in München seinen Vorvorgänger Peter Gauweiler. Der ist heute einfacher Abgeordneter, und alles, was ihn damals bewegte, ist weit weg. Gauweiler liebt es, über ein Land herzuziehen, das sich hingebungsvoll mit dem eigenen Müll beschäftigt, während die Beschäftigung ins Ausland abwandert. Dann erzählt Gauweiler von früher und sagt: »Wir wollten nicht zu sehr nach oben oder nach vorn schauen. Wir hatten einen Kanzler mit Strickjacke und 'Romika'-Sandalen, und von diesem Kanzler ging aus: Die Deutschen sind endlich kreuzbrav geworden. Die Einzigen, die hier noch Krieg führen, sind die Grünen. Und die Grünen haben gesagt: Okay, führen wir den Krieg eben an der Mülltonne.«
Schnappauf muss zurück ins Plenum. »Es ist eine traurige Geschichte«, sagt er. Die Verbände hätten versagt, weil sie zu hoch gepokert und sich nicht abgesprochen hätten. Das System der Erarbeitung politischer Lösungen habe auch versagt. »Wenn Brüssel nicht noch alles über den Haufen wirft, dann ist das Pfand irreversibel. Solch ein gigantischer Aufwand an Zeit und Geld. Wissen Sie eigentlich, wie hoch der Anteil der Getränkeverpackungen am deutschen Müll ist? Anderthalb Prozent.«
Der Minister erhebt sich, um in den Landtag zu eilen. Zurück auf dem Tisch bleibt die Dose mit der unbepfandeten Erlebnisgurke »Get One!«. Es ist ein kleiner Zylinder aus Weißblech. Eigentlich nur eine Dose.
Nur eine Dose.
VOM GUTEN PLAN ZUR SCHLECHTEN PRAXIS
Es begann mit einem Ärgernis: der rostigen Bierdose in der Landschaft. Inzwischen ist das Dosenpfand selbst zum Ärgernis für Millionen Haushalte geworden, zum Alptraum für die Angestellten im Supermarkt und zur Lachnummer im Ausland.
Sieben Monate nach Pfandbeginn gibt es immer noch kein bundesweites, einheitliches Rücknahmesystem. Der Handel hat die Arbeit daran bis auf weiteres abgebrochen. Die Kunden müssen sich mit regional höchst unterschiedlichen »Insellösungen« arrangieren.
Sieben Monate nach der Pfandreform ist die Republik zu einem Land der Ratlosen geworden, in dem die Bürger mit ihren Leerguttüten, Tokens und Pfandbons von Laden zu Laden irren, um nur ja nichts falsch zu machen.
Die geltende Verordnung ist verwirrend, in ihren ökologischen Effekten unergründlich. Offensichtlich ist nur ihr Effekt auf die Wirtschaft: Kurzarbeit bei den Dosenherstellern und Mehrarbeit an den Registrierkassen.
Was vor Jahren in der guten Absicht beschlossen wurde, die Spazierwege sauberer und das Mehrwegsystem stabiler zu machen, droht an den deutschen Verhältnissen zu scheitern.
Es ist wie immer: Eine gute Idee wird verbogen durch den Widerstand der Verbände und zur Unkenntlichkeit entstellt durch die Sonderinteressen der Landesfürsten. Den Rest erledigen der Regulierungseifer der Beamten und die Klagewut der Anwälte. Und zu guter Letzt kommt ein Brief aus Brüssel, und alles beginnt von vorn.
Es ist wie bei der Lastwagen-Maut und ganz ähnlich wie bei der Gesundheitsreform. Die Dose ist kein Einzelfall. Sie liegt überall herum.
Die Dose steht für Deutschland.
IM NAMEN DER DOSE Chronik der deutschen Verpackungs-Unordnung
1988: Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) belegt Plastik-Cola-Flaschen mit Pfand.
1991: Töpfer erlässt die »Verpackungsverordnung": Falls der Mehrweganteil bei Getränken in zwei aufeinander folgenden Jahren unter 72 Prozent sinkt, kommt es automatisch zur Pfandpflicht.
1992: Das Duale System nimmt die Arbeit auf: Dosen kommen in die gelbe Tonne.
1997: Die Mehrwegquote sinkt auf 71,33 Prozent.
1998: Die Mehrwegquote sinkt auf 70,13 Prozent, durch vermehrten Kauf von Dosenbier, Milch im Tetrapak und Plastikflaschen. Umweltministerin Angela Merkel (CDU) beschließt Novelle: Von nun an wird nach Getränkearten bepfandet.
Juni 2000: Bundesverband der Deutschen Industrie verhindert Kompromisslösung einer Dosenabgabe. Mehrwegquote sinkt in diesem Jahr auf 65,81 Prozent.
Juli 2001: Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) legt eine neue Verpackungsverordnung vor. Sie scheitert im Bundesrat, unter anderem an den Voten der SPD-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.
20. Februar 2002: Oberverwaltungsgericht Berlin erlaubt Veröffentlichung der Quoten im »Bundesanzeiger«. Klagewelle von Getränkeherstellern und Händlern.
2. Juli 2002: Trittin veröffentlicht die Mehrwegquoten für 1997 und 1998. Das Pflichtpfand ist damit definitiv. Sammelklagen des Handels.
3. September 2002: Verwaltungsgericht Düsseldorf stoppt das Pfand.
20. Dezember 2002: Handel verspricht bundesweites Rücknahmesystem bis zum 1. Oktober 2003.
1. Januar 2003: Das Pflichtpfand tritt in Kraft. Bundesverwaltungsgericht annulliert wenig später Düsseldorfer Entscheidung.
Juni 2003: EU äußert Bedenken. Der Einzelhandel bricht Aufbau eines einheitlichen Rücknahmesystems ab.
Juli 2003: Kabinett und Bundestag beschließen Novellierung der Verpackungsverordnung: Pfand nur noch auf ökologisch schädliche Verpackungen, egal welchen Inhalts. EU-Ratspräsident Romano Prodi kritisiert Insellösungen.
26. September 2003: Bundesrat wird über Novelle entscheiden.