Die drei Geburten des Jimmy Carter
Vor zehn Jahren wurde Jimmy Carter »als Christ wiedergeboren«. Das war und bleibt in vieler Hinsicht ein magisches, mystisches Erlebnis. In Carters Autobiographie »Why Not the Best?« wird das Ereignis nicht beschrieben -- bei einem so sorgfältigen Menschen wie Carter ein merkwürdiges Versäumnis. Es gibt zumindest drei Versionen von den Geschehnissen. Doch sogar die Daten sind ungewiß. Carter selbst datierte in einem Interview das Erlebnis auf das Jahr »1966,
® 1976 by the NYM Corp. Reprinted with Ihr permission of New York Magazine
eine Zeitspanne von zwei Jahren, ungefähr 1966/67«.
An den Konsequenzen dieser Wiedergeburt aber ist nichts vage oder ungewiß. Carter berichtete, er glaube, ein »neuer Mensch mit einer veränderten Grundhaltung« geworden zu sein, jedoch unter Beibehaltung seiner Charakterstruktur. Vorher habe er die Menschen für seine eigenen Zwecke benutzt, habe er keine Niederlage einstecken können. Danach sei er Diener der Menschen geworden, habe er inneren Frieden und heitere Gelassenheit gefunden.
Im September 1966 verlor Jimmy Carter, damals 41, die Vorwahl der Demokraten für das Amt des Gouverneurs von Georgia, ihm fehlten 20 000 von etwa einer Million abgegebenen Stimmen.
Etwas später, so Carter, besuchte er die Baptisten-Kirche in Plains, Georgia. Dort hielt der Pfarrer eine Predigt, deren zentrales Thema die Frage behandelte: »Wenn ihr verhaftet würdet, weil ihr Christen seid, gäbe es genügend Beweise, euch zu überführen?«
Carter selbst sagte in einem Fernsehinterview zu Bill Moyers: »Ich machte damals eine Phase in meinem Leben durch, die sehr schwierig war. Ich hatte für das Amt des Gouverneurs kandidiert und verloren. Alles, was ich anpackte, verlief unbefriedigend. Selbst wenn mir einmal etwas gelang, war es für mich ein unerträgliches Erlebnis. Ich habe nie viel für andere getan. Ich beschäftigte mich immer nur mit mir selbst.«
So lautete seine Antwort auf die Frage der Predigt, ob er als Christ überführt werden könne, denn auch »nein«. Seit jener Zeit, fügte Carter hinzu, »besserte ich mich ein wenig. Ich gewann eine viel engere Beziehung zu Christus. Seitdem führe ich so etwas wie ein neues Leben. Was Haßgefühle und Frustrationen anlangt, lebe ich mit mir selbst in Frieden«.
Soweit der Bericht, den Carter selbst in der Öffentlichkeit über seine Wiedergeburt gibt. Eine andere Version stammt von seiner Schwester, Ruth Carter Stapleton, dem dritten der vier Kinder von Lillian und James Earl Carter sen., sie ist 46 Jahre alt, fünf Jahre jünger als ihr Bruder Jimmy. Ruth Stapleton ist Autorin, Evangelistin, Verkünderin der Heilung durch den Glauben -- eine Art Psychologin also. In ihrem Buch »The Gift of Inner Healing« schildert sie ihre eigene seelische Verzweiflung in ihren ersten Jahren als Erwachsene, nach Heirat, vier Kindern und einem schweren Autounfall.
An einem Herbsttag des Jahres 1966. so erinnert sich Ruth Stapleton, fuhr sie mit Jimmy von Plains nach Webster County, um dort in den Kiefernwäldern einen Spaziergang zu machen. »Ich sprach über mein Christus-Bewußtsein«, so Ruth, »und erzählte Jimmy, wie dieses Bewußtsein eine unerschütterliche religiöse Bindung wurde, welchen Frieden, welche Freude und Stärke es schenkt.«
Jimmy wollte wissen, was seine Schwester da besaß, das ihm selber fehlte. Ruth fragte ihren Bruder, ob er sein Lehen und alles, was er besitze, für Christus hingeben würde. Er bejahte. Daraufhin fragte sie, ob das auch für die Politik gelte. Diese Frage konnte er nicht bejahen. Ruth erwiderte, dann werde er niemals Frieden finden.
Sie erinnert sich, daß er die Fassung verlor und weinte. Carter selbst erinnert sich nicht daran. Nicht lange nach diesem Gespräch jedoch, so Ruth, machte sich ein wiedergeborener Jimmy Carter »auf den Weg, um ungefähr ein Jahr lang als Laien-Missionar zu arbeiten« -- in Massachusetts und Pennsylvania.
Carters jüngster Bericht über sein Erlebnis widerspricht nicht unbedingt dieser Version. Vielmehr knüpft er dort an, wo Ruth ihre Erzählung abbricht. Wir hatten ihn gedrängt, uns die Einzelheiten, den Zeitpunkt und die Umstände seiner Wiedergeburt zu schildern. Als Antwort präsentierte er uns -- nach seinen eigenen Worten -- »sehr handfeste Beweise«. »Ein ganz neues Gefühl der Erlösung und Sicherheit«
Sie wurden Kernstück unserer Untersuchung. Carter: »Ich ging auf eine Bekehrungsmission nach Lock Haven, Pennsylvania. Das Jahr weiß ich nicht mehr genau. Vielleicht war es im Mai 1967. Dort waren vor meiner Ankunft 100 Familien ausfindig gemacht worden, die nicht an Gott glaubten.
Mir wurde zusammen mit einem anderen, Milo Pennington aus Texas, der Auftrag erteilt, diese Familien aufzusuchen, um ihnen unseren Glauben zu erklären und zu versuchen, sie zu bekehren.
Milo Pennington war ein ungebildeter Mann. Zufällig war er Erdnuß-Farmer; in Texas gibt es nicht sehr viele solcher Farmer. Er besorgte die Arbeit und das Reden. Mir schien, als hätte ich noch nie einen Menschen gesehen, der sich so schlecht auszudrücken verstand. Er benahm sich unglaublich linkisch, er wußte nicht, was er sagen sollte. Ich dachte: Du könntest das viel besser. Doch er hatte das schon vorher gemacht, und er war ein tief gläubiger Mensch.«
Pennington gelang es offenbar, fünfzehn oder zwanzig Familien zu bekehren. Carter fährt fort:
»Die ganze Woche war für mich fast wie ein Wunder. Ich fühlte das Wirken von Gottes Einfluß in meinem Leben. Eines Abends rief ich meine Frau an. Sie sagte: 'Jimmy, du klingst so anders, fast berauscht ...' Ich antwortete: »In gewisser Weise bin ich das auch ...'
Ich erlebte ein ganz neues Gefühl der Erlösung und Sicherheit, des Friedens mit mir selbst und ein echtes Interesse an anderen Menschen, das ich zuvor nicht gekannt hatte. Seit damals fühle ich, daß jeder einzelne, dem ich begegne, für mich wichtig ist.
Plötzlich war es mir möglich zu fragen: »Was kann ich tun, um das Leben dieses Anderen noch erfreulicher zu gestalten?« So erging es mir selbst mit Menschen, denen ich im Fahrstuhl oder zufällig auf der Straße begegnete.
Früher hatte ich den natürlichen Hang zu fragen: »Wie können sie mir nützen?« Früher hätte ich keinen weiteren Gedanken an sie verschwendet. Heute ist meine Einstellung ganz anders.«
Als religiöses Erlebnis sind die von Carter geschilderten Empfindungen kaum einmalig. Nach seinen eigenen Worten glauben die Baptisten »daß uns das erste Mal, wenn wir als Kinder geboren werden, das menschliche Leben geschenkt wird. Wenn wir Jesus dann als unseren Erlöser annehmen, beginnt für uns ein neues Leben, und genau das bedeutet »Wiedergeburt'«.
Wie E. Brooks Holifield, Historiker an der Emory University. erklärt, leitet die Wiedergeburt bei Baptisten auch »einen Prozeß persönlichen Wachstums« ein, »durch den Leidenschaften wie Zorn, Begierde, Stolz und Furcht kontrolliert werden sollen«.
Ein Vergleich des Carter-Erlebnisses mit dem einer anderen Persönlichkeit früherer Zeiten, Oliver Cromwell, liefert einen weiteren Zusammenhang. Cromwell, der große Führer der »Puritanischen Revolution« des 17. Jahrhunderts, schrieb über seine Bekehrung: »Ihr wißt, welches Leben ich geführt habe. Ich lebte im Dunkel und liebte es, ich haßte das Licht. Ich war ein Anführer, der Anführer aller Sünder.«
In Wirklichkeit scheinen Cromwells Sündentaten geringfügige Verfehlungen gewesen zu sein -- Kartenspiel, ein paar Streiche.
Carter scheint seine Vergehen ebenfalls zu übertreiben, während er seinen Zorn vor sich selbst verschleiert. Jedenfalls wurde auch Carter Barmherzigkeit zuteil. Er wurde von seinem Gefühl der Sündhaftigkeit befreit, welcher Art es auch immer gewesen sein mag.
Es wurde ihm möglich, »Niederlagen zu akzeptieren« und sich »an Erfolgen zu freuen«. Seine Niederlage hatte ihn erschüttert. Zum zweiten Mal in seinem Leben war er böse gescheitert (das erste Mal, wie er uns berichtete, nach dem Abgang von der Marine-Akademie in Annapolis, als er ein Rhodes-Stipendium nicht bekam). Auf unchristliche Weise hatte er zuviel gewollt -- für sich selbst und aus Stolz. Schlimmer noch, er konnte seinen Ehrgeiz nicht überwinden, worum seine Schwester ihn gebeten hatte.
Was also geschah? Jimmy Carter erlebte einerseits die innere Bestätigung seiner »egoistischen« Wünsche, andererseits deren Wandlung. Früher war er sich wie ein Heuchler vorgekommen. Wie durch ein »Wunder« aber wurde er sich seiner grundsätzlichen Rechtschaffenheit und seines Wertes erneut bewußt. Diese Erlebnisse sind erwartungsgemäß Teil der Baptistenreligion.
Als psychologisches Erlebnis läßt sich Carters »Wiedergeburt« ebenfalls erklären. Politische Reporter, die über Carter berichtet haben, äußerten die Ansicht, Carter habe nach seiner Niederlage 1966 einen »emotionalen Zusammenbruch« erlitten.
Aus seinen eigenen Erzählungen wissen wir, daß Carter« ohnehin schon schlank, damals ungefähr 20 Pfund abnahm und nur noch knappe 116 Pfund wog und daß er tief verschuldet war.
In diesem Zusammenhang können einige Übersetzungen aus der Sprache der Religion in die Sprache der Psychologie dem besseren Verständnis dienen: > Carter sagte zu Moyers, daß er seine eigene »Unzulänglichkeit und Sündhaftigkeit« erkannte. Psychologisch ausgedrückt, war er deprimiert.
* Carter hatte das Gefühl, voller Stolz zu sein. »Ich beschäftigte mich immer nur mit mir selbst.« Die Psychoanalyse nennt das »Narzißmus«.
* Carter sagte, er habe die Menschen für seine eigenen Zwecke benutzt. Für den Psychoanalytiker bedeutet das »Ich kann nicht lieben«.
* Garter hatte nach seinen Worten »das Bedürfnis. sich zu bessern Die Lehrbücher sprechen hier von einer »Krise der Produktivität«. Der Konflikt zwischen Produktivität und Beschäftigung mit sich selbst scheint Carter so natürlich anzustehen wie sein Arbeitshemd und sein Lächeln. In den Phasen des jungen Erwachsenenalters und der nahenden Reife sind Männer und Frauen ganz mit ihrem eigenen Werdegang und ihren eigenen Sorgen beschäftigt.
In der Lebensmitte dann, mit 35, 40 oder 45 Jahren, beginnen die Erwachsenen sich bezeichnenderweise zu fragen: Was habe ich hervorgebracht, was habe ich zu schaffen geholfen? War mein Leben produktiv oder passiv? Welches Vermächtnis oder welche Leitlinien hinterlasse ich der nächsten Generation?
Die politische Deutung des Erlebnisses der Wiedergeburt ist zwangsläufig am spekulativsten. Betrachten wir jene Woche in Lock Haven, Pennsylvania. Wir sehen Jimmy Carter -- Annapolis-Absolvent, Atom-U-Boot-Offizier, unlängst Kandidat für das Amt des Gouverneurs, intelligent, stolz, gebildet, redegewandt.
Er geht mit einem ungebildeten, linkischen älteren Mann von Tür zu Tür. Pennington war damals in den Siebzigern. Er bekehrt fünfzehn, sechzehn, zwanzig und mehr Menschen. Carter ist ein veränderter Mann. Selbst am Telephon klingt er anders.
Woher dieses berauschende Hochgefühl? Vielleicht gibt es folgende Erklärung: Carter war ein Mann der Wissenschaft. Doch was haben ihm Wissenschaft, Ratio und Intellekt genützt? Bei den Wählern ist er nicht angekommen!
Der alte Pennington aber kann die Menschen über das Gefühl und den Glauben erreichen. Wenn sich ein religiöser Missionar -- oder ein politischer Führer -- mit den Menschen identifiziert, mit ihnen fühlt, kann er sie gewinnen, bekehren, führen. Für einen Politiker ist das ein Wunder.
Wir haben uns auf das konzentriert, was Carter das Erlebnis seiner Wiedergeburt nennt, weil es für Carter eine Art Wendepunkt bedeutet -- religiös, psychologisch und politisch. Als wir im Interview den Ausdruck »Wendepunkt« für die Zeit nach dem Wahlkampf um das Gouverneursamt benutzten, wehrte Carter leicht ab: »Das ist eine Übertreibung.« Später aber fügte er hinzu, daß es eine Zeit »psychologischer Probleme« gewesen sei. »Er lernte, daß das einfache Volk gut ist.«
Als Staats-Senator von Georgia in den sechziger Jahren begegnete er zum Beispiel korrupten, egoistischen Interessen. Auch das beeinflußte seine »Weltanschauung«. Er lernte daraus, daß das einfache Volk gut ist, von skrupellosen, selbstsüchtigen, »gestandenen Politikern« aber häufig irregeführt wird. Unter dem richtigen Führer wird das Volk sich der guten Sache verschreiben und die Wahrheit suchen.
Carter lernte als Staats-Senator ebenfalls, daß seine Möglichkeiten, wirksame »Öffentlichkeitsarbeit« zu leisten, durch die ihm übergeordneten Instanzen begrenzt waren. So mußte er einfach für das Amt des Gouverneurs kandidieren, um reale Macht zu erlangen.
Als Gouverneur dann erkannte er, daß dieses Amt wiederum durch die Kontrollorgane des Bundes eingeschränkt war. Nur als Präsident der Vereinigten Staaten würde er tatsächlich die Macht besitzen, Gutes zu tun und dem einfachen Volk zu dienen. Jimmy Carters Identifizierung mit dem Volk ist, so glauben wir, eine mystische Vereinigung -- wie auch seine Vereinigung mit Gott. Sie vollzieht sich ohne Mittler. Das erklärt verschiedene Faktoren seines ausgeprägten politischen Stils.
Nur ungern und ungeschickt verliest er vorbereitete Reden -- Worte anderer. Den Politikern oder Washington verdankt er nichts. Er ist sein eigener Herr. Dagegen verdankt er alles jenen, die ihn wählen. Sie sind Teil seiner Familie geworden.
Carters Einheit mit dem Volk bedeutet auch, daß er wie ein Hausarzt oder ein besorgter Familienvater den Leuten ständig den Puls fühlt und ihre Ansichten prüft ... Mag das auch noch so sehr kluge Politik sein, für Carter scheint es auch psychologische Notwendigkeit.
Da die Menschen gut sind, wenn sie nicht irregeführt werden, und wissen, was für sie gut und richtig ist, folgt daraus, als Evangelium, daß die Wahlkampfthemen nicht von den Kandidaten erfunden werden, sondern vielmehr »in den Vorstellungen und Herzen unserer Bürger« existieren.
Der Carter der mittleren Jahre hat seine psychosoziale Krise der Produktivität offenbar überwunden -- auf vielen Ebenen. Jimmy und Rosalynn Carter wurde im Oktober 1967 ein viertes Kind geboren, etwa fünfzehn Jahre nach ihrem dritten Kind. 1970 dann gewann Carter beim zweiten Anlauf auch die Gouverneurswahlen
Dennoch ergäbe die Annahme, die politische Niederlage 1966 erkläre allein schon Carters »neues Leben«, noch längst kein gutes Psychogramm. Wir vermuten, solange noch keine weiteren Ergebnisse vorliegen, daß Carters Wiedergeburt 1966/67 im Grunde eine dritte Geburt war.
Die »erste« Geburt, seine eigentliche, fiel in das Jahr 1924. Eine Art »zweite« Geburt fand nach dem Tode seines Vaters 1953 statt. Die »dritte« Geburt vollzog sich erst später -- in dem Bekehrungserlebnis 1966/67.
Können solche Sachverhalte, derart versuchsweise Deutungen nun herangezogen werden, um Carters Charakter zu beurteilen? Wir glauben schon.
Es scheint zumindest einiger Grund zur Sorge zu bestehen. Einige erblicken in Carters öffentlichem Lächeln und seinen hohen Anforderungen den »virilen« John F. Kennedy oder Lyndon Johnson, den Provinzler aus dem Süden, oder gar Thomas E. Dewey, den übertrieben selbstsicheren kleinen Mann.
Einigen erscheint Carter wie ein zweiter Richard Nixon. Im Leben beider Männer scheint es die »liberale« Mutter und den »konservativen« Vater zu geben. Auch der Quäker Nixon erlebte eine »Bekehrung«, die auf sein vierzehntes Lebensjahr zurückgeht, als sein Vater ihn zu einem Treffen von Mitgliedern der Erweckungsbewegung mit nach Los Angeles nahm.
Beide Männer glauben an das Ethos der Arbeit. Beide sind hartherzig. Beide sind angeblich humorlos. Beide sprechen viel von ihren geistigen Ursprüngen. Beide beteuern vor ihrem Publikum ihre »Ehrlichkeit«. Nixon sagte: »Ich bin kein Schuft.« Carter sagt: »Ich werde euch nie belügen.«
Wir glauben jedoch, daß diese vermeintlichen Ähnlichkeiten oberflächlich oder irreführend sind -- oder gar beides. Nixon sprach zwar von Religion, ließ sich aber, nach den vorliegenden Beweisen zu urteilen, nicht von ihr leiten. Carters Bindungen aber sind echt.
In der von James David Barber angefertigten Studie über Präsidentencharaktere -- laut Carter das beste Buch über Politik, das er je gelesen hat -- wurde Richard Nixon als ein Aktiv/Negativ-Präsident klassifiziert. Dieser Charaktertyp, so Barber, arbeitet hart und lange daran, Präsident zu werden.
Im Grunde aber sind Aktiv/Negativ-Charaktere psychologisch starr und mit ihren Leistungen ewig unzufrieden. Sie drängen zu sehr nach vorn. Irgendwann treiben sie auf die Katastrophe zu. Aktiv/ Positiv-Charaktere dagegen, wie zum Beispiel Franklin Delano Roosevelt, arbeiten hart und genießen ihre Aufgaben im Weißen Haus. »Die dritte Geburt war ein mystisches Erlebnis.«
Es gab noch einen anderen Aktiv! Negativ-Präsidenten, der Jimmy Carter mehr als nur oberflächlich ähnelte: Woodrow Wilson.
Wilson war wie Carter ein Südstaatler. Er ließ sich ebenfalls von seiner Religion leiten, einem strengen Presbyterianertum ... Von den konservativen Interessenverbänden zum Gouverneur von New Jersey gewählt, überraschte Wilson sie durch seine liberale Amtsführung.
Wie Carter erklärte auch Wilson sich unabhängig von Partei-Bossen und Interessenverbänden. Auch er sprach sich für direkte Bindungen zum Volk aus. In seiner Verärgerung über die Weigerung des Senats, den Völkerbundvertrag, wie von ihm vorgeschlagen, zu ratifizieren, wandte sich Wilson in seinem Wahlkampf direkt an das Volk. Er verlor die Schlacht ... Als er das Volk nicht erreichen konnte, fühlte er sich geistig gebrochen.
Vater James Earl Carter, Mutter Lillian, Kennedy, Johnson, Roosevelt, Nixon, Wilson -- wer nun ist der wirkliche Jimmy Carter? Jimmy ist natürlich er selbst. Seine Empfindungen für seine Eltern, für Liebe und Disziplin sind in dem größeren Zusammenhang des amerikanischen Südens zu verstehen, wo die Rassenzugehörigkeit die politische Haltung polarisierte.
Sein Charakter wurde wie bei uns allen durch das Elternhaus geprägt. was für einen Präsidenten wird er abgehen? Einen Aktiv/Negativ-Präsidenten wie Wilson oder einen Aktiv/Positiv-Präsidenten wie Roosevelt?
Die Antwort hängt zum Teil von der Bewertung seiner politischen Vergangenheit ab, entscheidender aber noch davon, wie sehr uns seine sogenannte »dritte« Geburt überzeugt. Bei dieser Wiedergeburt, einer Art mystischem Erlebnis, hat er anscheinend sich selbst gefunden -- praktisch ein »neues Selbst -- und auch eine neue Sicht des amerikanischen Volkes.
Auch wir sind der Meinung, daß Carters größte gegenwärtige Stärke -- seine enge Bindung an das amerikanische Volk -- seine größte potentielle Schwäche sein könnte. Er braucht dieses Gefühl der Gemeinschaft, des Einsseins mit dem Staat, wie auch Wilson es brauchte. Wird er sich durch zwischengeschaltete Institutionen -- den Kongreß, die Gerichte, die Presse -, die zwischen ihm als Präsidenten und »seinem« Volk stehen, frustriert fühlen? Wird er, wenn ein großes Problem angepackt wird, die ausgleichenden Kräfte akzeptieren, wenn er wie Wilson der Meinung sein sollte, einen Auftrag direkt von den Wählern zu haben?
Gewagte Schlußfolgerung: Anhand der vorliegenden Indizien würden wir meinen, daß Carter dem gefährlichen Aktiv/Negativ-Charaktertypus ungewöhnlich nahekommt. Er hat sich aber davor bewahrt, in dieses Extrem zu verfallen. Durch die intensive Selbstprüfung, die sich in seiner »Wiedergeburt« äußert und die immer noch anhält, hat Jimmy Carter entscheidende Fähigkeiten erworben -- die Fähigkeit, andere zu lieben, Fehler einzugestehen und Mißerfolge zu akzeptieren.
Er hat sein »neues Leben« durch erbarmungslose Anstrengungen gewonnen, auch wenn er gelegentliche Rückfälle oder -- wie die Psychoanalytiker es nennen würden -- Regressionen erlitt. Sein Temperament bricht zuweilen noch hervor, er kann immer noch »voller Stolz« sein.
Dennoch ist Jimmy Carter eine gereifte, ausgeglichene Persönlichkeit mit einem Gemeinschaftsgefühl, das sich der Öffentlichkeit ohne weiteres mitteilt. Eigenschaften, die bei anderen zu verhängnisvollen Charakterfehlern kumulieren könnten, haben sich bei ihm bisher zu Stärken entwickelt.
Aus der Sicht des Psychohistorikers würde der erstgeborene Carter nicht für das Präsidentenamt kandidieren. Der zum zweitenmal geborene Charter wäre als Kandidat nur eine Randerscheinung. Dem zum drittenmal geborenen Carter dagegen müssen, zumindest vorläufig, gute charakterliche Qualifikationen bescheinigt werden.