PHOTOGRAPHIE / TECHNIK Die Druckknopf-Kamera
Wie von einer Fata Morgana, die, man sah und die wieder verschwand, sprechen heute die Photo-Amateure aller Länder von einer Kamera, die ein paar Tage lang in einer Glasvitrine der Photo-Ausstellung »photokina 1956« zu sehen war, aber bis heute in keinem Geschäft zu haben ist. Die visionäre Kamera ist der erste Amateur-Photoapparat der Welt, der mit vollautomatischer Belichtungssteuerung ausgestattet ist. Er wurde von der Münchener Agfa-Camerawerk AG. unter der Bezeichnung »Automatic 66« gebaut und soll als »grundlegende Neuschöpfung« eine neue Epoche in der Amateur-Photographie einleiten.
Der Übergang zu der neuen automatischen Kamera wird nach Ansicht vieler Experten für die Amateurphotographie ebenso bedeutsam sein wie einst der Übergang von der klobigen Plattenkamera zur handlichen Rollfilmkamera. In der letzten Etappe dieser Entwicklung wird der Photograph nur noch auf den Auslöseknopf zu drücken brauchen, um ein gut belichtetes, scharfes Bild zu schießen.
Seit Jahren suchen die Entwicklungs -Ingenieure der deutschen Kamera-Industrie für ihre Amateur-Kameras den Weg zurück zum Knipsen, zum unkomplizierten Bildermachen, wie es einst mit einfachen Apparaten möglich war. Mit modernen Kameras dagegen ist die Herstellung eines guten Bildes ein kompliziertes Verfahren, kompliziert geworden durch eine komplizierte Kamera.
Auch der Agfa-Direktor Dr. Alfred Lingg, unter dessen Leitung die »Automatic 66« in vierjähriger Arbeit entwickelt wurde, versichert nachdrücklich, er habe an sich selbst verspürt, daß die Konstruktion einer vollautomatischen Kamera notwendig sei. Bisher habe er - wenn er photographieren wollte - stets erst seine Brille aufsetzen, den Belichtungsmesser befragen und dann Blende und Belichtungszeit einstellen müssen. Selbst das Fachorgan des Photohandels lamentierte kürzlich, das Photographieren sei zu einem Kampf mit der Technik des Apparates geworden.
Die Automatik der neuen Kamera wird diesen Kampf nun überflüssig machen. Die »Automatic 66«
- stellt die Helligkeit des Photomotivs durch einen eingebauten Belichtungsmesser fest,
- bestimmt selbsttätig die erforderliche
Belichtungszeit,
- stellt automatisch diese Zeit im Verschluß der Kamera ein.
Selbst die Blende braucht der Photograph nicht stets neu zu regulieren; er stellt sie den allgemeinen Lichtverhältnissen entsprechend nur einmal am Tag auf einen Mittelwert ein. »Dann reguliert
ein automatisch wirkender Regler die dazugehörige Verschlußgeschwindigkeit selbsttätig«, versichert Lingg.
Der Photograph, der sich mit dieser Kamera wieder zum Knipser rückentwickelt, braucht auch auf die jeweils eingespulte Filmsorte keine Rücksicht zu nehmen. Denn er kann beim Einlegen des Films die DIN-Empfindlichkeit auf einem Drehknopf einstellen. Über den Knopf bewegt er eine Jalousieblende vor der Photozelle des Belichtungsmessers und berücksichtigt auf diese Weise die Lichtempfindlichkeit des Films.
»Mit der neuen Kamera sind Fehlbelichtungen nunmehr praktisch ausgeschlossen, und eine der größten Fehlerquellen, vor allem bei ungeübten Amateuren, ist ausgeschaltet«, lobte die Zeitschrift »Photo -Technik und -Wirtschaft«. »Aber auch Fortgeschrittene und Berufsphotographen werden diese Erleichterung begrüßen, da sie sich jetzt auch bei schwankenden Lichtverhältnissen voll auf ihr Motiv konzentrieren können, ohne ständig die Belichtungszeit korrigieren und immer den Aufnahmebedingungen anpassen zu müssen.«
Eine neue Käuferschaft
Die Zeitschrift verzeichnete aber auch einen anderen Beweggrund, der die Industrie zur Konstruktion der neuen Kamera angespornt hatte: »Damit nämlich wird der Photographie eine ganz neue Käuferschaft erschlossen, die bisher aus Scheu vor der 'Technik' noch abseits blieb.« Eine andere geschäftliche Sorge trug ebenso dazu bei, daß die Arbeit an der »Automatic«-Kamera vorangetrieben wurde: Die Farbphotographie hat sich bis jetzt nicht zu einem Massen-Hobby entwickeln können, weil die überwiegende Mehrzahl aller Amateure die Arbeit mit dem Belichtungsmesser und das Einstellen von Blende und Verschluß nicht mit der nötigen Präzision ausführte. Die empfindlichen Farbfilme wurden über- oder unterbelichtet, so daß die noch immer recht kostspielige Farbphotographie bis heute ein Sport der technisch Begabteren geblieben ist.
Die Photoindustrie hat erkannt, daß sie das große Farbfilmgeschäft erst machen kann, wenn jeder Schnappschuß eines jeden Amateurs garantiert ein Treffer ist. Die Entwicklung zu diesem Ziel soll nun durch die »narrensichere Druckknopf -Kamera« vorangetrieben werden.
Die Agfa-Werke erwarten schon jetzt eine so starke Nachfrage nach ihrer Knipser-Kamera, daß sie die »Automatic 66« erst in den Handel schleusen wollen, wenn genügend Kameras des neuen Typs hergestellt sind, um alle Geschäfte beliefern zu können.
Vorerst wird die Agfa-»Automatic 66« allerdings ein Spielzeug besser situierter Amateure bleiben: Sie kostet 498 Mark.
Die Agfa-Ingenieure sind jedoch überzeugt, die Preisbarriere im Verlaufe einiger Jahre soweit abbauen zu können, daß auch die sozial untere Kaste der Photo-Amateure Farbaufnahmen auf ähnlich einfache Weise schießen kann wie heute Schwarzweiß-Bilder mit der Box.
Agfa-Direktor Lingg mit »Automatic 66«
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