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Europa »DIE EG LEBT GEFÄHRLICH«

Die deutsch-französische Freundschaft, seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft tragender Pfeiler der EG, ist beschädigt, zu offenkundig sind die Interessengegensätze. Nach dem Krach im Europäischen Währungssystem fürchtet Paris, deutscher Egoismus könne den Vertrag von Maastricht scheitern lassen.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Der Gast war bereits auf dem Heimflug, als Helmut Kohl vorigen Donnerstag mit seinen engsten Mitarbeitern noch einmal die Begegnung mit Edouard Balladur durchging. Die Gehilfen im Kanzlerbüro erlebten einen lockeren und aufgeräumten Chef.

Die Runde war sich einig im Zweckoptimismus: Dies sei das bisher »beste Treffen« mit dem neuen französischen Premier gewesen. »Balladur ist richtig aufgetaut«, glaubte ein Kohl-Vertrauter beobachtet zu haben.

Der Besucher aus Paris sei sogar zu Scherzen über die komplizierten Verhältnisse bei sich zu Hause aufgelegt gewesen, wo er in schwieriger Kohabitation mit dem sozialistischen Präsidenten Francois Mitterrand regieren muß.

Natürlich seien Deutschland und Frankreich zwei Länder mit ähnlichen Problemen und »mitunter durchaus unterschiedlichen Interessen«, dozierte Helmut Kohl. Aber bei allen Schwierigkeiten werde man es immer wieder schaffen, sich mit der Regierung in Paris zusammenzuraufen - was mit anderen europäischen Partnern keinesfalls selbstverständlich sei.

»Leichter ist es mit denen nicht geworden«, stimmten die Bonner überein; aber, so das Fazit beim Kanzler: »Die Achse Bonn-Paris hält.«

Wirklich? Der Verlauf der deutschfranzösischen Woche - zuvor hatten sich schon die Agrar- und die Außenminister in Paris und Dresden zu Krisensitzungen getroffen - wurde in der gesamten EG mit Spannung verfolgt. Denn ohne die enge deutsch-französische Partnerschaft, so ein Vertreter des Pariser Außenministeriums, »gibt es kein Europa. Sie ist Europa«.

Ein Zerwürfnis zwischen den Erben Charles de Gaulles und Konrad Adenauers würde die Europäische Gemeinschaft in die schwerste Krise seit den Römischen Verträgen stürzen und alle Visionen von einer Politischen Union, wie sie der Vertrag von Maastricht vorsieht, platzen lassen.

Über Monate hatten die Regierenden in Deutschland und Frankreich den Verdacht genährt, daß die Ära der Entente zwischen Deutschen und Franzosen zu Ende gehen könnte.

Zu offenkundig waren die Interessengegensätze, zu offen zeigten die Franzosen ihre Verbitterung über die deutschen Nachbarn, denen sie vorwerfen, ihre nationalen Interessen vor die Erfordernisse Europas zu stellen - und mit ihrer Hochzinspolitik die ganze EG für die Wiedervereinigung bezahlen zu lassen.

In den deutsch-französischen Beziehungen gebe es »objektive Schwierigkeiten«, hatte Balladurs Außenminister Alain Juppe schon im Vorfeld der Konsultationen eingestanden, die zur »Stunde der Wahrheit« (der französische Europa-Abgeordnete Jean-Louis Bourlanges) zu werden drohten. Andere Europäer stimmten bereitwillig in die Klagen über die selbstsüchtigen Deutschen ein, wenn auch - etwa bei den Briten - zuweilen Schadenfreude über die Franzosen anklang, die sich wie verlassene Liebhaber gebärdeten.

Bonn und Paris führten nunmehr eine »offene Ehe«, schrieb die Londoner Times - und bereitwillig boten sich die Engländer für gelegentliche Seitensprünge an.

Die Italiener ergriffen uneingeschränkt Partei für die romanischen Brüder und machten Deutschland zum Sündenbock für ihre ureigene Malaise, vom Verfall der Lira bis zum Emporschnellen der Arbeitslosigkeit.

»Angeklagter Kohl, erheben Sie sich«, donnerte die jüngste Ausgabe der Mailänder Zeitschrift L'Europeo dem als Bundesadler mit riesigen Krallen verfremdeten Bonner Kanzler entgegen. In einem »Gerichtsprotokoll« wurde der Deutsche in sieben Punkten angeklagt, darunter: »Ist das vereinigte Deutschland zu mächtig geworden, und hat es damit den europäischen Traum zunichte gemacht?«

Sicher ist, wie der Ire Conor Cruise O'Brien schrieb, daß »der alte französische Traum begraben werden muß, das starke deutsche Pferd gehorche stets dem geschickten französischen Reiter«. Nun hat das Pferd den Reiter abgeworfen, das vereinigte Deutschland hat sich aus der Abhängigkeit von Frankreich gelöst. Inzwischen braucht Paris die Deutschen mehr als umgekehrt, wie die Zeitung Le Monde nüchtern konstatierte.

Das Wall Street Journal übermittelte Paris schon den Rat, sich mit Briten, Holländern und Spaniern zusammenzutun, um den Deutschen zu zeigen, daß nicht sie allein den Ton angeben.

Die Irritationen eines »Paares, das in den Herbst« seiner Ehe (so der Publizist Andre Fontaine) eingetreten ist, könnten die EG in ihrem Kern gefährden, wie der Vizepräsident der Brüsseler Kommission, der Belgier Karel van Miert, befürchtet. Wenn die Naht Bonn-Paris reiße, gerate die Gemeinschaft ins Trudeln: »Die EG lebt derzeit gefährlich.«

Was Deutsche und Franzosen vorige Woche an diplomatischer Kunst boten, bestätigte Skeptiker, die bezweifeln, ob das außer Takt geratene Tandem noch wie früher Schubkraft in die Gemeinschaft bringen kann. Offiziell waren Versöhnung und Kompromißbereitschaft angesagt, denn »Balladur weiß«, so ein Kohl-Gehilfe, »daß er seine Ziele nur mit uns erreichen kann, nicht gegen uns«.

Heraus kamen Absprachen, die sich wie kleinkarierter Schacher ausnahmen, weit entfernt jedenfalls vom Elan eines Neubeginns.

Ein gutes Beispiel für gegenseitiges Geben und Nehmen hatten zwei Tage vor dem Treffen der Regierungschefs schon die Landwirtschaftsminister in Paris gegeben.

Seit vier Wochen, seit die EG-Finanzminister die enge Bindung der Wechselkurse im Europäischen Währungssystem aufheben mußten, haben die Deutschen ein Agrarproblem. Alle EG-Leistungen an Europas Bauern werden in der Rechnungseinheit Ecu ausgedrückt und nach dem jeweils geltenden Umrechnungskurs in nationaler Währung ausbezahlt. Wird die Mark gegenüber dem Ecu aufgewertet, erhalten die deutschen Landwirte entsprechend weniger aus dem Brüsseler Topf - 400 Millionen Mark für jedes Prozent Aufwertung, wie der Deutsche Bauernverband schnell vorrechnete.

Auf dem nächsten Treffen der EG-Außen- und Agrarminister, am 20. September, werden die Franzosen, so sagten sie vorige Woche zu, die aufwertungsgefährdeten Deutschen bei ihrer Forderung unterstützen, solche Verluste nicht zuzulassen.

Die Gegenleistung wurde ebenfalls vereinbart. Kohl will Balladur helfen, Schaden von französischen Landwirten fernzuhalten. Unter dem Druck der Bauern hat sich die französische Regierung festgelegt, das voriges Jahr von der EG mit den USA vereinbarte Blair-House-Abkommen auf keinen Fall zu akzeptieren. Darin verpflichtete sich die Gemeinschaft, subventionierte Agrar-Exporte - vor allem Getreide - einzuschränken. Größter Getreide-Exporteur der EG aber ist Frankreich.

Mit den Amerikanern sollen nun »ergänzende Maßnahmen« (ein Kanzler-Berater) besprochen werden, wie die Exporteinbußen der Franzosen reduziert werden könnten, ohne das Abkommen selbst zu gefährden.

Der Kanzler habe die Devise ausgegeben, so ein Unterhändler aus dem Landwirtschaftsressort, den Franzosen auf allen Gebieten bei ihren innenpolitischen Problemen zu helfen, »und deshalb reden wir nochmals mit den Amis«.

Hoch lobte EG-Kommissionspräsident Jacques Delors die Geschmeidigkeit Kohls. Bei »großen Gelegenheiten«, so der Franzose aus Brüssel, habe der Kanzler sich stets »als großer Baumeister Europas« gezeigt.

Die unangemessene Übertreibung zeigt eher, wie weit es mit Europa gekommen ist, dessen Ehrgeiz sich offenbar wieder darauf reduziert hat, dem Interesse einiger hoch subventionierter Landwirte zu dienen. Das ist ein Rückfall in jene unselige Ära der EG, in der Europapolitik um den gemeinsamen Agrarmarkt kreiste, die Preise für Getreide und Rinderhälften von vitalerem Interesse schienen als eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik.

Die notdürftige Reparatur der deutsch-französischen Beziehungen in der vorigen Woche »war sicherlich nicht der große Wurf für Europa«, räumte denn auch ein Bonner Regierungsmitglied ein. Allenfalls ist es gelungen, den offenen Bruch zu vermeiden.

Beim größten Problem des französischen Gastes, von dessen Bewältigung Balladurs Zukunft abhängen kann, vermochte auch Kohl nicht zu helfen. Schneller als in fast allen anderen EG-Staaten nimmt die Arbeitslosigkeit in Frankreich zu. Der Premier braucht dringend eine Konjunkturbelebung. Eine massive Zinssenkung, so sieht es die Pariser Regierung, ist Voraussetzung dafür und schon lange überfällig. Doch weil Paris den Franc nicht gegenüber der Mark in den Keller rutschen lassen will, orientieren sich die Franzosen nach wie vor an der Zinshöhe in Deutschland und folgen der Hochzinspolitik der Deutschen Bundesbank.

Zur selben Zeit, als Kohl und Balladur im Kanzleramt über die Zukunft ihrer Beziehung redeten, entschied der Zentralbankrat der Bundesbank, auf die allgemein erwartete Senkung der deutschen Leitzinsen zu verzichten.

Es sei wohl seine Anwesenheit in Bonn gewesen, vermutete Balladur hernach mit säuerlichem Lächeln, welche die Bundesbank von einer Zinssenkung abgehalten habe.

Helmut Kohl war sich nicht sicher, ob der Gast tatsächlich scherzen wollte. Y

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