Italien DIE ENDLOSE KORRUPTION
Italiens Parlamentarier, seit antiken Zeiten um Listen und Finten selten verlegen, sind derzeit ungewöhnlich geschäftig. Ihr Eifer dient vor allem einem Zweck: der eigenen Rettung vor einer Lawine, die über das politische System hereingebrochen ist und alle alten Würdenträger zu begraben droht.
Der Abwehrkampf wird an vielen Fronten geführt, offen und verdeckt. Am Mittwoch vergangener Woche zum Beispiel stimmte der Senat über einen Gesetzentwurf ab, der gut zwei Millionen Italienern im Ausland das Wahlrecht in ihrer Heimat gewähren sollte.
Das hätte wahrlich keine Eile gehabt. Aber es war kein Zufall, daß die Entscheidung ausgerechnet jetzt anstand. Wäre das Projekt durchgekommen, hätten die Ausführungsbestimmungen die längst fälligen Neuwahlen wieder einmal auf unbestimmte Zeit verschoben.
In Italien tobt eine Art Bürgerkrieg - zwischen dem alten Machtkartell, das um sein Überleben bangt, und den Kräften der Erneuerung. Jeder Vorwand ist dem alten Regime recht, um Zeit zu gewinnen und den Übergang in eine moralisch gewandelte Republik zu verhindern, den die überwältigende Mehrheit der Italiener dringlichst herbeisehnt.
Diesmal scheiterte das Verhinderungsmanöver, 15 Stimmen fehlten im Senat, weil Linksdemokraten und Liga Nord sich enthielten.
Die Warnung von Wahlgegnern folgte postwendend: Acht Stunden nach der Abstimmung gab es Bombenalarm. Um 21.20 Uhr meldete sich ein anonymer Anrufer bei der Polizei - unweit des Innenministeriums fanden die Beamten vier gebastelte Sprengsätze nebst 80 Patronen. In der Nähe eines gutbesuchten Cafes plaziert, hätten sie ein Blutbad anrichten können.
Seit Mai dieses Jahres starben elf Menschen bei solchen Anschlägen, ausgeführt von Tätern, die Italien in eine Existenzkrise stürzen möchten - um so den Aufbruch in eine neue politische Ära zu blockieren.
Nur mühsam schleppt sich Italiens Revolution voran. Seit Beginn der großen Säuberungsaktion »Mani Pulite« (Saubere Hände) sind mehr als 3000 Ermittlungsverfahren gegen korrupte Politiker, Beamte und Unternehmer eingeleitet worden. Aber bisher hat es kaum Prozesse gegeben.
Jedem Schritt nach vorn folgt prompt ein Rückschlag; hinter jedem Skandal verbirgt sich der nächste, noch größere und absurdere - etwa die kürzlich enthüllten Geschäfte führender Geheimdienstler, die Etatmittel in Höhe von umgerechnet 50 Millionen Mark zu privater Bereicherung abgezweigt hatten.
Im Zentrum des Komplotts stand die in der vergangenen Woche verhaftete Matilde Paola Martucci, 55, die den Spitznamen »Zarin« führt: Sie soll die heimliche Herrscherin des Dienstes für innere Sicherheit (Sisde) gewesen sein.
Als Krankenschwester (nach anderen Zeugenaussagen als Kassiererin in einer Bar) war die blonde Martucci dem Geheimdienstchef Riccardo Malpica begegnet, der von 1987 bis 1991 über den Sisde herrschte und jetzt wegen des Verdachts auf Unterschlagung im Gefängnis sitzt. In Liebe entflammt, ernannte der Beamte sie zu seiner Sekretärin und vertraute ihr die schwarzen Kassen des Sisde an.
Die Dame griff zu - wie ihr Chef und seine Mitarbeiter. Dutzende von Wohnungen, Landhäuser, Restaurants und Bars finanzierte die Zarin aus den Mitteln, die Italiens innere Sicherheit gewährleisten sollten. Ihr Sohn bekam eine Reiseagentur, Scharen von Freunden und Verwandten mußten auf Geheiß der Zarin beim Sisde angestellt werden.
In Italiens endloser Korruptionssaga ist das Treiben der Zarin eine der bizarrsten Episoden. Die Geheimdienste standen schon seit Jahrzehnten im Zwielicht; ihre Mitarbeiter gerieten immer wieder in Verdacht, sich mit Mafiosi, Faschisten, Putschisten und Bombenlegern zu verschwören.
Nun aber schien es, als wäre auch der höchste Mann im Staat, Präsident Oscar Luigi Scalfaro, in die schlimmsten Konspirationen verwickelt. Das hätte das Nato- und EG-Mitglied Italien vollends zur Bananenrepublik gestempelt und »den Übergang zu einer neuen Ära auf immer beendet«, so die römische Tageszeitung La Repubblica.
Verhaftete Agenten aus dem Dunstkreis der Zarin hatten Scalfaro beschuldigt, er habe als Innenminister - wie auch andere Amtskollegen - ein monatliches Taschengeld vom Sisde in Höhe von 100 Millionen Lire bezogen, knapp 100 000 Mark. Scalfaro sei zudem in ein Treffen eingeweiht gewesen, bei dem der damalige Regierungschef Amato, Innenminister Mancino und Geheimdienstspitzen beschlossen hätten, Millionendiebstähle der Sisde-Agenten zu verschleiern.
In heiligem Zorn ließ Scalfaro daraufhin die Programme der drei öffentlichrechtlichen Fernsehsender unterbrechen. Vor 23 Millionen Zuschauern empörte sich der Präsident über den schändlichen »Versuch, den Staat vorsätzlich zu zerstören«. Sollte Scalfaro diskreditiert werden, gegen ihn »grobschlächtiger Druck« ausgeübt werden, wie er sagte, um ihn handlungsunfähig zu machen?
Der Präsident galt als Garant für den Übergang vom korrupten, verfilzten Ancien regime zu einer moralisch geläuterten Zweiten Republik. Nur er kann vorzeitige Neuwahlen ausschreiben. Der dramatische Fernsehappell mußte den Eindruck vieler Italiener verstärken, das Land sei in einen Strudel »unkontrollierbarer und unvorhersehbarer Ereignisse« geraten, so der Kommentator Mario Pirani.
Die römischen Ermittlungsrichter wollten Ende voriger Woche nach Prüfung des Sachverhalts keine Schritte gegen den Staatspräsidenten einleiten. Zwei der beschuldigten Innenminister, Vincenzo Scotti und Antonio Gava, müssen sich dagegen wegen Unterschlagung verantworten.
Doch der Eifer, mit dem etliche Politiker sogleich den über Scalfaro schwebenden Verdacht ausnutzten, macht deutlich, wie skrupellos der Kampf geführt wird. Scheinheilig besorgt, trugen christdemokratische Abgeordnete Bedenken gegen das Staatsoberhaupt an die Öffentlichkeit - als wollten sie seinen Rücktritt geradezu herbeireden. Dann hätte sich das Parlament auf längere Zeit damit beschäftigen können, einen Nachfolger zu finden - und das Schreckgespenst der Neuwahlen wäre erst einmal gebannt gewesen. Mit Scalfaros Sturz wäre die gesamte Erneuerung in Gefahr geraten.
Jeder dritte Volksvertreter steht unter Korruptionsverdacht; wer sein Mandat und damit seine Immunität verliert, riskiert Gefängnis. Kein Wunder, daß das Parlament überwiegend die Rolle des »großen Fallenstellers« spielt, so die Turiner Zeitung La Stampa.
Mit immer neuen Spitzfindigkeiten zog es die Arbeit am neuen Wahlgesetz in die Länge. Es verhinderte die Festnahme des schwer belasteten ehemaligen Gesundheitsministers Franceso De Lorenzo. Vorige Woche verwarf die Deputiertenkammer ein Regierungsdekret, das die Schmiergeldempfänger gezwungen hätte, ihre Beute wieder herauszurücken.
Immer deutlicher wurde, daß die Schmutzarbeit in diesem Grabenkrieg - die Terroranschläge - zwar von Mafiosi ausgeführt, aber vom Geheimdienst gesteuert wird.
Staatspräsident Scalfaro sprach diese Vermutung offen aus, als er seinen Fernsehappell mit den Worten begann: »Erst haben sie es mit Bomben probiert, jetzt mit diesem schändlichen und unwürdigen Skandal.«
Die Selbstreinigung geht weiter: In der Nacht zum vergangenen Freitag wurden Haftbefehle gegen 18 Mafiosi erlassen, denen der Mord an Richter Giovanni Falcone zur Last gelegt wird. Y