JUDENVERNICHTUNG Die Erinnerung der Täter
Er ist ein liebenswürdiger Herr von 87 Jahren. Zuvorkommend umsorgt er seine Besucher, immer bereit nachzuschauen, ob ihnen auch nichts fehlt, während er erzählt, wie mühsam das war, die Juden zu verbrennen.
Drei Stunden und sieben Minuten sitzt er dann vor dem Fernseher, betrachtet »Schindlers Liste«, Spielbergs Stück vom guten Deutschen und seinen Juden, verfolgt das Töten und Vergasen, sieht die Kinder verrecken, die Frauen krepieren. Dr. Hans Münch, Landarzt in Roßhaupten am Forggensee, sitzt ruhig dabei. Er seziert den Film: »Die Selektion ist absolut authentisch dargestellt«, sagt er. »Da stimmt jedes Detail. Genau so war es.« Er muß es wissen. Er war während der Selektionen auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau. Als SS-Arzt.
Münch erzählt plaudernd: »Die Juden waren zu Haufen aufeinander geschichtet und kohlten vor sich hin. Die wollten einfach nicht brennen. Aber das war ein technisches Problem und wurde natürlich gelöst.« Er sitzt in seinem Ledersessel unter dem ans Kreuz genagelten Jesus und krault seinem Kater Peter den Nacken, während er beschreibt, wie die Häftlinge Gräben um die Scheiterhaufen zogen. In denen habe sich das Fett gesammelt: Mit Kellen schöpften die Häftlinge es ab und übergossen die Leiber. Die brannten dann besser. Wenn ein Häftling nicht spurte, konnte es passieren, daß ein SS-Aufseher ihn in die kochende Brühe stieß. Wie schnell der dann starb, darüber wundert sich Münch noch heute. Und reicht Marmorkuchen.
Seine Frau sitzt währenddessen ganz in sich zurückgezogen in ihrem Sessel. Die Gespräche über die Vergangenheit ihres Mannes fließen an ihr vorbei, bis sie plötzlich aufschreckt: »Mein Gott, wie ich mich schäme, eine Deutsche zu sein.«
Münch blickt auf. »Ich nicht.« Nun gut, sagt er, die Juden hätten es schlimm gehabt in Auschwitz. Aber für ihn sei es auch nicht leicht gewesen. Und wenn er heute einen Juden treffen würde? Hans Münch zuckt mit den Schultern. Er sagt: »Ich kenne keine freilebenden Juden. Ich kenne nur Auschwitz-Juden.«
Eine von ihnen ist Eva Kor aus Indiana. 40 Jahre lang hat sie geschwiegen. Darüber, daß sie Mengele überlebt hat. Sie hatte sich ihr Leben eingerichtet, als Immobilienmaklerin in Indiana. Aber dann hatte sich ihre Kraft erschöpft. Sie begann darüber zu reden, was Josef Mengele ihr angetan hat, damals, als sie elf Jahre alt war.
Eva Kor suchte ihre Vergangenheit in den Archiven, und sie stieß auf Dr. Hans Münch, Landarzt in Roßhaupten. Sie telefonierten miteinander, sie schrieben einander, sie trafen sich. Eva Kor lernte einen Menschen kennen, der ihr die Überzeugung gab, daß er sich mit seiner SS-Biographie auseinandergesetzt hatte, daß er einer sei, der aus Opportunismus, nicht aus Überzeugung »in die SS geraten ist«. Einer, der bereut. Eva Kor beschloß, diesen Mann zum 50. Jahrestag der Befreiung einzuladen, sie nach Auschwitz zu begleiten.
Hans Münch war 19 Monate im Lager Auschwitz. Im Hygiene-Institut der Waffen-SS leistete er seinen Dienst. Im Schatten der Rampe, der Gaskammern, der Krematorien. Münch verrichtete seine Arbeit so gewissenhaft wie all die anderen SS-Chargen auch. »Juden auszumerzen, das war eben der Beruf der SS damals«, sagt Münch. Aber: »Meine Juden haben mich verehrt. Die haben mich geachtet.«
Das hat Hans Münch schriftlich: Der Auschwitz-Häftling Kurt Prager beschreibt Münch als »einen Leuchtturm von Menschlichkeit und Güte unter lauter Narren und Mördern«. Auch Professor Geza Mansfeld, als Häftling sein wissenschaftlicher Mitarbeiter, rühmt Münch. Er hätte »weit über die üblichen Gesetze der Menschlichkeit hinaus Gutes getan«.
»Ich bin ein human eingestufter, nicht verurteilter Kriegsverbrecher«, sagt Münch und spricht von den Möglichkeiten, die er als Arzt in Auschwitz hatte: »Ich konnte an Menschen Versuche machen, die sonst nur
* Das Foto wurde nach der Befreiung der Häftlinge aufgenommen.
an Kaninchen möglich sind. Das war wichtige Arbeit für die Wissenschaft.«
Seine Frau hat eine Brotzeit hergerichtet, und Münch ißt ein Schinkenbrot, während er erzählt, wie er seinen Häftlingen Streptokokken in die Arme und den Rücken injizierte. Im Block 10, wo seine SS-Kollegen ihre medizinischen Versuche an Menschen machten, hatte auch Münch seinen eigenen Laborraum. Er wollte den Zusammenhang zwischen vereiterten Zahnwurzeln und Rheuma nachweisen. Für die Wissenschaft riß er den Häftlingen Zähne aus, »um an den Eiter ranzukommen«. Waren deren Zähne gesund, injizierte er ihnen den Eiter anderer Häftlinge.
»Das Menschenmaterial«, sagt er, habe er von Dr. Clauberg bekommen, Frauen, »die sonst vergast worden wären«. Von Carl Clauberg, der im Block 10 seine Sterilisationsexperimente an Frauen vornahm. Ein widerlicher Mensch, dieser Clauberg, sagt Münch heute, »hat ausgeschaut wie ein Jud«.
Münch wollte immer Wissenschaftler werden. Genau wie sein Vater. Der hatte sich zum Botanikprofessor hochgearbeitet. Seine Erziehungsmaxime war: »Wenn aus dem Bub was wird, dann sind das die Erbanlagen, wenn aus dem Bub nix wird, sind das auch die Gene.«
Münch studierte Medizin in Tübingen und München, war Mitglied des Jungdeutschen Ordens und der SA. Er spezialisierte sich als Bakteriologe, war Politischer Leiter in der Reichsstudentenführung und wurde am 1. Mai 1937 Mitglied der NSDAP. 45 Prozent der deutschen Ärzte waren in der Partei. Doch 1939, nach dem Studium, wurde ihm keine wissenschaftliche Stelle angeboten. Münch mußte ins Allgäu, »tumbe Bauern therapieren. Ich bin da versauert«, klagt er noch heute. Und das klagte er auch seinem Freund Bruno Weber, Arzt beim Hygiene-Institut der Waffen-SS. Weber war gerade dabei, in Auschwitz eine Außenstelle des Instituts aufzubauen. Er versprach Hilfe.
Es war »ein herrliches Biergartenwetter«, als Münch im Sommer 1943 mit seiner Frau in Auschwitz ankam. Er freute sich. Ein strahlender Himmel, die Hitze hätte ihn schläfrig werden lassen, wäre nicht dieser Geruch gewesen. Süß und modernd. »Niemand konnte den Gestank, der über der Gegend lag, ignorieren. Und jeder sah die Flammen, die aus den Schloten kamen«, erzählt er. »Man hat nach spätestens zwei Tagen gewußt, was los war.« Seine Frau wurde noch am selben Tag von SS-Leuten aufgeklärt. »Das hier ist nichts für uns«, sagte sie zu ihm. »Schau, daß du sofort hier wegkommst.«
Aber was Münch in Auschwitz vorfand, ließ ihn bleiben: »Das waren ideale Arbeitsbedingungen, eine exzellente Laborausrüstung und eine Auslese von Akademikern mit weltweitem Ruf.« Der Landarzt aus dem Allgäu traf unter den Häftlingen »die besten Wissenschaftler des Pasteur-Instituts und hochausge- bildete Fachleute europäischer Universitäten«. Daß die Juden waren, störte ihn nicht. »Wir haben sie gepflegt, die spurten, die standen stramm, daß es nur so klapperte.«
Münchs Aufgabe war die Seuchenbekämpfung. Fleckfieber, Ruhr, Typhus brachen immer wieder aus, und seitdem SS-Leute daran starben, bestand Handlungsbedarf. Seuchenbekämpfung bedeutete in Auschwitz, »daß die ganze Baracke abgeschlossen wurde, keiner kam raus, keiner kam rein. Die ganze Mannschaft marschierte ins Gas, denn es war ja möglich, daß jeder das weiter überträgt. Das war die übliche Therapie. Die Maschine lief an, und die ganze Baracke wurde eingeschürt«.
Er spricht darüber eher beiläufig, und da ist kein Zweifel und kein Gefühl.
»Hat Sie das belastet?«
»Nein, nein, überhaupt nicht, weil es die einzige Möglichkeit war, um die Sache nicht noch viel, viel, viel schlimmer zu machen.«
»Vergasen war besser?«
»Auf jeden Fall! Auf jeden Fall! Sie dürfen niemals von dem einzelnen Fall ausgehen. Wenn man die Sache konsequent durchdenkt, war das die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, daß das Lager zugrunde geht.«
Daß es dagegen nur ein Mittel geben konnte, daran glaubt Münch noch heute. »Isolierung durch Gas«. Für Münch ein humaner Akt: »Die wären vielleicht nicht vergast worden, aber sie wären jämmerlich an Seuchen krepiert.«
Er habe sich nicht unwohl gefühlt in Auschwitz, sagt der alte Herr Münch heute. Der »ewige Außenseiter« habe »Insider sein« wollen. In Auschwitz wurde er es. Im Kreis der SS-Lagerärzte wurde er respektiert.
Josef Mengele war ihm »der sympathischste Lebensgenosse. Da kann ich nur das Beste sagen«. Die beiden kamen zur selben Zeit nach Auschwitz und verließen es am selben Tag. Mengele nahm den Kindern die Köpfe, und Münch untersuchte sie. Am 29. Juni 1944 schickte Mengele den Kopf eines zwölfjährigen Kindes. Münch untersuchte ihn, schickte den Befund am 8. Juli zurück. »Das war Alltag«, meint er heute. »Mengele und die anderen schickten uns ihr Material, Köpfe, Leber, Rückenmark, was eben so anfiel. Wir haben analysiert.« Sich weigern? Die Idee ist ihm auch jetzt unbegreiflich. »Das war Dienst, und Dienst war Dienst, und Schnaps war Schnaps.«
Die Abende verbrachte man im Casino. »Da war eine gute Kameradschaft«, erzählt er, »man hat über alles gesprochen.« Nur nicht über den Kriegsverlauf.
Münch wollte nie weg von Auschwitz. Wozu auch? »Im Hygiene-Institut war ich der König. Das geht ganz schnell, ruhig an einem Platz zu leben, an dem Hunderttausende Menschen vergast werden. Das hat mich nicht belastet.«
Münch rühmt Mengeles Intelligenz, seine Eleganz »in der intellektuellen Wüste von Auschwitz«. Und dann redet er über dessen Glaube, daß die »germanischen Gruppen Träger der europäischen Kultur sind«, zitiert Mengele zum »Judenproblem«, daß die »Heilung der Welt« durch die »Judenvernichtung« erreicht würde, und fordert Objektivität und Rationalität in der Diskussion darüber.
»Es gab keine armen Juden, man mußte schon ideologisch sehr verblendet sein, um nicht zu sehen, daß die Juden viele Bereiche, besonders die ärztlichen, weit infiziert hatten.« Am schlimmsten, meint der Bakteriologe noch heute, seien die »Ostjuden« gewesen. »Ein furchtbares Gesindel. Die waren so dressiert auf Servilität, daß man sie als Mensch gar nicht mehr qualifizieren konnte.«
Als Münch nach Auschwitz zurückkehrte, am 27. Januar 1995, stand er fahrig und ein bißchen zittrig im Blitzlicht der Fotografen. Neben sich die Frau, die als Kind die Menschenversuche seines Freundes Mengele überlebt hatte. Jene Eva Kor aus Indiana, die ihn hergebeten hatte.
Nach den offiziellen Veranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung stellte sich Eva Kor auf die Trümmer eines Krematoriums. Sie redete über Josef Mengele. Münch stand neben ihr.
Sie sprach auch über ihn, eher klagend als anklagend. Sie redete darüber, wie ein Mensch sich aus »Opportunität« in ein unmenschliches System integriert. Münch hörte das alles, nickte zustimmend. Und dann reichte Eva Kor dem SS-Arzt die Hand und verzieh ihm, vor sich selbst und vor der Welt.
Wenn er sich heute, zu Hause in Roßhaupten, an diesen Moment in Auschwitz-Birkenau erinnert, kann Münch der symbolischen Versöhnung nichts abgewinnen. »Ein pathologischer Fall, diese Frau.« Hätte »eine Mutter-Kind-Beziehung zur SS gehabt, die sie beschützt hat«.
Und dann sei da ja dieser Zwischenfall gewesen: Als alle Reden gehalten waren, die Überlebenden sich zerstreut hatten, stand nur Vera Kriegel, auch eine Überlebende der Zwillingsexperimente des Josef Mengele, noch in der Nähe von Münch. Damals, vor 50 Jahren, war die vierjährige Vera in ein Labor geführt worden. Eine Wand aus präparierten Menschenaugen hatte sie angestarrt. »Dutzende Menschenaugen, mit Nadeln aufgespießt, wie eine Schmetterlingssammlung.« Dann begannen die Experimente des Josef Mengele: Injektionen in die Augen zur Veränderung der Augenfarbe.
Bei der Befreiungsfeier sah sie Münch, stand neben ihm. Irgendwann konnte sie nicht mehr. »Warum nur haben Sie das getan?« Sie schrie das mit brüchiger Stimme, ein hilfloser Aufschrei, eigentlich an niemanden gerichtet. Münch straffte sich, knirschte mit den Zähnen, wirkte gar nicht mehr alt, konnte sich gerade noch beherrschen, bis Vera Kriegel weitergegangen war. »Die Frau Kriegel ist eine von den ganz miesen Häftlingen«, hörte man ihn leise sagen, »diese widerliche kleine Jüdin. Der ging es damals doch gut. Die hat sich durchgefressen, hat sich rangeschmissen bei Mengele, nur um ihr kleines Leben zu retten.«
Im Auschwitz-Prozeß in Krakau wird Münch 1947 wegen seiner Rheuma- und Malaria-Experimente als Kriegsverbrecher angeklagt. Wenn er darüber spricht, wird sein Gesicht hart, die Hand verkrampft sich um ein Lineal: »Da marschierten sechs hysterische Weiber auf, darunter ein furchtbar giftiges Weib, die ist extra aus Amerika eingeflogen worden, und alle haben gejammert, was ich ihnen Grausames angetan hätte«, sagt er, und das Lineal in seiner Hand zerschneidet mit kurzen Bewegungen die Luft. »Die Malaria-Experimente waren ganz harmlos. Ich habe einen Test gemacht: Ist der Mann immun oder nicht?«
»Wie geschah das?«
Münch zögert und schüttelt den Kopf. »Darüber brauchen wir nicht zu reden. Das war ungefährlich.« Mehr will er darüber nicht sagen.
Nach Ansicht von Tropenmedizinern gibt es nur zwei Wege, solche Tests zu machen. Entweder hat er die Häftlinge von Malaria-Mücken stechen lassen, oder er hat gesunde Häftlinge mit malariaverseuchtem Blut infiziert.
Zehn Monate sitzt Münch im Krakauer Montelupi-Gefängnis in Untersuchungshaft: »Eine Reihe meiner Häftlinge hat für mich ausgesagt.« Die Richter des Obersten Polnischen Nationalgerichts attestieren Münch, daß er »den Häftlingen gegenüber wohlwollend eingestellt war, ihnen geholfen und sich selbst dadurch gefährdet hat«. Am 22. Dezember 1947 ist Hans Münch ein freier Mann. Aus dem Freispruch wächst der Mythos vom guten Menschen in Auschwitz.
Münch schildert das Verhältnis zu den 120 Häftlingen seines Kommandos als eine Lageridylle, plaudert über die »kleinen Streiche«, die er so trieb, wenn er mit den Häftlingsfrauen schwarz Orangenschnaps brannte. »Wunderbaren Orangenschnaps, absolut herrlich.« Da seien sie »fast so was wie eine Familie« gewesen.
»Der Mann war in der SS! Wir waren Häftlinge! Niemals waren wir eine Familie«, erinnert sich Elis Herzberger. Der Bakteriologe war einer von Münchs Häftlingen in Auschwitz. »Sie haben uns wie Haustiere behandelt.«
Münch schildert die Transporte aus Ungarn im Sommer 1944. Er erinnert sich an das Kreischen der Züge, wenn sie an der Rampe abgebremst wurden, an das dumpfe Türenschlagen, an die Schreie der SS-Männer, das grelle Licht der Scheinwerfer. Er erinnert sich, wie Häftlingskommandos, unter den Peitschenhieben der SS, die Männer und Frauen und Kinder aus den Viehwaggons treiben, an die Kinderleichen, die die Häftlinge aus den Waggons kratzen, sie wegtragen, so wie man tote Hühner an den Beinen faßt, immer zwei in einer Hand, die Köpfe nach unten.
Über all dies redet Münch nach 53 Jahren entspannt und gelassen, und er merkt nicht, daß seine Worte eine eigene Geschichte erzählen. »Sie müssen wissen, das Umbringen von Leuten, das war so selbstverständlich wie, daß man um soundso viel Uhr das und das zu tun hat. Man gewöhnt sich an den Alltag in Auschwitz. Auch wenn es exzessiv ist. Das geht ganz schnell, zwei, drei Tage.«
»Hans, komm bitte sofort her.« Frau Münch hat im Flur gestanden und zugehört. Er geht zu ihr. Sie flüstert erregt auf ihn ein, gestikuliert mit den Armen, wird lauter. »Sag ihm, er soll gehen. Bitte. Er soll sofort gehen. Ich will das nicht mehr hören. Ich habe Angst vor Auschwitz.« Münch streicht ihr übers Haar, kommt zurück, lächelt um Verständnis bittend: »Sie bleiben natürlich.«
Und dann redet er, redet wie losgelassen und gerät dabei in den Sog seiner Erinnerungen. Daß er dabei seine eigene Legende niederreißt, merkt er es nicht? Kann er es nicht, oder ist das jetzt im Alter von 87 Jahren, »so kurz vor Toresschluß«, unerheblich geworden?
Er spricht von »idealer Selektion«, daß »man als Arrangeur« bei aller Oberflächlichkeit der Selektion schnell einen Blick dafür bekommen hat, für »all die kleinen Tricks«. Wenn jemand seine Krücke verbergen wollte oder jemand sich als Arzt ausgab, der keiner war. Da mußte schon alles seine Ordnung haben.
Münch hat immer bestritten, selbst auf der Rampe selektiert zu haben. Als er Anfang 1944 vom Standortarzt Eduard Wirths zur Selektion aufgefordert wurde, habe er sich geweigert. Und wurde doch im Sommer 1944 zum Untersturmführer befördert.
»Warum waren Sie auf der Rampe?«
»Es hat mich interessiert, wie das abläuft. Ich hab'' mir das angeschaut aus Neugierde.«
Eine Neugierde, groß genug, um ein dutzendmal an der Rampe gewesen zu sein?
»So schrecklich«, sagt Münch, » war das sowieso nicht, die Selektion. Sie hatte ihre menschliche Dimension. Bei den Zuständen im Lager, da war es ein absoluter humaner Prozeß, die Leute zu selektieren. Das hat man nicht als inhuman empfunden. Sie im Lager verrecken zu lassen, das ist sicher inhumaner gewesen.«
»Haben Sie je Mitleid mit den Menschen gehabt, dort oben auf der Rampe?«
»Mitleid, das kann ich nicht sagen. Diese Kategorie gab es gar nicht. Ich habe das nie analysiert. Man muß es entweder im Ganzen ablehnen, oder man muß es im Ganzen anerkennen. Es ist einfach, sich mit der Existenz von Auschwitz zu identifizieren und daran beteiligt zu sein. Wenn man mal drin war, mitten drin, dann war man auch schuldig geworden. Ich konnte aber etwas tun in meinem Bereich. Ein paar Häftlinge herauspicken, die sonst ins Gas gehen. Dadurch habe ich mir ein gutes Gewissen verschafft.«
Der Landarzt verläßt in seinen Erzählungen das anonyme »man«, spricht immer öfter von »ich« und plaudert über Lagerselektionen im Krankenbau. Und wie einfach die doch waren. »Man ist da durchgelaufen, und dann hab'' ich gesagt, der und der und der. Die wurden dann am Montag auf den Lastwagen getrieben und abgefahren.« Ins Gas.
Münch ging nach der Selektion ins Krematorium, guckte sich an, wie die Aufseher die Menschen durch die Flügeltüren in die Gaskammer trieben. Sah, wie sie die Kinder hineinprügelten. Durch den Spion schaute sich Hans Münch an, wie die Menschen minutenlang nach Luft schnappten.
Münch imitiert die Gesten der Sterbenden. Sein Gesicht verzerrt sich, er reißt den Mund auf, japst, schlägt die Arme über dem Kopf zusammen, verkrallt die Hände in seiner Kehle. Und dann macht er ihre Geräusche nach. Ein Summen kommt tief und langsam aus seiner Brust, dumpf und brummend, »wie das Summen in einem Bienenstock«. Und dann ist das Vergasen vorbei, die Türen werden geöffnet, und »manchmal lagen sie alle zusammengesunken da, manchmal lagen sie wie eine Pyramide aufeinander, die Kinder immer unten, zertreten. Und manchmal standen sie. Wie Basaltsäulen«.
Darüber wundert Münch sich heute noch: Die standen.
An diesem Abend läuft im Fernsehen ein Film über Josef Mengele, seinen Freund, der ihm »absolut in jeder Weise der Sympathischste« gewesen war. Münch hört die Geschichten der überlebenden Zwillinge, sieht die Tränen, die einem Mosche Offer über das Gesicht laufen, während er erzählt, was Mengele in Auschwitz mit ihm tat, und Münch versteinert. Bewegungslos sitzt er da, mit hartem Gesicht.
»Herr Münch, Sie sagen, Mengele habe den Kindern kein Leid angetan.«
»Da steh'' ich absolut dazu. Er hat sie optimal behandelt.«
»Verurteilen Sie Mengele?«
»Ich kann ihn nicht verurteilen.«
Draußen ist es jetzt, bis auf den Vollmond, vollständig dunkel geworden. Dennoch ist Münch aufgestanden und hat alle Lampen gelöscht.
»Waren Sie ein Helfer?«
»Ein Helfer? Zu was? Daß einige durchgekommen sind oder daß die Grausamkeit von Auschwitz auf die Spitze getragen wurde, indem man auch gesunde Leute vergast hat, bloß weil sie hätten krank werden können?«
»An beidem waren Sie beteiligt?«
»Ja. Man mußte sich dazu bekennen. Aber das war gar nicht schwer.«
»Ist Hans Münch ein Täter?«
»Ja, natürlich bin ich ein Täter. Ich habe viele Leute gerettet. Dadurch, daß ich ein paar Leute umgebracht hab''.«
Und dann spricht der humane Kriegsverbrecher Hans Münch über die Entscheidung zwischen Leben und Tod. »Selektionen habe ich nur freiwillig gemacht, eben in solchen Fällen, wo ich engagiert war, und wo ich Leuten einen Gefallen tun konnte, daß ich ihnen eine Spritze geben konnte, daß sie nicht die nächsten 14 Tage überleben müssen.« Hans Münch redet ruhig und sehr beherrscht über seine Beteiligung. »Selektionen an der Rampe habe ich praktisch nie ...«, und dann stutzt er kurz und fährt fort, »nur gesehen, nie persönlich gemacht, sondern immer nur individuell, eben im Krankenbau natürlich und bei besonderen Fragen.« Dann schweigt er.
»Haben Sie ein schlechtes Gewissen? Tut es Ihnen leid?«
»Dort gewesen zu sein? Im nachhinein natürlich nicht.«
In seinem Bücherregal steht zwischen Konrad Lorenz und Adolf Hitlers »Mein Kampf« das Buch: »Das Leben Jesu Christi«. Plunder sei der Glaube, sagt Münch. Der Tod sei das Erlöschen einer biologischen Einheit: »Danach kommt nichts.«
Münch steht winkend vor seinem Haus, ein liebenswürdiger älterer Herr, braungebrannt, mit schlohweißem Haar. Er hat die letzte Frage gelassen beantwortet. »Was bedeutet Auschwitz für Sie?«
»Nichts.«
* Das Foto wurde nach der Befreiung der Häftlingeaufgenommen.