SPD Die ersten Grünen
Im rheinischen Wesseling sammelt die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen Altpapier ein, zehn Tonnen für 515 Mark. In Isselhorst bei Gütersloh messen SPD-Mitglieder den Nitratgehalt des Grundwassers. In Schwäbisch Gmünd pflanzen Genossen im Ortsteil Lindenfeld einen Baum, passenderweise eine Linde. Westdeutschlands Sozialdemokraten sind, so scheint es, über Nacht zur Öko-Partei ergrünt: In den Schaukästen der rund 10 000 Ortsvereine hängen Wandzeitungen zu Themen wie Waldsterben und Katalysator, und auf Informationstischen liegen Faltblätter aus, auf deren Titelseite die Partei mit einem Zitat aus einem Umweltreport des SPIEGEL um Neumitglieder wirbt: »Kühe, die tot auf der Weide zusammenbrechen, Hühner, die von der Stange fallen, Hunde, die auf der Straße krepieren.«
Mit einer »umfassenden, alle Ebenen der Partei einbeziehenden Kampagne« (SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz) reagiert die Parteispitze derzeit auf den Vormarsch der Grünen, die allerorten den Stimmenanteil der Sozialdemokraten dezimieren.
Umfrageergebnisse signalisierten dem SPD-Vorstand bereits Ende letzten Jahres ein erschreckendes Defizit: Auf die Frage, welche Partei in Sachen Umwelt am kompetentesten sei, nannten 42 Prozent die Grünen, immerhin 30 Prozent die Union, doch nur 22 Prozent die Sozialdemokraten. Umweltthemen aber sind mittlerweile, wie eine letzte Woche publik gewordene »Infas«-Studie für den Hamburger Senat ergab, im Bewußtsein der Bevölkerung »auf den ersten Platz noch vor die Arbeitsplatzsicherung« gerückt.
Um die Partei aus dem umweltpolitischen Abseits herauszubekommen, hat SPD-Stratege Glotz zunächst die 250 Unterbezirke aufgefordert, umgehend eigene Umweltbeauftragte zu wählen. SPD-Rathauspolitiker entwerfen zur Zeit eine »Umweltcharta sozialdemokratischer Kommunalpolitiker«.
In Bonn machten sich letzte Woche die SPD-Umweltsprecher Freimut Duve
und Michael Müller für den Erlaß einer neuartigen Technischen Anleitung stark, einer »TA Innenraumluft«, die einer bislang kaum beachteten Umweltgefahr gelten soll: der zunehmenden Belastung der immer besser isolierten Innenräume durch »Wohngifte«, die aus Möbeln und Baustoffen ausdünsten.
In der Parteizentrale selber will eine »Öko-Projektgruppe« mit gutem Beispiel vorangehen. In den Baracken-Toiletten etwa soll mit dem »Abstellen des Heißwassers« und einer »Zwei-Kammer-Sparschaltung« für die WC-Spülung Umwelt-Erfordernissen Rechnung getragen werden.
Bis Ende März sollen sämtliche Ortsvereine Veranstaltungen zum Generalthema »Ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft« abhalten. Obwohl zu Regierungszeiten, wie ein internes SPD-Papier einräumt, »die Mobilisierungsfähigkeit der Partei gelitten« hat, hofft Glotz, daß die Basis diesmal mitziehen wird - besser als im vergangenen Jahr, als nur 61 Prozent der Ortsvereine auf zentrale Weisung hin für die 35-Stunden-Woche geworben haben.
Mittlerweile gebe es, glaubt Glotz, »keine deutsche Partei, die im Rahmen einer nationalen Kampagne derart systematisch ein Thema aufgreifen und mit dem Bürger diskutieren kann«.
Bereits im September, in einer Sitzung des SPD-Gewerkschaftsrates, hatten Abgesandte des Parteivorstandes die neue grüne Strategie mit DGB-Vertretern abgestimmt. Wenngleich Glotz »in einzelnen Fällen Konflikte nicht ausschließen« kann, gibt er sich davon überzeugt, »daß SPD und Gewerkschaftsbewegung das Gegeneinanderausspielen von Arbeitsplätzen und Umweltschutz, wie es in den siebziger Jahren noch gang und gäbe war, überwunden haben«.
In der Tat sind in den Gewerkschaften seit kurzem neue Töne zu vernehmen. »Mit der Vergiftung unserer Umwelt«, sagt der IG-Bau-Chef Konrad Carl, »hinterlassen wir der Nachwelt ein schlimmeres Erbe als durch die staatliche Verschuldung.«
Die meisten DGB-Funktionäre haben mittlerweile auch begriffen, daß es enge Zusammenhänge zwischen Umweltgiften und Berufskrankheiten gibt. An solche Einsichten will die SPD anknüpfen: »Es wird das Ziel unserer Kampagne sein«, heißt es in einem Bonner Strategiepapier, den »Zusammenhang von Umweltschutz und Arbeitsschutz zu verdeutlichen«.
Nicht verhehlen will die SPD ihre Mitwirkung an umweltzerstörenden Fernstraßenbauten und an den ehrgeizigen Atomprojekten früherer Jahrzehnte: »Die SPD«, so Glotz, »steht nicht an, Fehler der siebziger Jahre auch Fehler zu nennen.« Anders als andere Parteien, lobt Hamburgs Ex-Bürgermeister Hans-Ulrich Klose seine Genossen, sei die SPD »fähig, ein schlechtes Gewissen zu haben«.
Gern erinnern sich SPD-Politiker neuerdings der - jahrzehntelang verdrängten - grünen Wurzeln der Arbeiterbewegung: Höchster Beachtung erfreut sich seit kurzem eine Organisation im SPD-Vorfeld, die selbst innerhalb der Partei nahezu in Vergessenheit geraten war - der vor genau 90 Jahren gegründete »Touristenverein ''Die Naturfreunde''«, dem heute weltweit rund 330 000 Mitglieder angehören, davon rund 120 000 in der Bundesrepublik.
»Die Naturfreunde«, rühmt der Sozialdemokrat und langjährige IG-Metall-Chef Eugen Loderer, »sind immer Grüne gewesen.« Österreichs Altkanzler Kreisky preist den Verein als die »erste grüne Bewegung« Europas. Willy Brandt weist auf die »enge und traditionsreiche Verbundenheit« seiner Partei mit den Naturfreunden hin.
Der SPD dient der Uralt-Verband als Beleg für die These, »daß der Schutz der Natur und der Umwelt schon früh von der Arbeiterbewegung als zentrale Forderung aufgegriffen worden ist« (Glotz).
Gegründet worden sind die Naturfreunde 1895 in erster Linie als sozialdemokratische Touristengruppe, um die Arbeiter »aus dem Dunst der Fabriken und Wirtshäuser hinauszuleiten in unsere herrliche Natur«. Dort entstanden bald Hunderte von selbstverwalteten Heimen, gleichsam als kollektive Wochenendhäuser. Zugleich aber widmeten sich die Arbeiter-Wanderer, wie ein soeben erschienenes Buch des Duisburger Sozialwissenschaftlers Professor Jochen Zimmer aufzeigt, intensiv dem Schutz der Natur. _(Jochen Zimmer (Hrsg.): »Mit uns zieht ) _(die neue Zeit. Die Naturfreunde. Zur ) _(Geschichte eines alternativen Verbandes ) _(in der Arbeiterkulturbewegung«. ) _(Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln; 308 ) _(Seiten; 16,80 Mark. )
Vor dem Ersten Weltkrieg schon prangerten die Öko-Sozis in ihrem Verbandsblatt die Kanalisierung von Flüssen als »Verschacherung von Naturschönheiten« an. In den 50er Jahren protestierten sie mit dem Mittel der gewaltfreien Besetzung, das später »Greenpeace« populär machte, dagegen, daß britische Militärs das Vogelbrutgebiet Knechtsand in der Nordsee als Bombenabwurfziel mißbrauchten.
Bereits 1963 rief ein Naturfreunde-Bundeskongreß (Gastredner: der Zukunftsforscher Robert Jungk) auf zum »Kampf gegen die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen«. Und schon vor zehn Jahren forderten die Naturfreunde in Bayern die sofortige Einführung von Abgas-Katalysatoren.
Wenngleich das »ökologische Frühwarnsystem« der SPD, wie der Naturfreunde-Bundesvorsitzende Hans-Peter Schmitz seinen Verband nennt, oft funktioniert
hat - als Beleg für ökologische Weitsicht der Partei taugt die Verbandsgeschichte kaum.
Im Nachkriegsdeutschland, nach der Zeit des Verbots durch die Nationalsozialisten, rangierte der proletarische Touristenverein jahrzehntelang »im milde belächelten Abseits« (Zimmer) - nicht zuletzt, weil die SPD den zwar sozialdemokratisch majorisierten, aber zur KP (wie heute zu den Grünen) hin offenen Verein links liegen ließ.
SPD-Funktionäre konnten in den Jahrzehnten des Fortschrittsglaubens den Naturschutzbemühungen des Traditionsverbandes ebensowenig abgewinnen wie Unionspolitiker. Als die Naturfreunde etwa in den fünfziger Jahren für die Erhaltung der Wutachschlucht im Schwarzwald demonstrierten, wurden sie, wie sich Gewerkschafter Loderer erinnert, auch von Genossen verhöhnt - als »Wolkenschieber«, »Wasserlecker« und »Waldscheißer«.
Als hoffnungslos vorgestrig erschien SPD-Politikern die SPD-Vorfeldorganisation lange Zeit auch aufgrund eines schon Anfang des Jahrhunderts entwickelten Lebensstils, der die Naturfreunde als frühe Vorläufer der grünen und alternativen Spontis und Körneresser von heute erscheinen läßt: »Der nacktbadende, naturschützende, reformbekleidete, vegetarische, freidenkende und bergsteigende Naturfreund war zwar sicher nicht die Regel«, urteilt Professor Zimmer, »aber eben auch keine Ausnahme.«
Zutiefst verdächtig erschienen die internationalistisch wie pazifistisch orientierten Naturfreunde manch einem in der SPD-Spitze auch, weil sie sich stets als Bestandteil der Friedensbewegung verstanden - selbst dann, wenn die Parteiführung antimilitaristische Aktionen gerade nicht für opportun hielt. Kürzlich erst erklärten die Naturfreunde ihre rund 400 westdeutschen Skihütten, Stadthäuser und Wanderheime allesamt zu »atomwaffenfreien Zonen«.
Doch so mißliebig die Linksabweichler der SPD-Führung einst, zu Regierungszeiten, waren, so sehr wissen Parteistrategen es neuerdings zu schätzen, daß sie mit dem Verband der »grünen Roten« (Zimmer) gute Kontakte ins Lager der Ökopaxe haben. »Wir werden«, sagt Naturfreunde-Bundesgeschäftsführer Heinz Hoffmann, »von der SPD ernst genommen.«
Bei den letzten Bundestreffen der Naturfreunde hielten Erhard Eppler und Oskar Lafontaine die Festreden. Vielerorts sind SPD-Mandatsträger bei der Gründung neuer Gruppen behilflich. Und schon hat die SPD-Zentrale den Bezirken und Ortsvereinen geraten, die nicht immer hinreichend ausgelasteten Naturfreundehäuser in die Planung von Parteiveranstaltungen einzubeziehen.
Die Naturfreundebewegung, empfahl die Parteispitze gar in ihrem »Sozialdemokrat Magazin« den rund eine Million Parteimitgliedern, »könnte ein Modell für selbstkritische Revision des arbeiterkulturellen Erbes sein«.
Verbandsforscher Zimmer ist ohnehin davon überzeugt, daß Sozialdemokraten eine rot-grüne Umwelt-, Kultur- und Freizeitorganisation nach Art der Naturfreunde gründen müßten, wenn es sie nicht bereits seit 90 Jahren gäbe. Es erweise sich, doziert Zimmer, angesichts der »zunehmend bewußter erfahrenen ökonomischen und ökologischen Krise« heute als »offener Mangel«, daß die Sozialdemokratie »kaum Angebote an freien Kommunikationsräumen, Fluchtmöglichkeiten oder Lernorten machen kann, wo Politik und Alltag zusammengehen«.
Jochen Zimmer (Hrsg.): »Mit uns zieht die neue Zeit. DieNaturfreunde. Zur Geschichte eines alternativen Verbandes in derArbeiterkulturbewegung«. Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln; 308 Seiten;16,80 Mark.