Die fetten Jahre sind vorbei
Zu Beginn eines jeden Jahres wird es im Haus I des Bonner Wirtschaftsministeriums ungewöhnlich geschäftig. Es gilt, eine Terminarbeit zu erledigen.
Die Beamten der Grundsatzabteilung tüfteln dann an jenem umfangreichen Zahlenwerk, aus dem Ende Januar das Bundesvolk entnehmen kann, wie wohl es ihm im gerade angebrochenen Jahr ergehen wird.
Eine der vielen Zahlen aus dem Jahreswirtschaftsbericht behandeln die Ministerialen stets mit besonderer Diskretion: die Voraussage darüber, um wieviel die deutschen Werktätigen im gerade begonnenen Jahr mehr produzieren werden als in den verflossenen zwölf Monaten.
Ob der Ausstoß an Radiergummis oder Rasenmähern, an Flugreisen oder Filmvorführungen um zwei Prozent, um dreieinhalb oder vielleicht auch fünf Prozent wächst, ob, wie schrecklich, vielleicht weniger als im Vorjahr herauskommen wird -- das Wohl und Wehe der Nation hängt von solch feinen Unterschieden ab: Die sogenannte Wachstumsrate gilt in der westdeutschen Republik als Schicksalszahl.
Sie wird, national, im Jahreswirtschaftsbericht als wichtigstes Planziel der bundesrepublikanischen Gesellschaft vorgegeben. Und sie wird, seit der Franzose Valery Giscard d''Estaing und der Deutsche Helmut Schmidt 1975 die Wirtschaftsgipfel erfanden, auch alljährlich international als Planvorgabe für die Industriegesellschaften festgelegt.
Ein stattlicher Produktionszuwachs war noch für jede bundesdeutsche Regierung der wichtigste innenpolitische Qualitätsnachweis. Regierungen, die sich, wie soeben noch die Sozialliberalen, mit angemessenen Aufschwung-Resultaten zur Wahl stellen, konnten allemal komfortabler Mehrheiten sicher sein. Regierende, die das Pech hatten, in flauen Zeiten dem Wähler-Votum ausgeliefert zu sein, mußten sich stets auf ein Ende ihrer Herrschaft gefaßt machen.
Nichts prägte die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft mehr als die Erfahrung, daß die Ausstattung mit materiellen Gütern immer reichhaltiger wurde. Nichts erwarteten die Bundesdeutschen entschiedener von ihren Politikern, als dafür zu sorgen, daß sich jedes Jahr ein ordentliches Plus einstellt. Wachstum, Wachstum über alles.
Und es wuchs, das Sozialprodukt, mal bescheiden, mal bombastisch. Nur in zwei Jahren, 1967 und 1975, hatten die Westdeutschen weniger produziert als im Jahr davor.
Als wollten sie die Niederlagen auf den Schlachtfeldern in den Fabriken, Büros und Werkstätten wettmachen, so S.204 legten die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zu: 7,9 Prozent im Jahresdurchschnitt der fünfziger, 5,8 Prozent während der sechziger Jahre.
Für kaum ein anderes Volk der industrialisierten Welt -- die Japaner ausgenommen -- wurde der wirtschaftliche Erfolg so zum gesellschaftlichen und politischen Leitmotiv wie für die Deutschen.
Ein »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« legt den Politikern in Bonn sogar die Pflicht auf, für »angemessenes Wirtschaftswachstum« zu sorgen. Das Godesberger Programm ist mit seiner Forderung nach einer »stetigen Erhöhung des Sozialprodukts« heute noch die Bibel der seit elf Jahren regierenden SPD.
Wie selbstverständlich wurde (und wird) in der Bundesrepublik, wie in den anderen Industriestaaten, ein höherer Güterausstoß gleichgesetzt mit einer Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt. »Alle von der westlichen Zivilisation beeinflußten Gesellschaften sind zur Zeit dem Evangelium vom Wachstum ergeben«, schreibt der amerikanische Biologe Rene Dubos.
Ein über alle Gruppen und Parteien hinwegreichender Grundkonsens sorgt dafür, daß die Lehre vom ewigen Wirtschaftswachstum hierzulande nie ernsthaft in Frage gestellt wurde. Keiner der etablierten Politiker würde es im Wahlkampf wagen, öffentlich Zweifel an diesem nationalen Dogma aufkommen zu lassen. Sie alle sind sich einig, daß die Bundesrepublik auch in den Fährnissen der Achtziger nur mit den probaten Wachstumsrezepten bestehen kann.
Nur wenn die Wirtschaft weiterhin jedes Jahr mehr produziere, so ist von den Bonner Meinungsführern zu hören, könnte eine verheerende Arbeitslosigkeit vermieden werden.
»Wachstumsstillstand bedeutet Massenarbeitslosigkeit und damit den katastrophalen wirtschaftlichen Zusammenbruch der Bundesrepublik Deutschland«, sagte Hans Matthöfer, Bundesminister der Finanzen.
Es ist eine schlichte Rechnung, die von den Regierenden aufgemacht wird: Nicht zuletzt die bedrohliche Revolution der Mikroprozessoren -- laut DGB-Chef Heinz Oskar Vetter eine »soziale Bombe« -- wird in den Werkhallen und Büros dafür sorgen, daß Hunderttausende von Arbeitsplätzen wegrationalisiert werden.
Ökonomen rechnen für die nächsten Jahre mit einer Produktivitätszuwachsrate von drei bis vier Prozent. Und das heißt: Weil an den Fließbändern der Roboter die Bleche schweißt oder in den Bankfilialen der Computer die Überweisungen ausdruckt, werden alljährlich drei bis vier von hundert Arbeitsplätzen überflüssig. Von den gegenwärtig 21 Millionen Stellen würden mithin alljährlich 600 000 bis 800 000 dem technischen Fortschritt zum Opfer fallen.
Nur wenn die Produktion auch zukünftig tüchtig erweitert werde, nur wenn die Wirtschaft um jährlich vier bis sechs Prozent zulege, könnten, so das Argument, die Rationalisierungsopfer wie die neu anrückenden Arbeitswilligen beschäftigt werden.
Bundesforschungsminister Volker Hauff, der sich von Amts wegen besonders zuständig für die Zukunft fühlt, ließ unlängst die griffige Gleichung Wirtschaftswachstum = Vollbeschäftigung per Computer in beeindruckende Szenarien umsetzen.
Nach Hauffs Erkenntnissen wäre ein Produktionsplus von 3,1 Prozent erforderlich, um nur die Zahl der registrierten Arbeitslosen bei 1,08 Millionen zu halten. Sinke hingegen die Wachstumsrate auf zwei Prozent ab, dann, prophezeit Volkswirt Hauff, müssen in fünf Jahren 2,23 Millionen Bundesbürger vom Arbeitslosengeld leben.
Eine Wachstumsquote von zwei Prozent halten der Minister und seine Helfer für wahrscheinlich, wenn die Regierenden der Wirtschaft nicht mit deftigen Staatsausgaben Dampf machen.
Umgekehrt sind die üppigen 3,1 Prozent nur zu erreichen, wenn der Staat S.207 tüchtig nachhilft: Gigantische 120 Milliarden Mark sollen der Finanzminister und private Investoren für zusätzliche Investitionen auswerfen. Und da das Geld hierzulande nicht verfügbar ist, soll es im Ausland, vorzugsweise bei den Öllieferanten, geliehen werden.
Wie die Kredite zurückzuzahlen sind, verrät Hauffs schlaues Papier nicht. Mit Bedacht: Schon jetzt werden in der Bundesrepublik (und nicht nur da) Wohlstand und Wachstum auf Pump gebaut.
Die Deutschen, die seit einem Jahrzehnt Weltmeister im Devisenhorten waren, machen 1980 in der sogenannten Leistungsbilanz ein Minus von rund 27 Milliarden Mark. Soll heißen: Diese Milliarden werden für Ferienreisen, ausländische Autos oder Mineralöl ausgegeben, ohne daß durch eigene Exporte und Dienstleistungen für entsprechende Einnahmen gesorgt wird.
Ähnlich trist wie in der Außenwirtschaftsbilanz sieht es in den Budgets der öffentlichen Auftraggeber aus. Die Staatsschulden machen bald 450 Milliarden Mark aus; die Bonner Regierung hat inzwischen mehr Kredite aufgenommen, als sie in einem Jahr an Steuern einnimmt.
Angesichts solcher Daten erscheinen Hauffs Empfehlungen, mit Auslands-Pump noch mal tüchtig auf Wachstum zu machen, schon als reichlich verzweifelter Kraftakt, mit dem das Unmögliche möglich gemacht werden soll.
Der hohe Einsatz scheint gerechtfertigt, zu viel steht auf dem Spiel. Der Alleskleber Wirtschaftswachstum hilft nicht nur die Arbeitslosigkeit in erträglichen Grenzen zu halten. Solange es jedes Jahr mehr zu verteilen gibt, regt sich auch kaum ein Lohnempfänger darüber auf, daß die Vermögen heute noch stärker konzentriert sind als vor zwei Jahrzehnten.
Vor allem aber: Nur wenn die Wirtschaft von Jahr zu Jahr mehr abwirft, glauben die Politiker ihren gewaltigen Sozialapparat bezahlen zu können. Nicht zufällig machte Kanzler Helmut Schmidt vor vier Jahren mit Herbert Ehrenberg einen Mann zum Rentenminister, der, wie Gunter Hofmann in der »Zeit« schrieb, »Wachstum als eine Art sozialdemokratischen Tagesbefehl« ausgibt. Für Ehrenberg ist fast die gesamte Sozialgesetzgebung »auf einer wachsenden Wirtschaft aufgebaut«. Die Bundesrepublik brauche daher im Verlauf der nächsten Jahrzehnte ein Wirtschaftswachstum, das über den Produktivitätsfortschritten liegt.
Doch wie sollen diese fünf, sechs oder sieben Prozent geschafft werden? Selbst mit viel Geld, so man''s denn noch hat, sind ja keine Wunder mehr zu bewirken.
178 Milliarden Mark spritzten die Finanzminister von Bund und Ländern S.208 sowie die Stadtkämmerer der Gemeinden zwischen 1975 und 1978 in die Wirtschaft, zum größten Teil als Konjunktur- und Wachstumsdrogen. Das Ergebnis war überaus bescheiden. Erst im zweiten Anlauf, 1978/79, gelang es, die Wirtschaftsmaschinerie noch mal richtig flottzumachen und (1979) auf ein Plus von 4,4 Prozent zu trimmen.
Dennoch mußte die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit im vorigen Jahr durchschnittlich 876 000 Arbeitslose alimentieren; und dennoch hielt sich selbst in der ersten Hälfte dieses Jahres, als die Wirtschaft 3,6 Prozent drauflegte, die Zahl der Jobsuchenden hartnäckig über 800 000.
Die ganz Große Koalition all jener, die sich von mehr Wirtschaftswachstum die Lösung aller Beschäftigungsnöte versprechen, steht trotzdem ziemlich unverbrüchlich. Die meisten Politiker wie die überwiegende Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler, die Fraktion der Unternehmer wie der Gewerkschafter finden sich im Glauben an die segensreichen Wirkungen wirtschaftlichen Wachstums. Zerstritten, je nach dem Interessenstand, sind sie allein über die Frage, warum die Wohlstandsaggregate nicht mehr stotterfrei laufen und was dagegen getan werden kann.
Nach der Diagnose des Unternehmerlagers einschließlich seiner wissenschaftlichen und politischen Freunde ist der Schwung verlorengegangen, weil überhöhte Lohnkosten und überzogene Staatsabgaben den Managern und den Eigentümern die Lust am Investieren genommen haben. Wenn die Gewerkschaften nicht mehr so gierig und der Staat nicht mehr so verschwenderisch seien, dann würden, so heißt es, in der Wirtschaft wieder ungeahnte Wachstumskräfte frei.
Dem Rezept dieser sogenannten Neoliberalen, die wie die Urväter der kapitalistischen Lehre einem Laisserfaire das Wort reden, wird von einer vornehmlich im Gewerkschaftslager beheimateten Fraktion die Wirkung abgesprochen.
Statt den Ausbau des Produktionsapparats durch niedrige Steuern und Löhne zu fördern, sollte nach Meinung dieser Gruppe mit Staatshilfen für genügend Nachfrage gesorgt werden. Die Vertreter dieser Lehre halten fest an der Lehre des englischen Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes, der einst in den modernen Volkswirtschaften eine chronische Nachfragelücke ausgemacht hatte. Weil zu wenig verbraucht würde, so meinen die Keynesianer, müsse durch staatliche Ausgabenprogramme nachgeholfen werden.
Die Ausgabenempfehlungen eines Volker Hauff entsprechen bester keynesianischer Tradition: Mit Milliarden aus der Staatskasse soll die Volkswirtschaft wieder so flott werden, daß im Lande Vollbeschäftigung herrscht.
Die neoklassische Gegenrechnung machte stellvertretend der CDU-Abgeordnete und Weinhändler Elmar Pieroth auf.
Pieroth, Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, riet, statt staatlicher Ausgabenprogramme solle die Regierung die Steuersenkungspläne der Opposition verwirklichen. Dann sei die Wirtschaft bereit, wie in den fünfziger und sechziger Jahren zu investieren. Statt der 3,1 Prozent Wachstum, die Volker Hauff ansteuert, seien dann gar 3,8 Prozent zu erreichen.
Die munteren Zahlenspielereien der Hauffs und Pieroths, der Neoliberalen wie der Keynesianer im Lande, haben allesamt mit der Wirklichkeit nicht viel gemein: Die einen wollen noch mehr Maschinen und Fließbänder installieren -- ohne zu fragen, ob es überhaupt genügend Käufer für die zusätzlichen Waren gibt, die mit diesen Produktionsmitteln herzustellen wären.
Und die anderen wollen mit Gewalt die Nachfrage anheizen -- ohne zu verraten, wie der zusätzliche Produktionsausstoß bezahlt werden soll.
Gemeinsam ist beiden Lagern der ungebrochene Glaube an die Wohltaten weiteren Wirtschaftswachstums. Zweifel sind da nicht erlaubt: »Zur Konjunktur- und Wachstumspolitik der Bundesregierung«, heißt es schlicht in einem internen Strategiepapier der SPD-Fraktion für die achtziger Jahre, »gibt es keine ernst zu nehmende Alternative.«
Wirklich nicht? Stimmt es also, daß die westlichen Gesellschaften sich auf einem Tigerritt befinden, daß aufgefressen werde, wer anzuhalten wagte? Muß es wirklich immer weiter vorangehen, S.210 und zwar in verschärftem Tempo, weil sonst gar nichts mehr geht?
Wie absurd die Wachstumsgläubigkeit der tonangebenden Technokraten-Generation ist, erhellen einige simple Hochrechnungen.
Ein Zuwachs von nur 3,5 Prozent im Jahr bis Ende 1989 heißt, daß sich das Sozialprodukt von jetzt 1,395 Billionen Mark im Jahr auf 1,968 Billionen erhöhen wird -- daß die Deutschen also in zehn Jahren noch einmal das zusätzlich zum heutigen Ausstoß an Gütern und Dienstleistungen abnehmen müssen, was sie Ende der sechziger Jahre insgesamt zum Konsumieren und Investieren hatten.
Geradezu aberwitzige Resultate erbringen höhere Wachstumsraten über längere Berechnungszeiträume.
Ein Zuwachs von jährlich sieben Prozent bedeutet, daß sich die Produktion in der kurzen Zeit von zehn Jahren verdoppelt. Oder: Ein Wachstum des Bruttosozialprodukts von bescheidenen drei Prozent bringt in hundert Jahren einen 19fachen Produktionsausstoß, bei einem jährlichen Plus von fünf Prozent ist das Bruttosozialprodukt nach 100 Jahren 132mal so groß.
»Nur ein Irrer kann angesichts dieser Zahlen bestreiten, daß wir in einer Ausnahmesituation leben«, schreibt der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl in seinem Buch »Ein Planet wird geplündert«.
Das Beängstigende an der Wachstumsformel ist der Umstand, daß es sich dabei um eine Zinseszinsrechnung handelt. Der jeweilige Zuwachs wird auf den jeweiligen Bestand aufgeschlagen, draufgesattelt wird auf immer neue Rekordzahlen -- eine Hetzjagd ohne Verschnaufpause.
Anfang der Sechziger, als die Bundesdeutschen im Jahr für 300 Milliarden S.211 Mark Sozialprodukt gut waren, bedeutete eine Steigerung um 30 Milliarden ein Plus von ordentlichen zehn Prozent. In diesem Jahr brächten 30 Milliarden mehr nur magere 2,15 Prozent.
Wer jetzt noch mit Prozentzahlen protzen will, muß sich schon tüchtig anstrengen. Als im Jahr 1960 rund 142 000 mehr Pkw als im Vorjahr auf Deutschlands Straßen kamen, da brachte das in der Zulassungsstatistik einen Zuwachs von 17 Prozent. Wollte die Kraftfahrzeugindustrie in diesem Jahr wiederum 17 Prozent zulegen, so müßten zusätzlich 446 000 Wagen bei den Zulassungsstellen angemeldet werden.
»Mehrproduktion -- bis zum Endsieg?« fragt Herbert Gruhl spöttisch.
Das Ende der eskalierenden Produktionsschlacht zeichnet sich längst ab. 1973 verbrauchte die Menschheit dreimal mehr Kupfer, viermal mehr Eisen und 14mal mehr Aluminium als 25 Jahre vorher. Die Lagerstätten vieler Rohstoffe -- Kupfer oder Zink zum Beispiel -- werden in spätestens einem halben Jahrhundert erschöpft sein.
Lassen sich manche Rohstoffe vielleicht noch durch andere ersetzen -unersetzlich sind die fossilen Energien, die das Industriesystem erst so richtig in Schwung brachten.
Wachstum -- das heißt bislang vor allem Ausplünderung der Kohle- und Ölreserven. Von 1890 bis 1973 schafften die Menschen es, den Erdölverbrauch im Jahresdurchschnitt um 6,9 Prozent zu steigern -- das kommt einer Verdoppelung alle zehn Jahre gleich. Dieser abenteuerlichen Verschwendung nicht erneuerbarer Ressourcen haben die Ölproduzenten durch ihre S.213 Preisstrategie nun selbst ein Ende gesetzt.
Seither, seit auch der Club of Rome erstmals das Bewußtsein für »die Grenzen des Wachstums« breitenwirksam weckte, bestreitet kaum noch ein Politiker oder Manager die banale Erkenntnis, daß in einer endlichen Welt nichts unendlich wachsen kann.
Doch kaum einer in der bundesdeutschen Entscheidungs-Elite wäre bereit einzuräumen, daß die Grenzen für die amtierende Generation bereits in Sicht sind. Für die nächsten zehn, zwanzig Jahre glauben sie allesamt, nach den bewährten Strickmustern weiter wirtschaften zu können. Und die wenigen, die von Zweifeln an den gängigen Wachstumsrezepten geplagt werden, hüten sich, dies öffentlich kundzutun.
»Lediglich Außenseiter«, schreibt der Augsburger Wirtschaftswissenschaftler Christian Leipert, »gehen das Risiko eines politischen ''Selbstmordes'' ein und artikulieren im politischen Willensbildungsprozeß die von Langfristüberlegungen ausgehenden wachstumskritischen Positionen.«
Einer von diesen Tabu-Brechern war der CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl. Ihn hat die eigene Fraktion nach der Veröffentlichung seines Bestsellers geschnitten und isoliert; Gruhl schied schließlich aus seiner Partei aus.
Ein anderer ist der Sozialdemokrat Erhard Eppler, der in seinem 1975 erschienenen Buch die Alternative »Ende oder Wende?« aufmachte.
Eppler kann in der SPD zwar auf eine kräftige Gefolgschaft zählen, doch bei Kanzler Schmidt und den Bonner Machern hat er wenig zu melden. Ohne Unterstützung aus der Hauptstadt ging Eppler bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühjahr unter; er gibt im nächsten Jahr den Vorsitz in der baden-württembergischen SPD ab und will sich fortan vor allem wissenschaftlich beschäftigen.
Für Mahner wie Gruhl und Eppler ist, so scheint''s, kein Platz in den gutgeschmierten Apparaten. Spielverderber sind nicht gefragt, schon gar nicht neue Ideen. Die Politik leidet, wie der Politologe Iring Fetscher unlängst beklagte, an »Phantasielosigkeit«.
Kaum wahrgenommen wird bei solcher Monomanie, daß die Kosten des vermeintlichen Fortschritts immer höher werden, daß der Nutzen immer geringer wird.
Die rund 126 000 Lastwagen, die seit 1975 zusätzlich über die Straßen der Bundesrepublik rollen, die rund fünf Millionen Personenautos, die seither noch dazugekommen sind -- sie verschafften gewiß Arbeitnehmern einer Schlüsselbranche ein ordentliches Einkommen und etlichen Bürgern noch mehr Mobilität.
Aber diesen Aktiva stehen einige Passivposten gegenüber, die in den stolzen Wachstumsstatistiken nicht aufgeführt werden, weil sie sich weitgehend der ökonomischen Rechenhaftigkeit entziehen: die Luft, die mit noch mehr Kohlenmonoxid verpestet wird; die Landschaft, die für die neuen Fahrzeuge in Betonpisten verwandelt wurde; die Straßen und Viertel, die infolge des rapide gestiegenen Verkehrslärms unbewohnbar geworden sind; die ständig steigende Zahl der Schwerverletzten, die entweder bis zum Lebensende von der Gesellschaft mitversorgt oder durch aufwendige Rehabilitation wiederhergestellt werden.
Natürlich sorgt eine ständig steigende Chemieproduktion für sichere Arbeitsplätze und für noch mehr materiellen Wohlstand. Sie bringt es aber auch mit sich, daß in Holland giftiges PCB (polychlorierte Biphenyle) in Muttermilch nachgewiesen wurde und daß in der Elbe, wie zuletzt im Juni, die Fische massenweise krepieren.
Natürlich leistet die Industrie mit höherer Asbestproduktion einen Beitrag zur Mehrung von Konsumgütern wie Babypuder, Autoreifen oder Fußbodenbelägen. Doch sie trägt damit gleichzeitig auch dazu bei, wie viele seriöse Untersuchungen inzwischen bestätigen, daß noch mehr Menschen an Krebs sterben.
Natürlich wird es den Wirtschaftsminister, die Maschinenhersteller oder die S.215 Bauunternehmen freuen, wenn die Papierindustrie Erweiterungsinvestitionen von 1,5 bis zwei Milliarden Mark plant. Mehr Papier bedingt aber auch eine noch höhere Zellstoffproduktion, und dies bedeutet noch mehr Dreck für Deutschlands Flüsse.
Ein Viertel der organischen Abwasserfracht, die der Rhein mitschleppt, stammt schon jetzt von den beiden Zellstoffabriken, die an seinen Ufern angesiedelt sind. Nach amtlichen Berechnungen ist das mehr, als wenn sechs Millionen Menschen täglich ungeklärt ihre Notdurft in den Rhein verrichten würden.
Die Wachstumsfreunde in der staatlichen Verwaltung wie in den Büros der Industrie rühmen sich gern, daß sie die Probleme der Umweltverschmutzung erkannt haben und seither mit vollem Einsatz bei der Rettungsaktion sind.
Doch was kam dabei heraus? Das Abwasserabgabengesetz verstand die Chemie-Lobby so zu verwässern, daß Experten es für ziemlich wirkungslos halten. Eine wirksame Verordnung über die Schadstoff-Immission der Industrie liegt noch immer fest. Das Lärmschutzgesetz ist in Bonn seit Jahren wegen der zulässigen Lärmwerte umstritten.
Mit Klärwerken, mit Luft-Filtern oder mit Lärmschutzwällen an den Autobahnen lassen sich gewiß einige Folgen der Industrialisierung abmildern. Doch wirklich wirksame Umweltschutzgesetze sind mit gutem Grund nicht in Kraft: Staat oder Industrie könnten sie gar nicht bezahlen.
Es ist ein gutgenährter Irrglaube, daß sich die schmutzigen Folgen der Wohlstandsmaschinerie einfach wegwischen lassen. Je weiter die Industrialisierung vorangetrieben wird, um so geringer ist die Chance, die Umwelt noch einigermaßen sauberzuhalten: Die Kosten für den Umweltschutz steigen erheblich schneller als die Produktion selbst.
Der amerikanische Professor Dennis Meadows legt in seiner Untersuchung über »Die Grenzen des Wachstums« dar, daß die hundertprozentige Reinigung von Abwässern einer Zuckerfabrik 100mal soviel kostet wie die dreißigprozentige Reinigung.
Dies jedenfalls ist sicher: Den Wettlauf mit dem Wachstum kann der Umweltschutz nicht gewinnen. Die Freude am Konsum all der schönen Waren, die von den Fließbändern rollen, wird immer nachhaltiger durch Lärm und Luftverschmutzung, durch Abwässer und Abgase beeinträchtigt.
»Die Kosten, die aufgewandt werden müssen, um Inseln des Überflusses zu unterhalten, wachsen immer schneller«, notierte der amerikanische Politologe Richard J. Barnet.
Von dem Verdacht, daß ein Mehr an Gütern nicht auch ein Mehr an Lebensqualität bedeuten muß, wurden nicht nur kritische Wissenschaftler befallen. Bei Umfragen stellte sich beispielsweise heraus, daß einer Mehrheit Lärmschutz wichtiger ist als neue Asphaltpisten. Allenthalben wächst der Widerstand gegen neue Industrieansiedlungen und zusätzliche Autobahnkilometer.
Das Unbehagen an der Industriekultur hat bisher vor allem Randbezirke der Gesellschaft gepackt -- die Jungen, die sich dem Leistungssoll entziehen, auch wenn sie sich dann in einen vergleichsweise bescheidenen Lebensstandard fügen müssen; die Aussteiger, die den Streß einer überfordernden Arbeitswelt nicht mehr mitmachen; die Nachdenklichen, die den Verlagen zu einem Boom an Alternativ-Literatur verholfen haben.
Die Zweifel an den Zukunftschancen der Waren- und Wachstumsgesellschaften bleiben aber längst nicht mehr auf Minderheiten beschränkt.
»Glauben Sie an den Fortschritt -das heißt, glauben Sie, daß die Menschheit einer immer besseren Zukunft entgegengeht?« lautet eine Standardfrage, die das Allensbacher Institut für Demoskopie regelmäßig abfragt. 1972 hatten immerhin noch 60 Prozent der Bundesbürger diesen Fortschrittsglauben; von da an ging es bergab, bis auf einen Rest von 31 Prozent Optimisten im Januar 1980.
Solche Trends lassen eine breite Debatte über die Lebenschancen eines auf S.217 stetes Wachstum angelegten Industriesystems als überfällig erscheinen.
Gelegentlich nehmen sich wenigstens die Sozial- und die Freidemokraten des explosiven Themas an, wenn auch vornehmlich in ihren internen Zirkeln. Bei der Christenunion werden die Zukunftsfragen der Gesellschaft genauso tabuisiert wie im lautstarken Getöse, das die Parteien untereinander, im Kampf aller gegen alle und Schmidt gegen Strauß, entfachen.
Niemand will öffentlich an den orthodoxen Lehr- und Erfahrungssätzen von der unauflöslichen Einheit rütteln, die Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung angeblich bilden.
Dabei verlangen auch die meisten Kritiker der Wachstums-Ideologie nicht, daß abrupt auf Stillstand umgeschaltet wird. Eine solche Vollbremsung -- so sie denn überhaupt möglich ist -- würde fraglos ins Desaster führen. »Die Vorstellung, man könne eine Wirtschaft auf Null drehen«, sagt Erhard Eppler, »ist idiotisch. Die Wirtschaft hat immer eine Dynamik, oder sie wird kaputtgehen.«
Alternative Ökonomen und Wissenschaftler, die in den Kategorien eines Eppler denken, beklagen weniger, daß die Industrie-Wirtschaften expandieren. Sie beklagen, daß eine einfallslose Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sich total den Geboten einer Wachstumswirtschaft ausliefert, daß die Vollbeschäftigung sichernden Wachstumsraten das alles überragende Ziel der Politik geworden sind. »Die Politik«, sagt Eppler, »ist in der Rolle, nur noch Sachzwänge exekutieren zu können.«
Und das noch mit mäßigem Erfolg. Trotz der Defizitpolitik sank die Arbeitslosenquote seit 1975 nicht mehr unter drei Prozent, jener Scheidemarke, unterhalb der nach der Definition der Volkswirte Vollbeschäftigung herrscht.
Es gibt kein Indiz, daß mit den Wachstums-Rezepten in Zukunft mehr zu erreichen ist -- im Gegenteil. »Wachstum«, sagt Carl Friedrich von Weizsäcker, »kann allenfalls das Tempo des weiteren Sinkens der Nachfrage nach Arbeit verlangsamen.«
Die Politiker können ihre Hilflosigkeit damit entschuldigen, daß schließlich auch dem Gros der Wirtschaftswissenschaftler noch keine griffigen Alternativen zu den überkommenen Konjunktur-Mitteln eingefallen sind. Der Sachverständigenrat, in dem fünf, zumeist beamtete Ökonomie-Professoren sitzen, betitelte beispielsweise sein Jahresgutachten 1977/78 mit der Zeile »Mehr Wachstum, mehr Beschäftigung«.
Wie ratlos die Heerschar der wissenschaftlichen Ökonomen ist, läßt sich an dem Umstand ablesen, daß die von den ökonomischen Profis angebotenen Problemlösungen entweder auf die 200 Jahre alten Erkenntnisse der ökonomischen Klassiker oder die 50 Jahre alten des englischen Lord Keynes zurückgehen.
»Ohne Zweifel«, schreibt der Schweizer Ökonom Kurt Dopfer, »die heutige Wirtschaftswissenschaft befindet sich in der Krise -- zumindest dann, wenn Krise definiert wird als die Unfähigkeit, mit den Herausforderungen unserer Zeit fertig zu werden.«
Den bisher einzigen Großversuch, einer orientierungslosen Wirtschaftspolitik alternative Konzepte anzubieten, unternahm 1972 eine Gruppe Schweizer Wissenschaftler und Praktiker.
Die eidgenössischen Wissenschaftler halten es in ihrer Expertise -- »Neue Analysen für Wachstum und Umwelt«, kurz »Nawu-Report«
( In Deutschland erschienen unter ) ( Binswanger, Geissberger, Ginsburg ) ( (Hrsg.): »Wege aus der ) ( Wohlstandsfalle«. Fischer alternativ, ) ( 328 Seiten, 7,80 Mark. )
genannt -nicht für zwingend, daß die Vollbeschäftigung nur mit immer neuen Produktionsrekorden zu sichern ist: »Mag die These, diese Zuwachsraten seien unerläßlich, um die Arbeitslosigkeit zu bannen, auch noch so oft wiederholt S.220 werden, diese Flucht nach vorne müßte unausweichlich in einer Sackgasse enden.«
Eingängige Patentformeln haben die Schweizer Ökonomen genausowenig zu bieten wie andere alternativ denkende Ökonomen. Vieles von dem, was sie empfehlen, scheint (noch) reichlich unrealistisch. Und sicherlich sind die Nawu-Konzepte nicht mehr, wie die Autoren bescheiden einräumen, als »Schritte in die richtige Richtung«.
Einleuchtend ist beispielsweise ihr Vorschlag, Energie durch höhere Steuern teurer zu machen. Wenn Energie und Rohstoffe erheblich mehr kosten würden, würden sie einmal sparsamer eingesetzt; zum anderen sei es auch nicht mehr so lohnend, Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen.
Einleuchtend, wenn auch nur schwer praktikabel, ist das Modell einer »ökologischen Buchhaltungspflicht": Nach den Grundsätzen des Verursacherprinzips, bei dem der Umwelt-Verunreiniger selbst für alle Folgen aufzukommen hat, wird in einer gesonderten Bilanz akribisch der »Verbrauch an Umweltkapital« festgehalten. Für diesen »Verbrauch« -- an »festen Abfällen« etwa, an »Abwärme« oder »Denaturalisierung von Boden« -- sollen die Unternehmen belastet werden.
Die Manager würden auf diese Weise gezwungen, sich in der Produktion mehr als bisher daran zu orientieren, welche Ressourcen sie einsetzen und welche Schäden sie anrichten.
Langfristig setzen die Schweizer Wissenschaftler auf »Veränderungen in der herrschenden Produktionsweise und den Wertsystemen der Gesellschaft«.
Die weniger wachstumsbesessene Gesellschaft, die von den Schweizern wie von den anderen Theoretikern einer alternativen Ökonomie entworfen wird, soll
* dem großtechnischen Gigantismus abschwören und darauf verzichten, alles, was technisch machbar ist, auch tatsächlich zu verwirklichen;
* die zunehmende Zerlegung der Arbeit in geisttötende, monotone Tätigkeiten abbremsen und dafür sorgen, daß die Menschen statt lohnabhängiger Fremdarbeit mehr befriedigende Eigenarbeit im privaten Bereich verrichten;
* die Tendenz zur Anonymisierung der Menschen in großstädtischen Wohnsilos stoppen und durch entsprechenden Wohnungsbau etwa das Entstehen »kleiner Netze« sich gegenseitig unterstützende Gruppen fördern.
So utopisch sich viele dieser Ideen ausnehmen, so gering auch die Chance sein mag, daß solche mehr oder weniger radikalen Modelle in den nächsten Jahren mehrheitsfähig werden könnten -- auf mittlere und längere Sicht könnten sie den Industriegesellschaften tatsächlich helfen, das Beschäftigungsdilemma umweltverträglicher und menschenfreundlicher zu lösen als mit den überkommenen Wachstumsanleitungen.
Eine Abkehr vom Größen-Kult zeichnet sich ja schon seit einigen Jahren ab: Daß die markantesten Symbole einer wuchernden Großtechnologie, die Atomreaktoren, besser nicht gebaut würden, fordern Hunderttausene seit Mitte der siebziger Jahre; daß eine extreme Arbeitsteilung den Menschen von seiner Arbeit entfremdet, gehört inzwischen nicht nur zum Erkenntnisgut von Humanisierungs-Experten in Ministerien und Gewerkschaftszentralen; und daß es sich in Wohngemeinschaften und Kommunen vielleicht besser leben läßt als in der Einzelzelle eines Wohngettos, demonstrieren inzwischen schon rund 400 000 Bundesbürger.
Gänzlich abwegig ist für die Industriestaaten (nicht für die Entwicklungsländer) die rhetorische Frage des US-Politologen Richard Barnet jedenfalls nicht: »Wären die Folgen denn wirklich so verheerend«, fragt Barnet, »wenn der Güterausstoß bei dem festgeschrieben würde, was anno 1980 produziert wird ...?«
Der Bonner FDP-Abgeordnete Helmut Haussmann, 37, einer, der noch nicht voll von den Zwängen des hauptstädtischen Apparats vereinnahmt wurde, schrieb im vorigen Jahr: »Offenbar können und wollen ... die Menschen nicht mehr so viel und so schnell kaufen, wie sie produzieren könnten.« Und er fragte: »Warum wird die Chance vertan, den Menschen ein Stück mehr Freiheit, mehr Freizeit zu geben?«
Ja, warum wohl? Warum wehren sich der Bundeskanzler und der Wirtschaftsminister, die Unternehmerverbände wie der Sachverständigenrat gegen eine konsequente Strategie der Arbeitszeitverkü rzung? Warum insistiert Otto Graf Lambsdorff gar auf der Behauptung, S.222 die Deutschen arbeiteten zu wenig?
Seit der DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter 1977 vor Opel-Arbeitern »etwas Prinzipielles über die Notwendigkeit von Arbeitszeitverkürzungen« gesagt hat, seit der oberste Gewerkschafter anregte, »die knappe Arbeit gerecht zu verteilen« -- seither wird in der Bundesrepublik ein Glaubenskrieg über niedrigere Arbeitszeiten ausgetragen.
Weniger zu arbeiten, so behaupten der Sachverständigenrat, die Unternehmerschaft und die meisten Bonner Politiker -- schaffe nicht wesentlich mehr Arbeitsplätze. Argumente werden zuhauf angeführt:
Etwa, daß die Arbeitslosen häufig nicht qualifiziert sind für die freiwerdenden Jobs; daß in kleinen Unternehmen nicht so viel Arbeitszeit frei wird, damit eine neue Kraft eingestellt werden kann; oder daß die Manager lieber Überstunden fahren ließen, als neue Leute anzuheuern.
Die Befürworter kürzerer Arbeitszeiten halten dagegen, daß ein Großteil dieser Einwände nur bei kurz- oder mittelfristiger Betrachtung gelten, auf Dauer aber kürzere Arbeitszeiten bei gleichbleibender Produktion auch mehr Menschen zu einer Beschäftigung verhelfen müßten -- zumal dann, wenn die Unternehmen vermehrt Teilzeitarbeitsplätze anbieten.
Unbestreitbar scheint jedenfalls, daß kürzere Schaffenszeiten ohne vollen Lohnausgleich langfristig zu neuen Jobs führen. Strittig ist allein, wieviel dabei herausspringt.
Eine Untergrenze markierte das Münchner Ifo-Institut. Die Münchner fanden im Bonner Auftrag heraus, durch Arbeitszeitverkürzungen ließe sich »zusätzliche Beschäftigung von etwa einem Drittel der rechnerisch freiwerdenden Arbeitsplätze erreichen«. Eine Verkürzung der Arbeitszeit um sechs Prozent brächte also zwei Prozent mehr Jobs.
Erheblich optimistischer sind die Forscher der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit: Sie leiten aus Erfahrungen der Vergangenheit einen Beschäftigungseffekt von 65 Prozent ab.
Ein ähnliches Resultat erzielte auch kürzlich der von den Nürnbergern engagierte US-Professor John Henize, der seinen Computer mit einem guten Dutzend volkswirtschaftlicher Daten spielen ließ.
Nach drei Jahren, so Henize, würde eine fünfprozentige Arbeitszeitverkürzung (rund zwei Stunden weniger Arbeit pro Woche) ohne Lohnausgleich die Beschäftigung theoretisch um 3,6 Prozent erhöhen. 1,4 Prozent verpuffen, weil in den Betrieben infolge der Arbeitszeitverkürzung durch flottere Rationalisierung die Produktivität stiege und weil geringer wachsende Einkommen dazu führen würden, daß die Bürger sich nicht mehr so viel kaufen.
Einspar-Reserven für Arbeitszeitverkürzungen sind gewiß vorhanden: In den dreißig Jahren bundesdeutscher Nachkriegsgesellschaft kamen die erstaunlichen Rationalisierungserfolge der Industrie weitgehend den Einkommen zugute.
Der Freizeit-Gewinn blieb bescheiden: 1950 betrug die durchschnittlich bezahlte wöchentliche Arbeitszeit 49 Stunden; bis 1979 war sie auf 42,4 Stunden gesunken (siehe Graphik Seite 213). Während der Ausstoß an Gütern seit 1950 um 376 Prozent stieg, sank die Wochenarbeitszeit um magere 13 Prozent.
»Der Wunsch nach Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen hat offenbar weitaus überwogen«, interpretierte der Sachverständigenrat vor zwei Jahren in seinem Gutachten. Und locker fügten die Ökonomie-Weisen an: »Daran hat sich anscheinend nichts Wesentliches geändert.«
Der Schein dürfte wohl trügen. Sicherlich wurden die Bürger in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vornehmlich von dem Wunsch nach höherem Verdienst beseelt, um sich endlich die vollautomatische Waschmaschine, den Mittelklassewagen oder die Jet-Reise nach Ibiza leisten zu können.
Doch nun, da sich doch eine erkleckliche Zahl mit solchen und ähnlichen Wohlstands-Insignien ausstaffieren konnte, spricht einiges dafür, daß der Wunsch nach weniger Arbeit immer mächtiger wird.
Auf die Frage, ob sie eine Erhöhung der Löhne oder eine Verkürzung der Arbeitszeit vorziehen würden, entschieden sich 1977 mehr als die Hälfte der Erwerbspersonen für eine geringere Arbeitszeit. Für mehr Lohn votierten nur 35 Prozent.
Eine Untersuchung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im vergangenen Jahr ergab sogar, daß insgesamt 88 Prozent der Befragten eine kürzere Arbeitswoche, längeren Urlaub oder vorzeitige Pensionierung anstreben -- auch wenn sie dann weniger verdienen.
In einem Minderheiten-Votum zum damaligen Sachverständigenrats-Urteil schrieb der Hohenheimer Volkswirt Gerhard Scherhorn: »Erkennbar wird bei einem großen Teil der Bevölkerung die Bereitschaft schwächer, für höheren materiellen Lebensstandard Berufsarbeiten zu leisten.«
Daß die Bonner sich von solchen Stimmungen noch nicht beeindrucken und die Gewerkschaften mit ihren Arbeitszeitforderungen allein ließen, hat verständliche Gründe.
Wenn die Einkommen infolge geringerer Arbeitszeiten vielleicht nicht mehr so geschwind wachsen, könnten die Arbeitnehmer womöglich die gegebene Einkommens- und Vermögensverteilung nicht mehr so selbstverständlich wie bisher akzeptieren.
Niedrigere Einkommenszuwächse bedeuten überdies weniger Steuereinnahmen. Solange aber die Bonner nicht von ihrem Schuldenberg runter sind, würde jeder Steuerausfall das Haushalts-Management zu einem noch luftigeren Akrobatenakt als bisher werden lassen.
Und solange sich niemand an das aufgeblähte Sozialbudget herantraut, S.224 bei dem weniger nach Bedürftigkeit als nach der Phonstärke der Verbandsvertretungen umverteilt wird -- so lange brauchen die Herrschenden Beitragssteigerungen, die nicht durch Arbeitszeitverkürzungen geschmälert werden.
Wo alles so schön festgezurrt ist und einigermaßen rund läuft, fällt Veränderung verständlicherweise schwer. Ein paar Jährchen mag es im alten Trott, wenn die Umstände nicht allzu ungünstig werden, auch noch gutgehen. Doch über das ganze Jahrzehnt werden sich die Polit-Strategen mit den Gebrauchsanweisungen von gestern und vorgestern nicht retten können.
Es kommt zuviel zusammen: Die Preispolitik der Opec macht den Stoff, der den Industrienationen zweieinhalb Jahrzehnte lang einen gewaltigen Schub versetzt hat, immer rarer. Und wenn die Erkenntnis auch noch so schwerfällt: Selbst mit geschicktester Pump-Politik läßt sich auf Dauer nicht überspielen, daß diese Milliarden für die privaten Konten wie für das Staatsbudget verloren sind.
Selbst wenn das Öl noch so wohlfeil zu haben wäre wie in den goldenen Fünfzigern oder Sechzigern, für ordentliche Wachstumsschübe wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik mangelt es an renditeträchtigen Erfindungen.
Schon tragikomisch: Die einzig durchgreifende Innovation, der schier unaufhaltsame Siegeszug der Mikros, wird in den Achtzigern nicht zusätzliche Beschäftigung schaffen, sondern Hunderttausende von Rationalisierungsopfern fordern.
Zu schön wäre es gewesen, wenn bei solchen Aussichten die Wahl-Kombattanten den Regierten die politischen Optionen fürs kommende Jahrzehnt aufgezeigt hätten. Doch statt über Perspektiven zu streiten, wurde über Personen gebolzt, statt einer spannenden Debatte erlebt das Volk ein langweiliges Duell.
Allein die Regierungsparteien SPD und FDP haben einige Spurenelemente an Nachdenklichkeit in ihren Wahlprogrammen hinterlassen.
Die Lambsdorff-Partei redet da tatsächlich einer Abkehr von der »Wegwerfwirtschaft« das Wort und ringt sich zu dem Bekenntnis durch, daß »Wachstum ohne Rücksicht auf die Umwelt ökonomisch unvernünftig ist«.
Die Schmidt-Partei, ein Jahrhundert lang in blinder Fortschrittsgläubigkeit befangen, hat nun, anno 1980, erkannt: »Wir dürfen nicht alles tun, wozu wir technisch in der Lage sind.« Oder sie räumt, in der Verkehrspolitik, »weniger Lärm und mehr Sicherheit ... Vorrang vor Neubaustrecken ein«.
Ansätze sind das immerhin, gut in unleserlichen Programmbroschüren versteckt, die der neugierige Bürger in den CDU-Heftchen vergebens sucht.
Ansätze sind das freilich auch, die in der traurigen Bonner Alltagsrealität bislang zumeist mit Nichtachtung gestraft wurden.
In den Programmen dient solch lästerliches Gedankengut, dem weder der Graf Lambsdorff noch der Kanzler Schmidt etwas abgewinnen dürften, der Beruhigung jener wachsenden Zahl von Parteifreunden, denen die abgeklapperten Wachstumsformeln nicht mehr ausreichen. Und sie eignen sich auch als Lockmittel für jene gewiß nicht allzu große Minderheit von Wahlbürgern, für die der chaotische Grünen-Verein eine gewisse Anziehungskraft besitzt.
Noch gilt unvermindert, was ein wütender und enttäuschter Erhard Eppler vor sechs Jahren, nach seinem Ausscheiden aus dem gerade etablierten Kabinett Schmidt, zu Papier gebracht hat: »Unsere Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit werden immer unangemessener, verzagter oder auch unredlicher, der Abstand zwischen dem Zeithorizont politischer Entscheidungen und Zeithorizont unserer Aufgaben unerträglicher.«
Den Blick stets fest auf die nächste Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahl gerichtet, mag das politische Establishment jener, die im Wirtschaftswunder-Rausch groß geworden sind, nicht mehr gern umlernen.
»Ich habe viel Sympathie für den Churchillschen Ausspruch, daß der Politiker immer nur an die nächste Wahl denkt, der Staatsmann an die nächste Generation«, sagte Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff voriges Jahr in einem SPIEGEL-Gespräch. Und er fügte, ehrlich wie er ist, hinzu: »Ich halte mich nicht für einen Staatsmann.«
Und viele andere in Bonn, die nicht so offen sprechen, sind es wohl auch nicht.
Ende
S.204Frankreich und Großbritannien: Bruttoinlandsprodukt Quelle:Internationaler Währungsfonds*S.217In Deutschland erschienen unter Binswanger, Geissberger, Ginsburg(Hrsg.): »Wege aus der Wohlstandsfalle«. Fischer alternativ, 328Seiten, 7,80 Mark.*