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TV-BIOGRAFIE Die Freuden der Phantasie

Mutig, unbestechlich, männerverbrauchend - das kurze Leben der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann ist nun verfilmt worden.
Von Nikolaus von Festenberg
aus DER SPIEGEL 25/2004

Sie war 12 oder 13, der Krieg eben erst vorbei. Der Vater unterwegs, Mutter und ältester Bruder auf Holzsuche im von Bombenbränden angekokelten Wald, eine elend dreckige Arbeit. Als die Sammler, verrußt wie die Kumpel, nach Hause kommen, bietet sich ihnen ein skandalöses Bild: Tochter Brigitte, die auf die kleinen Geschwister aufpassen soll, sitzt auf einem Stuhl, den sie sich auf den Tisch gestellt hat, die beiden kleinen Würmer unter ihr krabbeln ziemlich verzweifelt und mit vollen Windeln am Boden. Und was macht das Mädchen? Es liest.

Für den Film-und TV-Star Martina Gedeck gehört diese Szene zu den Schlüsselgeschichten über die Schriftstellerin Brigitte Reimann (1933 bis 1973). Aber wenn an diesem Freitag auf Arte »Hunger auf Leben«, die Verfilmung des Lebens der DDR-Autorin, zu sehen ist, dann werden darin keine Bilder von der kleinen Lese-Königin, die sich ungehorsam über das Geschwistergewusel erhebt, zu sehen sein. Für Kinderszenen hat der glänzende 90-Minüter keine Zeit, denn das Leben der Poetin war zwar kurz, aber so reich an Glück und Tragik, an Erotik und Verzweiflung, dass es für zwei Filme gereicht hätte.

Nicht nur als Kind hat sich Reimann über die Zwänge der Wirklichkeit im wortwörtlichen Sinne hinwegsetzt, als Erwachsene widerstand sie, wenn die Mächtigen sie einzuspannen versuchten und die Stasi von ihr Namen von aufmüpfigen Kollegen aus der Literaturszene genannt bekommen wollte. Sie war immer eigenwillig.

Statt als Lehrerin ein Leben in der Schule zu verbringen, wie es gemäß ihrer Ausbildung vorgesehen war, desertiert die 1933 in Burg bei Magdeburg geborene Bürgertochter. Sie will, sie muss Schriftstellerin werden. Das steht für sie in aller anmaßenden Unbescheidenheit fest. Sie hat den Stuhl auf den Tisch gestellt, die Wirklichkeit mag drunten wuseln.

Höhenluft macht forsch. Was die Junglehrerin, gerade 19 Jahre alt, Anfang der Fünfziger an ihr literarisches Vorbild Anna Seghers ("Das siebte Kreuz") schickt, mischt sich ohne Sinn für Kompromiss und Taktik in die heikle politische Wirklichkeit der noch jungen DDR ein. »Die Denunziantin«, so der Titel der erst viel später postum veröffentlichten und Fragment gebliebenen Reimann-Erzählung, empört sich über die unerklärliche Verhaftung eines Schülers. »Joe und das Mädchen auf der Lotosblume«, ebenfalls Fragment und vom Verlag abgelehnt, zeigt erneut die Rebellin wider den Muff der frühen DDR: Eine Malerin lebt mit zwei Geliebten.

Der Film setzt ein, als Reimann erste Enttäuschungen überstanden hat und als hoffnungsvolles Talent gilt. Sie hat sehr jung geheiratet, ihr erster Mann Günter verzaubert sie durch seinen athletischen Körper, aber beide leben noch unter dem Dach ihrer Eltern. Außerdem ist der Arbeiter vom schlechten Schrot und Korn des Machotums jener Jahre: Von der Schriftstellerei seiner Brigitte hält er wenig, zu Recht wittert er unter den Poetenkollegen seiner Frau gefährliche Nebenbuhler.

Diese Frau ist jung und schön, aber kein Backfisch. Sie hatte 1954 nach einer Fehlgeburt einen Selbstmordversuch unternommen. Der Tod ist ihr kein Unbekannter. In der Pubertät war sie an Polio erkrankt. Wochenlang lag sie vom Hals abwärts gelähmt danieder. Für Gedeck liegt in diesem Krankheitsdrama ein weiterer Schlüssel zur Figur der Schriftstellerin: »Das Leben erobert sich sofort einen anderen Raum. Der körperliche geht jetzt nicht, also kommt der geistige. Also träumst du und hast Geschichten im Kopf.«

Übrigens bleiben der Kranken nicht nur die Freuden der Phantasie zurück, sondern auch ein muskelschwaches Bein und die lebenslange Anstrengung, mit dem Hinken umzugehen.

Diese Frau will nach oben, in den Himmel der Literatur, und das in einem Land, das die Schreiberei gerade der Jungen auf Schritt und Tritt kontrolliert. Die Elevin wird in eine Art Ständegesellschaft eingeführt - der Ort für das Ritual heißt Heim.

Früher fuhren Dichter wie Goethe nach Italien. In Reimanns Fall ist das Land, wo die Zitronen blühen, das Schriftstellerheim, in das die Nachwuchshoffnung eingeladen wird. Bereits bei diesen Eröffnungsszenen hat der Film mit einer östlichen Eigenart zu kämpfen, mit dem Eliteanspruch der Schriftsteller im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Mit großer Selbstverständlichkeit genießen die Dichter lange Heimaufenthalte an schönen Orten mit den erlauchten Kollegen. Zweifel an der Wichtigkeit des Dichters für den sozialistischen Aufbau kommen Reimann und ihresgleichen nie.

Die Hochschätzung der Literatur jedenfalls unterstellen viele Ostliteraten jener Jahre mit egozentrischem Idealismus dem ganzen sozialistischen Volk. Die ironischbittere Erkenntnis, wie bedeutungslos Kunst letztlich ist, erscheint DDR-Intellektuellen als eine westliche Spielerei. Das Problem der DDR-Schriftsteller: Woher bei so viel fürsorglicher Belagerung durch die Ideologie die für die Kunst so wichtige Erfahrung des »Stirb und Werde« nehmen?

Reimann hat eine sehr eigene Methode, sich auf Heimaufenthalten produktiv zu erschüttern. Sie verliebt sich immer wieder neu, sie lockt die Männer, wenn es nicht anders geht sogar in eine Ménage-à-trois. Sie tut das mit der verblüffenden Unschuld des Herzens, skandalös, aber dennoch diskret. Erotische Details verschweigt sie in ihren Tagebüchern meistens.

Die Liebe geschieht ihr einfach - als Glück, als Qual. Der großen Leidenschaft kommt manchmal eine andere, kürzere in die Quere. Schon Anfang der sechziger Jahre, vor den Blumenkindern, erreicht eine junge Frau das volle Wahlrecht in der erotischen Entscheidung. Sie macht daraus keinen feministischen Krampf, keine stolze Abhärtungsübung, sondern sie erreicht die erotische Souveränität mit den Mitteln der inneren Aufrichtigkeit.

Hier liegt für Martina Gedeck das Zentrum dieser historischen Heldinnenverehrungsübung im Fernsehen. Hier fühlten Gedeck und der Schweizer Regisseur Markus Imboden aber auch eine besondere Verantwortung. Das innere Problem - wie aufrichtig ist in der Liebe die Unaufrichtigkeit, wie treu die Treulosigkeit - birgt im Falle Reimann ein äußeres: Wie soll ein Film das zeigen? Fallen stehen bereit.

Zum Beispiel: Das Erotikgenie kleidete sich nach damaligen Maßstäben, und heutigen sowieso, bisweilen extravagant. Mit übergroßen Pullovern und in den Kanariefarben des DDR-Schicks. Gedeck schaudert es, wenn sie an das »knallzitronengelbe« Kleid aus Brokat denkt, mit dem die Reimann im Schriftstellerheim aufkreuzte und den Kerlen trotzdem die Köpfe verdrehte. Hätten die Filmemacher sich hier an die historische Wahrheit gehalten, hätten sie die Figur verraten, denn bei den Zuschauern würde sich angesichts dieses kessen Falters die falsche Assoziation von Edelhure oder Vorläuferin der ausgeflippten Hippiegeneration einstellen.

Biografische TV-Verfilmungen sind immer auch Lebensverkürzungen. Vom Glauben Reimanns an den Sozialismus bemerken die Zuschauer in dem Film wenig. Seine Beschwörung hätte möglicherweise die gleichen Probleme hervorgerufen wie das knallzitronengelbe Brokatkleid: Man sieht losgelöste Symbole, aber versteht den Sog von früher nicht mehr, die Asche der Geschichte schmeckt nur noch staubig.

Schade auch, dass der Film die Städtebauprobleme von Hoyerswerda nur streifen kann. Reimann hatte sich mit ihrem zweiten Mann dorthin begeben, um gemäß Ulbrichts Doktrin vom »Bitterfelder Weg« den sozialistischen Aufbau vor Ort mitzuerleben. Die Poetin ließ sich den Blick nicht vernebeln und erkannte, wie sehr die Bauplanung an den Interessen der Bewohner vorbeiging. Die Unwirtlichkeit der Städte war kein westdeutsches Problem.

Ergreifend das Ende dieser Frau. Nicht mal 40, stirbt Reimann an Brustkrebs. Da hilft kein Stühle-auf-Tische-Stellen mehr, keine selbstvergessene Lektüre gegen das Brüllen der Schmerzen.

Doch »Hunger auf Leben« ist mehr als die tragische Geschichte von der jung gestorbenen Heldin, die die DDR auch nicht retten konnte. Der verantwortliche MDR-Redakteur Karl-Heinz Staamann spricht von der Hoffnung, dass Filme wie dieser nicht im »Es war einmal« verharren, sondern der »Delegitimierung ostdeutscher Geschichte« entgegenwirken.

Auf Produktionsebene hat sich diese Hoffnung erfüllt. Mit heimlicher Verachtung und Besserwisserei lief nichts. In »Hunger auf Leben« hat keine Seite die andere über den Tisch gezogen. Die Ostdeutschen haben akzeptiert, dass ein Schweizer Regisseur und eine westdeutsche Protagonistin das Leben einer wichtigen und absolut integren Ostschriftstellerin verfilmen. Sie mussten hinnehmen, dass sich der Westimport ins Buch einmischte und alle Versuche abwehrte, die Stasi zu dämonisieren.

Weil es viele Ostdeutsche anders erlebt hatten, sollte es bei den Szenen, in denen es um den Rauswurf der Reimann aus dem Schriftstellerverband geht und der Stasi-Offizier bei der entscheidenden Sitzung am Tisch sitzt, diabolischer zugehen, mit Abhörleitungen im Hinterzimmer und Andeutungen von grauen Eminenzen im Background. Die Westseite leistete dagegen Widerstand. Gedeck: »Wir wollten keine Symbolszenen, sondern dass möglichst alles so ist, wie es war.«

Der Kompromiss aus dem Wunsch nach Verdichtung und Wahrheit: Der Film weiß mehr als seine Heldin. Jon (Martin Feifel), der Reimann-Liebhaber aus Hoyerswerda, wird nicht nur so gezeigt, wie ihn die Dichterin als zynischen Außenseiter erlebt hat, sondern auch als Informant der Stasi - die Schriftstellerin hat davon nie erfahren.

Für Gedeck leuchtete gelegentlich das Gute der DDR auf, das keiner Delegitimierung zum Opfer fallen sollte: »Man geht direkter und weniger ehrfürchtig vor Zuständigkeiten aufeinander los und schreit sich an: ,Sag mal, spinnst du?'«

Gedecks Sorge: »Wir wollten nicht, dass sich die Reimann im Grab umdreht und sagt: O Gott, was ist denn da für ein Schmonzes rausgekommen« - sie ist unnötig. West und Ost haben gemeinsam aufgepasst. NIKOLAUS VON FESTENBERG

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