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»Die Funktionäre werden überrollt ...«

aus DER SPIEGEL 23/1975

SPIEGEL: In der Broschüre »Die Schein-Heiligen«, verfaßt von einer Vereinigung unabhängiger Ärzte, steht die Behauptung, wir zitieren: »Im vergangenen Jahr starben 30 000 Herzinfarkt-Patienten am deutschen Gesundheitswesen.« Aus der Feder von Ärzten ist das ein harter Vorwurf. Was ist damit gemeint?

MORGENSTERN: Damit ist gemeint, daß die Erkenntnisse, die vom wissenschaftlichen Standpunkt aus zur Verhütung und Behandlung von Herzinfarkten heute verfügbar sind, einfach noch nicht Eingang gefunden haben in die Medizin, wie sie bei uns praktiziert wird. Es werden Chancen vertan, Patienten zu helfen, denen man eigentlich, nach dem wissenschaftlichen Stand der Medizin, helfen könnte.

SPIEGEL: Denken Sie dabei mehr ans Krankenhaus oder mehr an die Praxis des niedergelassenen Arztes?

MORGENSTERN: Sowohl als auch. Bei der Diagnostik in der freien Praxis, aber auch in der Nachbehandlungsphase in der Klinik und auch nach einem Krankenhausaufenthalt -- in beiden Bereichen liegt noch manches im argen.

SPIEGEL: An anderer Stelle der Broschüre heißt es, wir zitieren wieder: »Die niedergelassenen Ärzte dürfen mit insuffizienten Untersuchungstechniken an den Patienten so lange verdienen, bis diese mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren werden, über 30 Prozent mit falscher Einweisungsdiagnose und ohne Angabe der Laborbefunde, die sämtlich noch mal wiederholt werden müssen und damit doppelt bezahlt werden.«

MORGENSTERN: Nun ja, das muß man einfach sagen -- der Hausarzt, so wie seine Praxis in den meisten Fällen heute organisiert ist, sieht sich oft überfordert, wenn er frühzeitig eine Diagnose stellen und die Weichen für eine Facharztbehandlung oder einen Krankenhausaufenthalt stellen soll. Das führt dazu, daß die Patienten häufiger als nötig als Notfälle in die Klinik kommen und daß auch oft Diagnosen herhalten müssen, die nicht stimmen.

SPIEGEL: Nun sagen aber die ärztlichen Standespolitiker, es sei -- wir zitieren das »Berliner Ärzteblatt« -- »das Gebot der Stunde«, die ambulante Behandlung noch weiter auszubauen. Die niedergelassenen Ärzte werden aufgefordert, die Patienten später in die Krankenhäuser einzuliefern. Der Leistungskatalog der ambulanten Praxis soll noch erweitert werden: Leberpunktionen, Endoskopien und Angiographien. die bisher vor allem im Krankenhaus gemacht wurden, sollen nun auch beim niedergelassenen Arzt gemacht werden**.

MORGENSTERN: Grundsätzlich meinen wir auch, daß der ambulante Bereich erweitert werden muß -- aber anders als jüngst auf dem Ärztetag in Hamburg oder vom »Berliner Ärzteblatt« vorgeschlagen. Wir finden, daß die Möglichkeiten des Krankenhauses zur Diagnostik und Therapie mehr als bisher genutzt werden müssen, denn dort sind die teuren Anlagen zur Endoskopie oder zur Leberspiegelung und dergleichen schon vorhanden. Die geschulten Teams stehen« bereit. Nur, nach dem jetzigen Gesetz ist es nicht möglich, dort ambulante Diagnostik durchzuführen -- es müssen die Patienten immer erst ins Bett gelegt werden.

SPIEGEL: Und dadurch wird es so teuer.

MORGENSTERN: Ganz recht. Beim niedergelassenen Arzt müssen Neuinvestitionen stattfinden, die ja am Ende immer der Patient bezahlt. Außerdem ist es nicht vorstellbar, daß sich entsprechend erfahrene Teams, wie man sie für solche Methoden, also etwa Leberspiegelungen, Magenspiegelungen usw. braucht, in der Praxis des niedergelassenen Arztes bilden können. Insofern wäre das qualitativ eine schlechtere Medizin.

SPIEGEL: Bisher wird, wenn der Patient ins Krankenhaus kommt, sehr viel Diagnostik dort noch einmal gemacht. also doppelt. Ist es denn wirklich nötig, daß der Patient immer noch mal durch die Diagnostikmühle gedreht wird?

MORGENSTERN: Bei der Doppeldiagnostik handelt es sich nicht um so spezielle Untersuchungsmethoden, wie eben erwähnt, sondern meist um die normalen Labor- und Röntgenleistungen, wie sie heute in der Praxis üblich sind. Wenn wir aber im Krankenhaus so schwerwiegende Konsequenzen zu ziehen haben wie zum Beispiel, daß ein Patient operiert werden soll, brauchen wir dazu sichere Daten.

SPIEGEL: Sind die Daten aus der Praxis des niedergelassenen Arztes nicht verläßlich?

* Mit Jürgen Petermann und Rolf S. Müller.

** Eodoskopie: optische Untersuchung der Innenräume des Körpers; Angiographie: röntgenologische Darstellung von Blutgefäßen.

MORGENSTERN: Vielfach nicht. Der Krankenhausarzt kann sich nicht darauf verlassen, daß die Daten aus dem kleinen Labor im Handbetrieb stimmen, und noch immer gibt es für die Laborbefunde der niedergelassenen Ärzte keine verbindlich vorgeschriebene Qualitätskontrolle.

SPIEGEL: Entgegen Ihrer Auffassung behaupten die ärztlichen Standesfunktionäre, so der jetzt beim Hamburger Ärztetag wiedergewählte Ärztekammer-Präsident Professor Sewering, die Ärzte in freier Praxis könnten all die Diagnostik treiben und mit derselben Qualität, wie sie auch im Krankenhaus heute vorgenommen wird. Und im »Berliner Ärzteblatt« hieß es, die Daten über den eingelieferten Kranken lägen stets, wir zitieren: »in hervorragender Weise gesammelt in den Karteikarten des behandelnden Arztes«. Welche Erfahrungen haben Sie, als Krankenhausärztin, in dieser Hinsicht gemacht?

MORGENSTERN: Aus meiner Erfahrung ist es sehr unterschiedlich, welche Daten wir bei der Einweisung eines Patienten mitgeliefert bekommen -- in den meisten Fällen überhaupt nichts, außer einer Diagnose. Und dann fängt man im Krankenhaus mühsam an, den Patienten auszufragen: Wo und wann er schon mal im Krankenhaus war, um dann dort die Unterlagen anzufordern. Der niedergelassene Arzt hat sicherlich in seiner Karteikarte einige Befunde drin, aber er schickt sie nicht mit in die Klinik.

SPIEGEL: Nun wehren sich die konservativen ärztlichen Standesvertreter gegen eine Öffnung der Krankenhäuser für ambulante Diagnostik und Nachbehandlung immer mit dem Argument, es sei unsinnig, das Gesundheitssystem ausgerechnet dort noch stärker zu belasten, wo ohnehin die Kostensteigerung schon am größten sei, im Krankenhaus.

MORGENSTERN: Tatsächlich sind die Krankenhauskosten enorm gestiegen. Aber aus unserer Erfahrung als Krankenhausärzte können wir sagen. daß mindestens 30 Prozent der Patienten, die heute in den Krankenhäusern liegen, dort unnötigerweise liegen. Sie könnten mit den Mitteln des Krankenhauses behandelt und untersucht werden, ohne daß sie deswegen gleich stationär aufgenommen werden. Die Hotelfunktion des Krankenhauses ist heute viel zu weit ausgedehnt ...

SPIEGEL: ... zu Pflegesätzen. dreimal so hoch wie bei Hilton

MORGENSTERN: ... und das nur, weil es gesetzlich bisher keine Möglichkeit gibt, Patienten, die von außen kommen, zu untersuchen und zu behandeln. Wenn da eine gesetzliche Änderung geschaffen würde, wenn also der Krankenhausarzt bei der Einweisung eines Patienten entscheiden könnte: ambulante Diagnostik oder stationäre Behandlung, dann würde eine Menge Klinikbetten frei -- und dementsprechend auch ärztliche Kapazitäten für die ambulante Diagnostik.

SPIEGEL: Das Monopol der niedergelassenen Ärzte auf ambulante Behandlung ist auch auf dem Hamburger Ärztetag wieder als ärzteständisches Essential hingestellt, für unverzichtbar erklärt worden. Ärztekammer-Präsident Sewering, sich kühn über alle Kritik hinwegsetzend, behauptet sogar, die Patienten seien, so wörtlich, »die eigentlichen Nutznießer dieses Systems«

MORGENSTERN: Das ist nicht wahr. Die Patienten haben den Schaden. Unser Gesundheitssystem ist teurer, vor allem aber schlechter als das anderer Länder, beispielsweise Schweden oder Holland. Die Lebenserwartung unserer Bevölkerung sinkt, die Säuglingssterblichkeit steigt, es gibt sechs Millionen unbehandeLte Hochdruckkranke, Millionen sind zuckerkrank, ohne es zu wissen. Das sind nur Beispiele für die Misere. Es gehört eine Menge Zynismus dazu, die Patienten als »Nutznießer« eines solchen Systems zu bezeichnen.

Gibt es das Arzt-Patient-Verhältnis nur in der freien Praxis?

SPIEGEL: An welcher Stelle, meinen Sie, muß das bestehende System zuerst geändert werden?

MORGENSTERN: Sicherlich da, wo die sogenannte »Sicherstellung der ärztlichen Versorgung«, auf die sich das Kassenarztmonopol gründet, eben nicht mehr gewährleistet ist: in Stadtrandgebieten. Landgebieten, wo es trotz aller Anreize, die sich die Standesfunktionäre ausgedacht haben ...

SPIEGEL: ... Umsatzgarantien von 120 000 Mark im Jahr, Grundstück von der Gemeinde ...

MORGENSTERN: ... langfristig finanzierte Praxiseinrichtung und was nicht alles, wo also trotz solcher Verlockungen, wie es sie bei keinem Lehrer und keinem sonstigen Beruf gibt, es nicht gelungen ist, Ärzte hin zu ziehen. Da wäre es einfach erforderlich, daß dann die Krankenkassen Selbsthilfe organisieren, etwa in der Form von Ambulatorien.

SPIEGEL: Die Krankenkassen haben sich bisher dazu nicht durchgerungen ...

MORGENSTERN: Ja, ich weiß nicht, warum die sich nicht trauen. Man wagt sich nicht an das System heran -- obwohl dabei doch eine fruchtbare Konkurrenzsituation entstehen könnte, wo praktisch die Patienten selber entscheiden könnten, wen sie nun besser finden.

SPIEGEL: 60 Prozent der Patienten, so ergab eine Umfrage des saarländischen Sozialmediziners Prof. Hermann Arnold, würden, wenn sie freie Wahl hätten, lieber in ein Ambulatorium oder eine Poliklinik gehen als ins überfüllte Wartezimmer eines niedergelassenen Arztes.

MORGENSTERN: Wir haben das in Praxisvertretungen öfter erlebt, daß Patienten den Wunsch äußern, in die Poliklinik überwiesen zu werden, und dann erzählen sie, der Arzt, der da sonst ordiniert, hätte ihnen das ausgeredet, hätte ihren Wunsch unterdrückt. Und speziell hier von Berlin weiß ich, daß zum Beispiel die Schwangeren-Beratung in den Polikliniken überaus beliebt ist, sie ist ja auch so umfassend, wie ein niedergelassener Gynäkologe das gar nicht machen kann.

SPIEGEL: Immer wieder hören wir das Argument, im Krankenhaus lasse sich das persönliche Arzt-Patienten~ Verhältnis nicht aufbauen, so wie es beim niedergelassenen Arzt möglich sei.

MORGENSTERN: Das sehe ich wirklich anders. Natürlich, im Krankenhaus kann der Patient sich seinen Stationsarzt nicht aussuchen. Aber auf der anderen Seite hat der Krankenhausarzt heute in der Regel sehr viel mehr Zeit, sich um den einzelnen Patienten zu kümmern und eine persönliche Beziehung aufzubauen, als es in der freien Praxis der Fall ist, wo doch die Drei- oder Fünf-Minuten-Medizin vorherrscht. Nehmen Sie zum Beispiel die Psychiatrie, ich arbeite hier in der Alkoholiker-Abteilung, da ist es nun erst recht so: Es gibt draußen keinen niedergelassenen Psychotherapeuten. der sich so intensiv, wie wir es tun, mit einem Alkoholiker beschäftigen kann. Das wissen auch die niedergelassenen Psychiater. und sie wären froh, wenn sie die Leute ambulant zur Gesprächstherapie hierher schicken könnten.

SPIEGEL: Wir greifen das Stichwort Alkohol auf. Auf der Suche nach Schuldigen für die Kostenexplosion im Gesundheitswesen haben ja nun ärztliche Standesfunktionäre und CDU-Gesundheitspolitiker groteskerweise einen neuen kostentreibenden Faktor entdeckt: den Patienten. Gegen Genußmittelmißbrauch. so Kammerpräsident Sewering jetzt wieder in Hamburg, gegen Überernährung und, wir zitieren. gegen »die Folgen eines allzu bequemen Lebens unserer Bürger« gelte es anzugehen.

MORGENSTERN: Ich finde das eine Ungeheuerlichkeit, dem Patienten den Schwarzen Peter zuschieben zu wollen, in einer Situation, wo vielleicht gerade langsam ein Gesundheitsbewußtsein wächst, wo also mehr Patienten den Arzt früher in Anspruch nehmen und vielleicht bestimmte Untersuchungen auch schon verlangen.

»Vorsorgeuntersuchungen -- auch im Krankenhaus.«

SPIEGEL: Herr Sewering nennt das »Konsumdenken«.

MORGENSTERN: Ich finde es selbstverständlich, daß jeder Bürger alles für seine Gesundheit tun sollte. Und diese Entwicklung muß doch, schon angesichts der bisher geringen Ausnutzung der Krebsvorsorgeuntersuchungen, noch gefördert werden.

SPIEGEL: Hat die Vorsorgemedizin in Deutschland größere Chancen. als sie heute wahrgenommen werden?

MORGENSTERN: Ganz sicher. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, daß die Vorsorgemedizin an den Patienten herangebracht wird, zum Beispiel am Arbeitsplatz.

SPIEGEL: Sie denken an rollende Klinomobile?

MORGENSTERN: Ja. zum Beispiel. aber auch an die Einschaltung des werksärztlichen Dienstes.

SPIEGEL: Der mit wenigen Ausnahmen allerdings noch sehr im argen liegt.

MORGENSTERN: Ja.

SPIEGEL: Wie gut ist denn die in der freien Praxis angebotene Vorsorgemedizin? Es sind doch zum Beispiel all jene Untersuchungsverfahren der Krebsfrüherkennung, die wirklich gute Ergebnisse bringen also Mammographie, Thermographie und die Untersuchung des Stuhls auf okkultes Blut -, im Leistungskatalog nicht enthalten. Und es wäre ja wohl auch unsinnig, wenn jeder niedergelassene Arzt sich jetzt nun auch noch ein 45 000 bis 90 000 Mark teures Mammographiegerät hinstellen würde.

MORGENSTERN: Es wäre schon gut, wenn der niedergelassene Arzt bei all seinen Patienten das machen würde. was er kann, also das Abtasten der weiblichen Brust oder etwa die Untersuchung des Enddarms mit dem Finger. Und wenn er darüber hinaus erst einmal alle die Patienten anspräche, die in Frage kommen, daß sie die Vorsorgeuntersuchung wirklich machen lassen. Dann würde man schon wesentlich mehr an Krankheiten im frühen Stadium erfassen, als das heute der Fall ist. Und andererseits hielte ich es auch für notwendig, daß zum Beispiel jede Frau über 30, die ins Krankenhaus kommt, automatisch in diese Vorsorgeuntersuchung einbezogen wird.

SPIEGEL: Nun klagen die niedergelassenen Ärzte schon jetzt immer, sie seien überlastet. Wie sollen sie dann imstande sein, die Vorsorgemedizin noch auszuweiten, wie es die Standesfunktionäre postulieren?

MORGENSTERN: Das weiß ich auch nicht ganz, sicherlich muß in der Praxis einiges umorganisiert werden. Aber ich denke vor allem: Überall wo ein Patient auftaucht, ob nun beim niedergelassenen oder beim Werksarzt oder im Krankenhaus, überall sollte der Patient die Möglichkeit haben, solche Vorsorgeuntersuchungen machen zu lassen. Dann kommen wir auch zu besseren Resultaten.

SPIEGEL: Zurück zum Vorwurf der ärztlichen Standesführer: Sind denn nun Tabak- und Alkoholsucht und übertriebene Eßlust die Krankmacher unserer Zeit?

MORGENSTERN: Also erst mal leben viele Leute heute ja schon gesünder als noch vor zehn Jahren. Sie ernähren sich vernünftiger, viele haben das Rauchen eingestellt, und denken Sie an die Trimm-dich-Bewegung. Dann gibt es schließlich auch noch andere Krankmacher: Nehmen Sie die Bronchitis im Gefolge der Luftverschmutzung, den Streß am Arbeitsplatz usw. Und letztlich, auch bei Tabak, Fettsucht und Alkohol muß man ja noch die Frage stellen -- und die wird von den Standesfunktionären nicht gestellt: Warum ist denn der Alkoholkonsum so hoch, warum wird noch soviel geraucht, und warum essen die Leute zuviel? Da erinnere ich nur an das sogenannte »Blaue Papier«, das Gesundheitsprogramm der konservativen Ärztefunktionäre vom letzten Jahr, wo es hieß, dieses Problem der Neurosen möchten wir gar nicht antasten, es sei eine Utopie, die Neurosen der westdeutschen Bürger zu behandeln. Aber genau da liegt der Punkt -- Alkoholsucht und Medikamentenabhängigkeit zum Beispiel haben eben psychische Ursachen ...

SPIEGEL: Und werden, was die Medikamenten-Abhängigkeit betrifft, von den niedergelassenen Ärzten sogar noch gefördert. Der Griff zum Rezeptblock, das Verordnen von Valium, gehört doch schon zur ärztlichen Routine.

MORGENSTERN: Eben, die Ärzte selber sind es. die solche psychischen Grundstörungen oft nur zudecken und nur an den Symptomen herumkurieren. Sie verschreiben Beruhigungsmittel, für ein helfendes Gespräch haben sie keine Zeit, und häufig können sie es auch nicht führen, sie sind dabei überfordert.

SPIEGEL: Und nach der Art, wie der Honorarkatalog gestaltet ist ...

MORGENSTERN: ... bringt dem Arzt in der Praxis natürlich ein langes Gespräch entsprechend weniger Geld. In derselben Zeit kann er zehn Patienten abfertigen mit Rezept und Spritze und hat also das Zehnfache verdient.

»Lange herumgedoktert und die Patienten kränker gemacht.«

SPIEGEL: Was sagen Sie zu dem Vorschlag, den jüngst der CDU-Gesundheitspolitiker Heinrich Geissler gemacht hat -- er schlug vor. Krankheiten, die durch Alkohol oder Tabakmißbrauch ausgelöst würden, aus der Krankenversicherungsleistung herauszunehmen?

MORGENSTERN: Das ist einfach unglaublich. Erst 1968 wurde der Alkoholismus durch ein Urteil des Bundessozialgerichts endlich als Krankheit anerkannt, die Krankenkassen bezahlen endlich die Entziehungskuren, und nun will jemand das Rad wieder zurückdrehen. Es steht völlig außer Zweifel, daß Alkoholkrankheit eine neurotische Störung ist, und hier jemanden zu bestrafen, der krank ist, das ist einfach absurd

SPIEGEL: ... und widerspricht wohl auch dem Gedanken eines Sozialstaates.

MORGENSTERN: Ja, es ist ein Charakteristikum im Krankheitsbild der deutschen Medizin, daß man einfach nicht wahrhaben will, daß ein großer Teil von Erkrankungen seelische Ursachen hat. Wenn man diese Erkenntnis nämlich akzeptieren würde. hätte das enorme Konsequenzen -- vielleicht ist das der Grund, weshalb man sich so dagegen sträubt: Die psychosomatische Medizin an den Universitäten und in der Ausbildung muß ausgebaut werden, und dann würde man erst mal sehen, was für ein Defizit an Fachkräften wir da haben. Und man müßte dann ein sehr schlechtes Gewissen haben, wenn man zugibt, daß wir die ganze Zeit falsch, nämlich mit organmedizinischen Methoden, herumdiagnostiziert und behandelt haben und die Patienten dabei nicht gesünder, sondern kränker geworden sind. Aber dieses Problem betrifft nicht nur den niedergelassenen Arzt, sondern ebenso die Krankenhausmediziner.

SPIEGEL: Wie steht es denn mit der ärztlichen Fortbildung, ist wenigstens da die psychosomatische Medizin, wenn sie schon an den Universitäten nicht gelehrt worden ist, auf dem Programm?

MORGENSTERN: Es wächst das Bedürfnis unter niedergelassenen Ärzten und Krankenhausärzten, sich auf diesem Gebiet weiterzubilden. Hier in Berlin zum Beispiel soll jetzt an jedem der großen städtischen Krankenhäuser jeweils ein Psychosomatiker beratend tätig sein. Und es gibt also hier auch unter den niedergelassenen Ärzten schon einige, die sich solchen Balint-Gruppen anschließen ...

SPIEGEL: Gruppen, wie sie der englische Psychotherapeut Michael Balint als spezielle Form der Gruppen-Gesprächstherapie entwickelt hat ...

MORGENSTERN: Ja, das ist eine Hilfe für den praktischen Arzt, der die Psychotherapie nicht gelernt hat; er kann durch Mitarbeit in solchen Gruppen, wo typische, in der Praxis auftauchende Patientenprobleme erörtert werden, dann später auch seine Kranken besser verstehen und betreuen. Aber bisher sind das nur erste Einzelinitiativen.

»Es geht nicht um Sozialisierung, es geht um bessere Medizin.«

SPIEGEL: Bisher ist alle Kritik, die an dem herrschenden und nun auch von den Kosten her nicht mehr zu vertretenden Gesundheitssystem geübt wurde, von den etablierten Ärzteverbänden mit dem Hinweis diffamiert worden, sie sei von Nicht-Sachverständigen vorgetragen, von Leuten, die davon nichts verstehen -- ob das nun der SPIEGEL war oder die Wirtschaftswissenschaftler der Gewerkschaften ...

MORGENSTERN: Immerhin haben die SPIEGEL-Serien, schon die vorige im Frühjahr 72 und auch die jetzt wieder, die gesundheitspolitische Diskussion in Gang gebracht.

SPIEGEL: Nun gut, jedenfalls deckt sich, was wir in den beiden Serien ausgeführt haben, weithin mit Ihrer Kritik -- und Sie sprechen schließlich für eine ganze Anzahl von gelernten Ärzten. Aber wie groß ist diese Opposition innerhalb der Ärzteschaft? Auf dem Hamburger Ärztetag wurde sie als. wir zitieren, »Randerscheinung« abgetan, als »Splittergruppe. die nicht zu definieren ist«.

MORGENSTERN: Das ist natürlich eine Verharmlosung. eine Zweckbehauptung. Von Berlin aus kann man sagen, daß diese ärztliche Opposition sich sehen lassen kann.

SPIEGEL: Können Sie Zahlen nennen?

MORGENSTERN: Bei den Berliner Ärztekammerwahlen hat diese ärztliche Opposition immerhin auf Anhieb fast ein Drittel der Sitze gewonnen.

SPIEGEL: Wieviel AuA-Ärzte kamen zum Ärztetag nach Hamburg, um ihre abweichende Meinung zu demonstrieren?

MORGENSTERN: Es sind wohl 500 gewesen, die meisten davon kamen mit dem Flugzeug. Und wenn Sie bedenken, was es bedeutet, sich so nachmittags mal eben und auf eigene Kosten von Frankfurt oder Berlin her ins Flugzeug zu setzen -- und dann beim Ärztetag nicht einmal reingelassen zu werden, sondern nur sagen zu können: Wir waren hier! -, dann können Sie daraus schließen, daß hier etwas in Bewegung ist.

SPIEGEL: Sind es durchweg Krankenhausärzte in der AuA und dadurch schon in einer gewissen Opposition zu niedergelassenen Ärzten?

MORGENSTERN: Nein, es sind auch niedergelassene Ärzte dabei, und es geht auch nicht um einen Streit zwischen Krankenhausärzten und niedergelassenen Ärzten. Es geht vielmehr um eine Opposition von Ärzten, die sich nicht mehr damit abfinden wollen, daß der Ärztetag und die Bundesärztekammer sich immer noch das Recht herausnehmen, im Namen der ganzen Ärzteschaft zu sprechen. Dies bestreiten die Ärzte in der AuA. Wir möchten der Öffentlichkeit klarmachen, daß auch Ärzte, und zwar ein nennenswerter Teil von ihnen, an einer Reform des Gesundheitswesens interessiert sind.

SPIEGEL: Ist die Sozialisierung der Medizin, gegen die von den traditionellen Ärzteverbänden Alarm geschlagen wird, die einzige Alternative?

MORGENSTERN: Es geht gar nicht um die Sozialisierung, sondern es geht um Verbesserung, um vernünftige Anwendung des medizinischen Wissens und um optimale Versorgung der Patienten. Wir behaupten gerade umgekehrt, die heutigen Standesfunktionäre machen eine Ideologie daraus, daß zum Beispiel in Krankenhäusern keinesfalls ambulant behandelt werden dürfe. Das ist reformverhindernde Ideologie, gegen die wir angehen.

SPIEGEL: Welche Möglichkeiten sehen Sie aber, Ihre oppositionellen Auffassungen politisch durchzusetzen -- angesichts der Tatsache, daß zum Deutschen Ärztetag nicht nur CDU und FDP bei den Ärzten um gut Wetter gebeten haben, sondern zum Beispiel auch Katharina Focke, und sogar Herbert Wehner mit einer besonders ergeben klingenden Grußadresse?

MORGENSTERN: Ich weiß auch nicht, warum Herbert Wehner das gemacht hat. Aber wenn man genau hinguckt, sieht man, daß in der SPD, wenigstens unterhalb der Ebene der Bundesregierung, ganz andere Standpunkte vertreten werden. So sollen in Hamburg und Berlin jetzt Modellversuche für prästationäre und poststationäre Diagnose und Behandlung im Krankenhaus anlaufen. Da wird sich am Modell erweisen, daß es anders geht. Und wir hoffen, daß sich in der SPD und in den anderen Parteien die Einsicht durchsetzt, daß gesundheitspolitische Reformen mit den ärztlichen Standesfunktionären nicht zu machen sind.

SPIEGEL: Sie meinen aber, daß man die Möglichkeit hätte, auch gegen diese Leute eine vernünftige Gesundheitspolitik durchzusetzen?

MORGENSTERN: Ja, die Standesfunktionäre werden einfach von den Tatsachen überrollt werden. Die Misere sieht jeder, auch die Parteien; und es ist einfach nur die sachliche Folgerung, entsprechende Veränderungen einzuleiten. Ob dann die Ärztefunktionäre damit einverstanden sind oder nicht -- das kommt.

SPIEGEL: Frau Morgenstern, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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