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POLEN / NACHBARN Die Gesellschaft auf -ki

Polen liegt nicht auf dem australischen Kontinent, und seine Nachbarn sind keine friedlichen Schafhirten. KP-Chef Wladyslaw Gomulka
aus DER SPIEGEL 47/1970

Er sitzt in Breslau und Danzig und verlangt auch noch, daß wir diese Art Landnahme gut finden. Er hat 700 Jahre deutscher Ost-Kolonisation ausgelöscht und fühlt sich immer noch als Gläubiger.

Dabei erhielt er von uns den christlichen Gott und den eisernen Pflug. Deutsche gründeten Elbing, Kulm und Thorn -- er besitzt heute diese Städte, dieser jähzornige, niemals für voll genommene Pole, dessen Reiterei 1939 mit blankem Säbel gegen die vermeintlichen Papp-Panzer der Wehrmacht ansprengte; dieser faule Pole, der schon auf unseren schönen ostelbischen Gütern herumlungerte, bevor er sie kassierte.

So etwa mag der Pole in der Gefühlswelt jener Deutschen aussehen, die Erschießungsgräben und hungernde Arbeitssklaven, Auschwitz und Majdanek verdrängt haben. Beim Bier ersetzen dann ältere Bundesbürger die schmutzige Vergangenheit mit dem sentimentalen Soldatenlied von Maruschka, dem »allerschönsten Kind, das man in Polen find'«, das aber leider nie küssen mochte.

So offenkundig verklemmt und oberflächlich, so getränkt mit Verachtung ist das Bild dieses Nachbarvolks bei vielen Deutschen der älteren Generation. Preußens Friedrich sagte es schon: Die ganze »Gesellschaft mit dem Namen auf -ki« ist »eine in jeder Hinsicht verächtliche Nation«. Es half den Polen nichts, daß Träger ihrer unaussprechlichen Namen in den Fußballvereinen des Ruhrgebiets zum Ruhm der deutschen Nation kickten.

Und die Zwangsvorstellungen wuchern ebenso von Ost nach West. Auschwitz liegt In Polen und erinnert seine Besucher an deutsche Schuld von den Kreuzrittern über Nazi-Gouverneur Frank bis zu westdeutschen Heimatrechtlern, deren Kindheitserinnerungen als glaubwürdige Revanche-Ansage gewertet werden.

Die Schwierigkeiten beim Brückenbauen bekam Westdeutschlands Außenminister Scheel zu spüren, als er vorletzten Sonntag Auschwitz besuchte. Bei der Ankunft auf dem Bahnhof des nahe gelegenen Krakau klatschte niemand. »Jetzt begrüßt man die sogar mit Blumen«, sagte eine Polin einer anderen, und die antwortete: »Hat man uns vielleicht begrüßt, als wir im Krieg nach Deutschland kamen?«

Doch diese Deutschen sind wieder wer, sie haben -- ob in der Bundesrepublik oder in der DDR -- wieder einen höheren Lebensstandard als ihre Opfer.

Das Auschwitzer Chemie-Werk, für das im Krieg das Lager Auschwitz nach »Selektion« die Arbeitskräfte lieferte, kooperiert heute mit dem westdeutschen Chemie-Werk Hoechst und schickt seine Produkte zum Beispiel nach Indien in der Hoechst-Originalverpackung mit dem Poststempel von Auschwitz.

»Wir Polen sind schlechte Hasser«, sagte Polens Vize-Außenminister Winiewicz in Auschwitz, während Scheel nur »schrecklich, schrecklich« murmelte. Den rechten Ton angesichts deutscher Schande hatte auch er noch nicht gefunden.

Im Krakauer Wawel, dem Schloß der polnischen Könige (Winiewicz: »Hier sind Sie im Herzen von Polen"), deutete der Pole auf das Gemälde einer jungen Frau: »Jeder hat im Leben etwas, was ihm besonders am Herren liegt, für mich ist es dieses Bild.« Scheel sah nur, »daß die Mode zwischen damals und heute sich nicht sehr gewandelt hat«.

Mißgriffe im Umgangston sind unbedeutend im Verhältnis zu jenen Gebirgen von Schuld und Vergeltung, Haß und Vorurteil, die Polen und Deutsche zwischen die beiden Nationen türmten. Völkerpsychologische Pseudo-Wahrheiten und Generationen populärer Geschichtsklitterer halfen, das Bild des einen beim anderen zu deformieren. Ein politisch-moralischer Lastenausgleich scheint aussichtslos.

Möglich -- und nötig -- dagegen ist, die grellsten Farben im angeblich tausendjährigen deutsch-polnischen Schlachtengemälde vorsichtiger zu tönen und vermeintliche Zwangsläufigkeiten des geschichtlichen Prozesses aufzuhellen -- ohne damit den deutsch-polnischen Gegensatz zum bloßen Betriebsunfall der Geschichte zu verkleinern.

Denn auch Vorurteil und Gefühl sind in Rechnung zu stellende Realitäten. »Solange die Welt eine Welt bleibt, wird nie der Deutsche dem Polen ein Bruder sein«, lautet ein polnisches Sprichwort. »Polen denken wir uns mit Recht als den Erbfeind der Deutschen im Osten«, schrieb der (balten-)deutsche Historiker Johannes Haller in seinen »Epochen der deutschen Geschichte« (Neuauflage 1956).

Die historisch begründete Behauptung, Polen und Deutsche könnten nicht miteinander leben, ist dennoch eine historisch nicht begründbare Legende. Wahr ist vielmehr, daß den Ausbrüchen der Feinschaft zwischen Deutschen und Polen und -- mehr noch -. dem von ihren Politikern verordneten Haß weit längere Perioden gegenüberstehen, in denen sie friedliche Nachbarn waren.

Das Bewußtsein der Völker wurde mit Sprachenkampf und Vertreibung, Krieg und Sklaverei getränkt -- verdrängt aus dem Gedächtnis der Völker wurden Friedensschlüsse und

* Oben von links: Exekution polnischer Zivilisten; polnischer Film »Die Kreuzritter«; Deutsche zeigen ausländischen Journalisten ermordete Volksdeutsche; deutscher Flüchtlingstreck. Unten: Außenminister Jedrychowski und Scheel.

Städtebau, vergessen wurde ein Phänomen wie die Polen-Begeisterung des progressiven deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert.

»Die Deutschen aus Polen haben die Zeiten der Feindschaft zwischen beiden Völkern besonders leidvoll erfahren müssen«, stellte der Mainzer Historiker Professor Gotthold Rhode fest. »Aber sie wissen ebenso aus eigener Erfahrung, daß sich selbst in Tagen und Wochen des Kampfes und der Grausamkeiten nachbarliche Hilfe und menschliches Verstehen oft unter höchster Gefährdung für die eigene Sicherheit bewährt haben.«

An solche verschütteten Traditionen wollen die Deutschen wieder anknüpfen, die in das novembernasse Warschau fuhren, um einen Vertrag zu schließen. Das Vertragswerk zwischen Bonn und Warschau, von Bundeskanzler Brandt und Polens Parteichef Gomulka fast gleichlautend als »historische Wende« apostrophiert, hat sich im Verlauf der Vorverhandlungen als weitaus komplizierter erwiesen, als beide Seiten am Anfang annahmen.

Scheel stand ebenso wie seine polnischen Verhandlungspartner vor einer Reihe offener Fragen, über die sich der deutsche Staatssekretär Duckwitz und der polnische Vize-Außenminister Winiewicz in sechs Vorgesprächs-Runden nicht hatten einigen können:

* Warschau verlangte einen Vertrag, der Polens Westgrenze an Oder und Neiße durch Bonn endgültig und unaufhebbar garantiert. Auch künftige Regierungen oder ein von Polen nicht mehr erwarteter Friedensvertrag sollten die Grenze nicht weiter in Frage stellen können.

* Warschau drängte darauf, daß der Vertrag mit einer Präambel eröffnet werde, in der sich die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches zur Schuld an dem Überfall auf Polen bekennt.

* Bonn wollte dagegen -- entsprechend dem Moskauer Modell -- einen Vertrag über gegenseitigen Gewaltverzicht, in dem es die Oder-Neiße-Grenze als »unverletzlich« betrachtet, anknüpfend an den Vorbehalt, daß bestehende Verträge -- gemeint war vor allem der Deutschland-Vertrag mit den Westalliierten von 1955 -- davon nicht berührt werden und die Endgültigkeit einem Friedensvertrag vorbehalten bleibt.

* Bonn erwartete -- deutlich mit dem Vertragswerk, möglichst durch Zusatzprotokolle, verbunden -, daß Warschau seine Bereitschaft erklärte, auswanderungswilligen polnischen Staatsbürgern deutscher Abstammung die Ausreise zu gestatten.

Die sozialliberale Bundesregierung wollte versuchen, durch »menschliche Erleichterungen« für diese Polen-Deutschen (siehe Kasten Seite 148), wenigstens einen Teil der Opposition für ein Ja zum Vertrag zu gewinnen.

Bonn sucht Aussöhnung mit einem Staat, dessen erstes Dekret nach der Befreiung von den Deutschen 1945 der Rache gegolten hatte -- der Rache an den Deutschen.

Die Rote Armee hatte damals, im Juli 1944, Ostpolen erobert; die totale Vernichtung Warschaus durch die Nazis nach dem mißglückten Aufstand stand noch bevor. Unter sowjetischem Protektorat war ein »Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung« gegründet worden, das vom befreiten Lublin aus einen Aufruf an das polnische Volk (später Nachkriegspolens Gesetz Nummer eins) richtete:

»Die Stunde der Revanche an den Deutschen hat geschlagen, für die Qualen und Leiden, für die verbrannten Dörfer, zerstörten Städte, vernichteten Kirchen und Schulen, für die Verhaftungen, Lager und Erschießungen, für Auschwitz, Majdanek, Treblinka, für die Getto-Morde.«

Von den 16 Polen, die das Lubliner Manifest unterzeichneten, bekleidet

* Oben: »Falken« in Breslau; unten: Krupp-Vertreter Bein (r.) mit dem polnischen Außenhandelsminister Burakiewicz (2. v. r.) auf der Posener Messe 1969.

heute nur noch einer ein führendes Amt: Stefan Jedrychowski, Minister für auswärtige Angelegenheiten, Er begann die Verhandlungen mit Westdeutschlands Außenminister Scheel.

Beide Politiker vertreten Staaten. die nicht aneinander grenzen, und Menschen. die sich seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr begegneten. Für die meisten jüngeren westdeutschen Bürger sind die Polen ein fernes Slawenvolk mit fremdklingenden Namen. Sie gellen als gute Theatermacher, Plakatgraphiker und Lieferanten billiger Gänse.

Gelegentliche Polen-Exkursionen westdeutscher Wirtschaftsexperten nach dem Krieg und Ausstellungen polnischer Exportfirmen in der Bundesrepublik haben die Legende von der schlampigen »polnischen Wirtschaft« kaum ausgeräumt.

Während Millionen deutscher Urlauber die sozialistischen Länder Rumänien, Bulgarien, Ungarn und die Tschechoslowakei kennenlernten, verzichtete eine mißtrauische Regierung in Warschau auf das devisenträchtige Geschäft. 15 000 Westdeutsche bekamen im vorigen Jahr ein Visum nach Polen, gegenüber 170 000, die nach Bulgarien, fast ebensoviel, die nach Ungarn fuhren -- und über einer Million, die sich in Jugoslawien sonnten.

1958 waren 800 Mitglieder der sozialistischen Jugendorganisation Deutschlands »Die Falken« in 16 Luxusomnibussen durch Schlesien nach Auschwitz gereist. Auf dem Krakauer Szepadski-Platz verbündeten sich die Einwohner demonstrativ mit den Besuchern, beschenkten und umarmten sie und luden sie ein.

Doch die polnische Staatsjugendorganisation verlangte den »Falken« ein Bekenntnis zur sowjetischen Außenpolitik ab. Und manche der jungen Deutschen hatten sich unter dem Galgen des Konzentrationslagers Auschwitz verlegen lachend ihre Zigaretten angezündet. Der Besuch wurde in diesem Umfang nicht mehr wiederholt. Polnische Funktionäre erläuterten die Zurückhaltung bei der Erteilung von Einreisevisen für Westdeutsche: Flüchtlinge hätten ihre früheren Wohnstätten besucht, nach Stunden oder sogar Tagen des Mißtrauens -- die heutigen Eigentümer hatten sich zuweilen mit einer Flinte in die Haustür gestellt -- kam es zu Verbrüderungsszenen, man traf Abkommen: Der Pole schickte Schinken und Weihnachtsgans, der Deutsche Photoapparate und Devisen.

Die Bundesbürgerin Leokadia Murawski beispielsweise besuchte ihre frühere Wohnung in Breslau, in der jetzt ein Ehepaar aus Lemberg wohnt: »Ich schaute die kleine Frau mit dem freundlichen Gesicht lächelnd an ... Da stand sie auf und gab mir einen Kuß. Später tranken wir alle Fruchtsaft. Und ich überreichte ihnen den Bohnenkaffee als Präsent.«

»Natürlich können wir nicht sagen, daß bei allen Gästen aus der Deutschen Bundesrepublik Mißtrauen angebracht ist«, erklärte die Warschauer Zeitung »Slowo Powszechne« 1970, »aber einige von ihnen kamen nicht in unser Land, um uns zu besuchen, sondern um in gewisse Gebiete einzudringen ... Hauptziel ist wahrscheinlich der Wunsch, unter den Bewohnern der Westgebiete (Polens) das Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen ... Gleichzeitig können zu Hause, in Westdeutschland, die revisionistischen Gefühle und Illusionen gestärkt werden.«

Auch diese Antwort auf die Sehnsucht ehemaliger Ostdeutscher, die Heimat nur einmal als Touristen wiederzusehen, webt an der alten Haß-Legende.

Gleichwohl sind es die den Deutschen nachgesagten Eigenschaften wie Fleiß, Geschick und Gründlichkeit, die heute vor allem der jungen Generation Polens an den Deutschen imponieren. Die meisten ihrer technologischen Lehrbücher sind in deutscher Sprache geschrieben, technisches Know-how und industrielles Management aus der Bundesrepublik stehen in Polen hoch im Kurs.

Als Wahlfach für den Sprachunterricht -- Russisch ist Pflichtfach -- nehmen heute die meisten Gymnasiasten Polens Deutsch (36,5 Prozent vor 34,6 für Englisch und 21,7 für Französisch im Schuljahr 1968/69). Lediglich für den Bezirk Oppeln, in dem noch viele deutschsprechende Menschen leben, meldet die amtliche polnische Statistik -- sonst ohne politische Färbung -- nur fünf Schüler, die sich für das Wahlfach Deutsch entschieden.

Unter den 47 Gymnasien mit fremder Unterrichtssprache (nur Geschichte und Erdkunde werden dort auf Polnisch erteilt) sind zwar nur fünf deutschsprachig. Das Deutsche Lyzeum in Warschau (für polnische Kinder) gilt indes als eine Elite-Anstalt.

Die Zahl der Germanistik-Studenten in Polen hat sich innerhalb von drei Jahren mehr als verdoppelt (1968/69: 1324 Studenten); 1968 wurden 103 Bücher aus dem Deutschen übersetzt, Gesamtauflage: 1 702 000 Exemplare, darunter Thomas Mann (586 800), Erich Kästner (403 300), Remarque, Böll, Graß. Bücher aus den beiden Deutschländern stellen fast ein Drittel des gesamten polnischen Buch-Imports.

Das Tagebuch des Pastors Peikert über das Kriegsende in Breslau -- er predigte an St. Mauritius -- ist in der deutschen Originalausgabe und in polnischer Übersetzung zu haben. In den Pressecafés, Treffpunkten der Jugend, liegt meist der vorletzte SPIEGEL aus -- auch im Provinznest Gorzów (Landsberg an der Warthe).

Polens Theater spielen deutsche Klassiker und Hochhuth. In der Liste der populärsten Filme, die von 1947 bis 1967 in polnischen Kinos liefen, steht hinter dem historischen Mammutwerk »Die Kreuzritter« (zwei Teile) und dem Besatzungszeit-Film »Die verbotenen Lieder« an dritter Stelle Westdeutschlands »Winnetou« (1,23 Millionen Zuschauer). 1968 lockten 51 DDR-Filme 2,4 Millionen Kinogänger, zwölf westdeutsche Filme dagegen 3,1 Millionen.

»Es sind die Alten, die Tannenberg-Denkmäler errichten oder alte Schlösser wieder aufbauen«, erläuterte der Publizist Kisielewski die sich wandelnde Einstellung. »Die Jungen träumen von einem modernen Auto, von einer Jacht oder vom Farbfernsehen. Ein Polen, das keinen wirtschaftlichtechnischen Erfolg zu verzeichnen hat, paßt ihnen nicht ... »Polen' muß »Erfolg' bedeuten, von einem »Märtyrer-Polen' will in der heutigen Generation niemand etwas wissen.«

Die Alten pflegen die Idee vom Märtyrer-Polen so verbissen, wie westdeutsche Vertriebenen-Funktionäre Ostland-Erinnerungen wachhalten. Als Bonn-Sprecher Ahlers von der polnischen Regierung auch »Verständnis für die Leiden und Opfer unter den ausgewiesenen Deutschen« erwartete -- das von der polnischen Bevölkerung durchaus gezeigt wird

erwiderte »Zycie Warszawy": »Eine solche Parallele zwischen den Opfern des von Deutschland entfesselten Krieges und der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung zu ziehen, ist schon seit längerer Zeit ein Merkmal revisionistischer Demagogie.«

Neuerdings ist die Massenaustreibung der Deutschen aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen in Polen kein polnisches Tabu-Thema mehr. aber: »Der Mythos von einer verbrecherischen Vertreibung ist eine Fälschung«, erläuterte Radio Warschau.« Zwar haben solche Vertreibungen stattgefunden, doch waren sie das Werk der Deutschen selbst. Sie wurden durch die Behörden des Dritten Reiches vollzogen, die Ende 1944 und Anfang 1945 die völlige Evakuierung anordneten ...«

Das katholische Blatt »Przewodnik Katolicki« sprach immerhin von einer »schmerzlichen, aber notwendigen Maßnahme«, die innerhalb des polnischen Staatswesens nationale Homogenität schaffen sollte: »Die Mehrheit der Deutschen in Polen hat sich vor 1939 dem polnischen Staat gegenüber illoyal verhalten.«

Meist gilt jedoch noch die Propagandathese: »Das Recht Polens auf seine historischen Piasten-Gebiete erlangte auf der Jalta-Konferenz die internationale Bestätigung« (Radio Warschau am 2. Februar 1970). »Die vor 25 Jahren erfolgte Rückkehr unseres Volkes in die Gebiete der Piasten, in die westlichen und nördlichen Landesteile war der größte Sieg in unserer Geschichte«, versicherte Parteichef Gomulka am 9. Mai 1970.

Es ist die These, die sechs Jahrhunderte lang fast ausschließlich von Deutschen bewohnten Provinzen seien »urpolnisch«, weil sie -- von Slawen besiedelt -- vor 1000 Jahren der polnischen Dynastie der Piasten unterstanden.

Nicht Warschaus offizielle Geschichtsschreiber, sondern emigrierte polnische Chauvinisten treiben den Gedankengang noch weiter: »Sachsen, Mecklenburg und Preußen sind Kolonialland, das durch Eroberungen als Ergebnis der »Drang-nach-Osten«-Politik entstanden ist, wobei Mecklenburg sogar ein slawisches Land ist; diese Gebiete sind von einer Bevölkerung bewohnt, deren Kultur in der Lausitz ihre Wurzel hat«, enthüllte die in Boston erscheinende »Polish American Gazette«.

Manche US-Polen denken sich außer einem »Lausitzstaat« (Hauptstadt: das »urslawische« Berlin) einen »Elbslawenstaat« mit Hamburg -- auch dort siedelten einst Slawen. Dankbar über solche Schützenhilfe warben deutsche Revanchisten der »Aktion Oder-Neiße« des Professors Rubin 1969: »Wenn Sie kein slawisches Hamburg wollen, wählen Sie nicht die Bonner Verzichtparteien!«

Die heimliche Allianz einiger Chauvinisten bewährte sich: Als vor kurzem westdeutsche Landsmannschaften die »in Polen verbliebene deutsche Minderheit« auf »knapp eine Million« schätzten, entdeckte die polnische Armeezeitung »Zolnierz Wolnosci« über 150 000 BRD-Bürger polnischer Nationalität, die mit beruflicher und sozialer Diskriminierung rechnen müßten, wenn sie sich zu ihrer polnischen Herkunft bekennen.

Gemeint waren vor allem Nachkommen der halben Million Polen, die in den Gründerjahren Ins Ruhrgebiet abwanderten und als billige Arbeitskräfte halfen, Deutschland zu industrialisieren. »Polonia«, einer ihrer Verbände, veranstaltet Wallfahrten zum polnischen Nationalheiligtum Tschenstochau, was zu einer Bundestagsanfrage eines CDU-Abgeordneten führte -- sonst sind die Polen im Ruhrgebiet kaum erkennbar.

»Meint ihr etwa, die Slawen würden nicht dasselbe mit euch tun, was ihr mit andern tut?« hatte der französische Historiker Ernest Renan 1871 die Deutschen nach der Annexion von Elsaß-Lothringen gewarnt. »Was werdet ihr sagen, wenn eines Tages die Slawen kommen und das eigentliche Preußen, Pommern, Schlesien, Berlin beanspruchen, weil deren Namen slawisch sind, wenn sie an dem Oderufer tun, was ihr jetzt am Moselufer tut, wenn sie an Hand der Landkarte auf Dörfer hinweisen, die einst von slawischen Stämmen bevölkert waren?«

Die Historiographie wurde zum bevorzugten Schlachtfeld zwischen Deutschen und Polen, der Krieg um Sprach- und Siedlungsgrenzen verbissener geführt als je zwischen Deutschen und Franzosen. Wenn polnische Frühgeschichtsforscher slawische Urnen an der Elbe entdeckten, wiesen deutsche Archäologen germanische Gründer des polnischen Reiches nach oder behaupteten, daß Danzig einst »Gotenschanze« geheißen habe.

Erst neuerdings gräbt der Museumsdirektor Adriaan von Müller in Berlin wenige Meter neben der DDR-Grenze Beweise dafür aus, daß Slawen und Germanen dort zusammen an derselben Stelle Brunnen bohrten.

Geschichtslehrbücher für Gymnasiasten der Bundesrepublik künden heute noch von Otto 1. »Ostpolitik«, vom »Ruf nach Osten«, wo mehr Lebensraum und größere persönliche Freiheit« warteten.

Polnische Schüler lernen dafür einen tausendjährigen Hang der Deutschen zur Deportation von Polen und erfahren, daß die Deutschen bereits im 12. Jahrhundert bei der Belagerung von Glogau polnische Kinder als Geiseln nahmen, an Leitern und Belagerungsmaschinen festbanden und so die Stadtmauern stürmten. Trotzig schossen die polnischen Verteidiger ihre Pfeile auf die eigenen Kinder und gossen kochendes Wasser über sie -- es ging um die Freiheit Polens.

Für die Deutschen war das Territorium der benachbarten Slawen ein durch keine natürliche Grenze gedecktes Kolonialland, das angeblich nur auf die Segnungen der deutschen Pflugschar christlichen Typs harrte. Aber sie germanisierten nicht Immer, und nicht ausschließlich mit Gewalt.

Die Polen wiederum rochierten zwar dreimal auf der nordosteuropäischen Tiefebene (westwärts zwischen dem 10, und dem 14. Jahrhundert, ostwärts zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert, wiederum westwärts 1945), aber keineswegs nur als Opfer deutscher Unterdrücker.

Polens erster König Boleslaw I. Chrobry ("Der Kühne") führte sogar drei Kriege gegen den deutschen Kaiser Heinrich II. -- aber mit deutscher Militärhilfe eroberte er Kiew. Polnische Könige huldigten den Kaisern des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, und Preußens Herzöge erkannten die polnischen Könige als Lehnsherren an. Ein polnisches Heer im Bund mit deutschen Rittern stoppte 1241 bei Liegnitz die Mongolen.

Ein polnischer Piast, Konrad von von Masowien, rief 1226 jenen Deutschen Ritterorden zu Hilfe, dessen schwarzes Kreuz seither die deutsch-polnische Geschichte besonders dauerhaft verdüstert. Johann Gottfried Herder bekannte: »Die Menschheit schauert vor dem Blut, das hier vergossen ward in langen, wilden Kriegen.«

Die Gegenthese, die deutsche Ostkoionisation -- auch die der Kreuzritter -- sei nicht nur Gewalttat, sondern auch Kulturmission gewesen, wagte erstmals im Nachkriegs-Polen 1960 der Autor Antoni Golubiew. Diese Sicht, erklärte das Parteiorgan »Trybuna Ludu« darauf, liege im »Interesse der modernen Ritter des deutschen Ordens, deren Mitglied Konrad Adenauer ist«.

Im Museum des früheren KZ Stutthof bei Danzig ist als einziges Zeugnis aus Nachkriegsdeutschland ein Bild des zeitgenössischen Deutschordensritters Konrad Adenauer zu sehen: im weißen Mantel mit dem schwarzen Kreuz.

Mit dem Ruf »Christ ist erstanden« sprengte das Deutschordensheer 1410 gegen die christlichen Polen und Litauer und wurde geschlagen. Seither gilt Tannenberg als Triumph Polens über den deutschen Imperialismus. Seither, erklärte Parteichef Gomulka zum polnischen Millennium 1960, habe sich die »Wolfsnatur des deutschen Imperialismus ... bis zu den Zeiten Konrad Adenauers nicht geändert«.

Polnische Gelehrte glauben, im Staatlichen Archivlager Göttingen vor kurzem einen Beweis dafür getunden zu haben, daß auch der Astronom Nikolaus Kopernikus gegen die Kreuzritter kämpfte: einen Brief vom 16. November 1520 an Polens König Sigismund mit der Bitte des Ermländer Domkapitels um Waffenhilfe gegen die Ordensritter, die »Allenstein, Heilsberg und das ganze Ermland bedrohen«.

Warschauer Zeitungen feierten den Fund als Sensation: Sie halten Kopernikus für einen Polen, wie ihn die Deutschen als Deutschen in Anspruch nehmen. Vermutlich war der Domherr Sohn eines polnischen Vaters und einer deutschen Mutter -- er studierte in Italien, die Erkenntnis, daß die Erde sich um die Sonne dreht, schrieb er auf lateinisch nieder. Die Polen waren nicht immer Europas Märtyrer. Im 16. Jahrhundert galt die polnische Adelsrepublik mit der monarchischen Spitze als das Land der größten geistigen Freiheit in Europa. Humanismus, Renaissance und Reformation fanden gleichzeitig Eingang in Polen. Sein Reichstag (Seim) hatte bereits 1552 die geistliche Gerichtsbarkeit ausgesetzt, der Reichstag von 1555 billigte dem Adel das Hecht auf Religionsfreiheit zu, Es war die erste staatliche Sanktionierung religiöser Toleranz in Europa. Die konfessionelle Vielfalt des polnischen Reiches galt den Zeitgenossen als einzigartig.

Deutsche und polnische Kultur befruchteten sich wechselseitig. Die meist von deutschen Handwerkern und jüdischen Händlern besiedelten Städte nahmen die Stadtrechte von Lübeck, Magdeburg, Nürnberg oder Halle an.

Dennoch befand 1960 die Warschauer Zeitung »Slowo Powszechne": »Aufgrund der aufgefundenen importierten Gegenstände kann man sogar von chinesischen Einflüssen sprechen -- es wurden Seidenstücke gefunden -- und sicher von Einflüssen aus Byzanz, Kiew, Böhmen, aber niemals von Kontakten mit Deutschland!«

Der Vater der polnischen Literatur, Jan Kochanowski, studierte wahrscheinlich an der deutschen Universität Königsberg, der deutsche Dichter Martin Opitz stand im Dienst des polnischen Königs. Keine lebende Sprache außer dem eng verwandten Russisch hat die polnische Sprache so stark beeinflußt wie Deutsch. Rathaus heißt »ratusz«. Bürgermeister »burmistrz« und Pflug »plug«. Von 100 Wörtern der Umgangssprache, so ermittelte der polnische Sprachforscher Gabriel Korbut, »sind 16 bis 17 deutscher Herkunft«.

Über Jahrhunderte hin war dann die politische Not von Deutschen und Polen fast austauschbar: Wie die Libertät der deutschen Fürsten das heilige Reich aushöhlte, zersetzte das berüchtigte »liberum veto, den polnischen Staat: Jeder Adelsherr, der einen Sitz im Reichstag hatte, konnte jeden Beschluß des Sejm inhibieren. Nach der Einführung des Wahlkönigtums 1573 wurden die Königswahlen zu Jahrmärkten der Korruption.

Während sich ringsum Schweden, Rußland, Österreich und Brandenburg-Preußen zu Militärstaaten mit absoluten Herrschern entwickelten, wurde die polnische Adels-Republik zur Beute ihrer Nachbarn, zum Gespött Europas und besonders der Deutschen.

Zweimal erwog man in Polen, Brandenburgs Großen Kurfürsten zum König zu wählen. Nach seinem Tode entschied man sich für August von Sachsen. Preußens Friedrich sagte voraus, daß die »übermächtigen Nachbarn am Ende sich über eine Teilung Pol »ns verständigen würden«, und dachte vor allem an Preußens Teil. Sprach er über seine Untertanen in Westpreußen, mokierte er sich über das »koddrige Polenzeug« -- doch Preußen wuchs durch wirtschaftliche Ausbeutung seines Anteils an Polen.

So gierig Europas Monarchen überall rafften, teilten, erbten -- gnadenloser zerrissen sie kein Volk. 1772, 1793 und 1795 wurde Polen zwischen Rußland, Preußen und Österreich geteilt -- laut Carl J. Burckhardt die »Löschung eines ehrwürdigen Staatsgebiets mit geschlossenem Volkstum, eigener Sprache und einheitlicher Religion«.

Es gab noch den Freistaat Krakau, 1200 Quadratkilometer groß mit 90 000 Einwohnern, eine besondere politische Einheit -- auch dieser letzte Rest eines polnischen Staates wurde 1846 getilgt.

Daß dieses Verschwinden eines großen Reiches in Europas Mitte für

* Rekonstruktion der Slawen-Burg von Spandau aus dem 12. Jahrhundert.

die Deutschen ein Vorgang voll unheimlicher Beispielhaftigkeit sein könnte, ahnte Herder. Er warnte die deutsche Nation:

Deine Nachbarin sieh, Polen, wie mächtig einst und wie stolz! Oh, sie kniet, ehren- und schmuckberaubt mit zerissenem Busen vor drei Mächtigen, und verstummt.

Und Preußens Reformer Freiherr vorn Stein notierte: »Die polnische Nation ist stolz auf ihre Nationalität, sie trauert, ihre Sprache, ihren Namen erlöschen zu sehen, und feindet den Staat an, der ihr dieses Leid zufügt,«

Als ein solcher Staat galt Preußen zunächst noch nicht: Henryk Dabrowski, später Nationalheld und Gründer der polnischen Legion unter Napoleon, riet in Berlin, den König von Preußen zum König von Polen auszurufen und unter dessen Führung eine polnische Armee aufzustellen.

Dabrowski hatte eine deutsche Mutter, Sophie von Lettow-Vorheck, begeisterte sich für Schiller und dichtete auf deutsch. Das Lied seiner Legion, die »Mazurka Dabrowskis«, wurde später Polens Nationalhymne und blieb es auch für die Kommunisten:

Noch ist Polen nicht verloren,

in uns lebt sein Glück,

was an Obmacht ging verloren,

bringt das Schwert zurück.

Auch der Texter des Liedes, General Józef Wybicki, schätzte Preußen und erzog seine Söhne -- In Dresden -- im Geist der deutschen Klassik.

Im Vertrauen auf das Schwert kämpften die Polen im Untergrund gegen ihre Besatzer. Priester, Studenten, Dichter und Adelssöhne organisierten immer wieder den bewaffneten Aufstand: 1830 gegen die Russen, 1846 gegen Russen, Preußen und Österreicher, 1848 gegen die Preußen, 1863 wieder gegen die Russen.

Die Insurgenten hatten die öffentliche Meinung des liberalen Europa auf Ihrer Seite -- ein halbes Jahrhundert lang war Polen Lieblingskind der deutschen Liberalen, Demokraten und Sozialisten.

Unter dem Druck der öffentlichen Meinung mußte Friedrich Wilhelm 111. von Preußen 1815 seinen polnischen Untertanen in Posen die Zulassung ihrer Sprache bei allen öffentlichen Verhandlungen garantieren und versprechen, jeder Pole solle nach Maßgabe seiner Fähigkeiten Zutritt zu öffentlichen Ämtern haben. Preußens erster Kultusminister Karl von Altenstein plädierte für die »Bildung der polnischen Nation« und wehrte sich gegen das Unterfangen, sie zu »germanisieren«.

Beim Aufstand von 1830 in Russisch-Polen »zitterte« laut Treitschke ganz Deutschland für die Polen: »Die Freiheit und Gesittung Europas fochten unter den Fahnen des weißen Adlers«, des polnischen Wappentiers. Heine beklagte im Pariser Exil Deutschlands Nachbarn im Osten als »edelste Kinder des Unglücks«. Platen und Lenau dichteten »Polenlieder«. Friedrich von Raumer kritisierte trotz Zensur, daß Preußens Friedrich die erste Teilung Polens angeregt hatte. Joseph von Eichendorff sprach polnisch und verarbeitete in seinem Werk polnische Volksdichtungen ebenso wie deutsche.

Als 1847 in Berlin 254 Polen vor Gericht gestellt wurden, weil sie versucht hatten, von Posen aus einen Aufstand zu entfesseln, jubelten viele Berliner den Angeklagten zu.

Wenig später, im März 1848, mußte Friedrich Wilhelm IV. die Verurteilten begnadigen. Berliner Bürger spannten sich vor den Wagen Ludwik Mieroslawskis, des Anführers im Aufstand gegen den Zaren von 1830. Der König erschien zu Ehren der Rebellen auf der Schloßrampe.

Die Befreiten depeschierten an ihre Posener Landsleute, sie möchten keinen Haß gegen »die Brüder deutscher Nationalität« zeigen. Mieroslawski schwenkte die schwarz-rot-goldene Fahne der deutschen Republik und warb: »Zur Sicherstellung eines freien Deutschland muß ein unabhängiges Polen als Vormauer gegen die Asiaten errichtet werden.«

In Posen stieß der nationale Freiheitswunsch der Polen rasch auf den Widerstand der Regierung. Der preußische Kommissar, ein General, gestand, Preußens Herrschaft über Polen beruhe nun einmal »auf nichts anderem als auf der Gewalt«.

Und die Polen-,Schwärmerei der deutschen Liberalen war keineswegs immer aufrichtig. Das Frankfurter Vorparlament bekannte sich zwar gleich an seinem ersten Sitzungstag, dem 31. März 1848, zu der »heiligen Pflicht«, Polen wiederherzustellen. Doch die dreitägige Polen-Debatte des Plenums im Juli -- in der erörtert wurde, ob Posen zu Deutschland oder zum künftigen Polen gehören solle endete mit einem Kompromiß. Der zuvor linke Schriftsteller Wilhelm Jordan verkündete, Polen wiederherzustellen, sei eine »schwachsinnige Sentimentalität«.

»Eine Nation kann nicht frei werden und zugleich fortfahren. andere Nationen zu unterdrücken«, erklärte der revolutionäre Fabrikant Friedrich Engels 1847 und folgerte: »Die Befreiung Deutschlands kann also nicht zustande kommen, ohne daß die Befreiung Polens von der Unterdrückung durch Deutsche zustande kommt.« Doch 1851 schrieb Engels an seinen Freund Karl Marx: »Die Polen haben nie etwas anderes in der Geschichte getan, als tapfere krakeelsüchtige Dummheiten gespielt. Auch nicht ein einziger Moment ist anzugeben, wo Polen, selbst nur gegen Rußland« den Fortschritt mit Erfolg repräsentierte oder irgend etwas von historischer Bedeutung tat.«

Als »Resultat« seiner Überlegungen empfahl Engels nun: »Den Polen im Westen abnehmen, was man kann ... und im Fall die Russen zu bewegen sind, sich mit diesen alliieren und die Polen zwingen nachzugeben.«

Ignaz Auer, Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen Partei, gestand später in einem Gespräch mit Rosa Luxemburg: »Wir alle fünf im Parteivorstand* betrachten die Unabhängigkeit Polens als einen Unsinn, eine

* August Bebel, Paul Singer, Wilhelm Pfannkuch, Albin Gerisch, Ignaz Auer (1898).

Phantasie«, und: »Man kann »den polnischen Arbeitern keinen größeren Gefallen tun, als sie zu germanisieren, aber man darf es den Leuten nicht sagen.«

Ähnlich dachte auch Preußens Ministerpräsident Bismarck, als der russische Zar in seiner Polen-Zone die Einheimischen aus Ämtern und Schulen jagte und Polnisch als Behördensprache verbot: »Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen. Ich habe alles Mitgefühl für ihre Lage, aber wir können nichts anderes tun, als sie auszurotten.«

In einem Geheimpakt, der »Alvenslebenschen Konvention«, versprach Bismarck Rußland 1863 Beistand gegen die rebellierenden Polen. Schließlich leitete er die Germanisierungspolitik ein: Er brach mit von Altensteins Prinzip der Zweisprachigkeit, er verordnete Deutsch als Amts- und Kirchensprache in Posen und Westpreußen und ließ 32 000 Polen und Juden mit fremder Staatsangehörigkeit ausweisen. Der Oberpräsident von Westpreußen, Ernsthausen, das Zentrum, die Sozialdemokraten und die Freisinnige Partei protestierten.

Es begann der Kampf um Sprache und Boden, der am Ende in Hitlers Polen-Mord mündete. Deutsche kauften in Posen und Westpreußen innerhalb eines Jahrzehnts mit Staatshilfe fast eine viertel Million Hektar Land auf und richteten 25 000 Bauernstellen ein.

Die Polen zogen nach, erwarben 150 000 Hektar für 35 000 polnische Bauern. Kaiser Wilhelm II. rief seine ostdeutschen Untertanen auf, »hier auszuhalten«. In Gnesen erklärte er 1905: »Wer als Deutscher ohne Grund seinen Besitz im Osten veräußert, der versündigt sich an seinem Vaterland.« Deutschfeindlich waren bis dahin vorwiegend der polnische Adel und der Klerus gewesen, jetzt wurden es auch die Bauern.

Kanzler Bülow sorgte für eine Novellierung des Ansiedlungsgesetzes von 1886 und einen Enteignungsparagraphen (von dem die preußische Verwaltung allerdings nur dreimal Gebrauch machte). Gleichwohl sank der Anteil der Deutschen an der Posener Gesamtbevölkerung von 42 auf 39 Prozent -- durch Abwanderung in den Westen des Reiches.

1914 brach jener große Krieg zwischen den Teilungsmächten von 1792 aus, um den Polens Nationaldichter (und Goethe-Gesprächspartner) Adam Mickiewicz die Polen zu beten gelehrt hatte. Sämtliche ·drei Mächte -- ein Glücksfall in der unglücklichen Geschichte Polens -- brachen innerhalb Jahresfrist zusammen: 1917 das zaristische Rußland, 1918 Habsburg-Österreich und Preußen-Deutschland.

Mit der Niederlage der drei Okkupationsmächte erhielten die Polen -- nach 123 Jahren Fremdherrschaft -- wieder ihren eigenen Staat. Die von den Siegermächten gezogenen Grenzen akzeptierten aber weder die Deutschen noch die Russen noch die Polen, die nationalistischen Nachholbedarf verspürten.

Der Staats- und Generalstabschef Józef Pilsudski marschierte nach Osten und eroberte Kiew. Obschon die Rote Armee ihren Gegenangriff bis Warschau führte, konnte Pilsudski 1921 Polens Ostgrenze immmerhin rund 150 Kilometer östlich jener Linie verschoben werden, die der britische Lord Curzon als ethnische Grenze zwischen Polen und Belorussen/Ukrainern ermittelt hatte.

Ein anderer Expansionist, Roman Dmowski, Führer der polnischen Nationaldemokratie, drängte nach Westen: Das deutsche Ostpreußen sollte als autonome Provinz dem polnischen Staat angegliedert werden, Westpreußen, Oberschlesien sowie einige Kreise Niederschlesiens und Ostpommerns sollten ohne Einschränkung zu Polen kommen.

Durch Pilsudskis Ost-Abenteuer bedroht, konnte Polen die wichtigsten Forderungen Dmowskis im Westen nicht durchsetzen. Selbst die Masuren, eine autochtone Minderheit, entschieden sich für Deutschland. Wenigstens das deutsche Danzig wurde als Freistaat eine besondere politische Einheit.

Aber Polen war zum Vielvölkerstaat mit starken Minderheiten geworden: vier Millionen Ukrainer, eine Million Belorussen, 2,1 Millionen Juden und eine Million Deutsche neben den 18,8 Millionen Polen. In den vernachlässigten Dörfern mit Heeren von Arbeitslosen entluden sich enttäuschte Hoffnungen in einem extremen Nationalismus. Der junge Staat ging mit den von seinen früheren Herren gelernten Mitteln gegen die Minderheiten vor: mit Enteignung und Kulturkampf.

Der deutsch-sowjetische Vertrag von Rapallo· 1922 weckte in Polen die Furcht vor einer neuen Allianz der beiden Nachbarn. Wenig später schrieb Reichswehr-Chef von Seeckt: »Polens Existenz ist unerträglich ... Es muß verschwinden, und es wird verschwinden durch eigene Schwäche und durch Rußland, mit unserer Hilfe.«

Pilsudski versuchte, die Gefahr durch einen Pakt mit Hitler zu bannen -- und der nannte Polen »die Heimstätte eines großen, national fühlenden Volkes mit dem Verständnis und der herzlichen Freundschaft aufrichtiger Nationalisten«.

Vom Münchner Abkommen profitierte Polen durch Annexion eines Stückchens Tschechoslowakei, des Teschener Gebiets. Als Hitler nach dem Freistaat Danzig griff, vertraute Polen auf eine Garantie der Westmächte, lehnte Verhandlungen ab und machte mobil.

Aber Hitler hatte überraschend seinen Pakt mit Stalin geschlossen, dessen Geheimklausel eine neue Teilung Polens vorsah. Am Vorabend des Angriffs gab Hitler seinen Generalen das Polen-Programm bekannt, daß »das Kriegsziel nicht Im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht.« Die SS stünde bereit, »unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen.«

Auch in Polen raste der Mord. 5000 Deutsche wurden zu Beginn des Krieges erschlagen ("Bromberger Blutsonntag"). Die deutsche Propaganda behauptete, es seien 58 000 gewesen. Über die Rache der Nazis beschwerte sich die Gutsbesitzersfrau Lily Jungblut, Parteigenossin seit 1930, bei Göring:

Fußend auf der unwahren Behauptung. daß die »Verantwortung der Morde an Volks. deutschen ausschließlich zu Lasten der intellektuellen Führung des Polentums geht«, ... sind Tausende und Abertausende unschuldige Menschen dieser Kreise erschossen worden; sämtliche Lehrer und Lehrerinnen, Ärzte und Ärztinnen, Rechtsanwälte, Notare, Richter und Staatsanwälte. Großkaufleute und Gutsbesitzer -- soweit sie noch lebten -- sind zu Tausenden aus den Schulen vor den Augen der Kinder. aus den Stellen, in die die Wehrmacht sie wieder eingesetzt hatte, aus der Praxis, aus den Kliniken, von den Gutem, so wie sie gingen und standen, van der Danziger Gestapo verhaftet und in Zuchthäuser und Gefängnisse gesperrt ... und heute beginnt die gleiche Tragödie mit den Kleinbauern und den Arbeitern.

Selbst der deutsche Oberbefehlshaber Ost, Generaloberst Blaskowitz, führte Klage:

Es ist abwegig, einige 10 000 Juden und Polen, so wie es augenblicklich geschieht, abzuschlachten; denn damit werden angesichts der Masse der Bevölkerung weder die polnische Staatsidee totgeschlagen, noch die luden beseitigt ... Die Ansicht, man könne das polnische Volk mit Terror einschüchtern und am Boden halten, wird sich bestimmt als falsch erweisen. Dafür Ist die Leidensfähigkeit des Volkes viel zu groß.

Die Ostprovinzen des Kaiserreichs wurden Deutschland wieder einverleibt und 1,2 Millionen dort lebender Polen enteignet, die Distrikte Warschau, Krakau, Radom, Lublin und Galizien zum »Generalgouvernement« zusammengefaßt, in dem rund 11 000 deutsche und ebensoviel polnische Polizisten sowie 6000 ukrainische und 5000 jüdische für die deutsche Ordnung sorgen sollten. »Generalgouverneur« Hans Frank schrieb in sein Tagebuch: Kein Pole soll Ober den Rang eines Werkmeisters hinauskommen. Kein Pole wird die Möglichkeit erhalten können, an allgemeinen staatlichen Anstalten sich eine höhere Bildung anzueignen ... Was wir jetzt an Führungsschicht in Polen testgestellt haben, das ist zu liquidieren; was wieder nachwächst, ist von uns sicherzustellen und in einem entsprechenden Zeitraum wieder wegzuschaffen ... Selbst dem Statthalter Frank

später reuiger Angeklagter vor dem Nürnberger Gericht -- wurde es schließlich zuviel. Sein Amt beschwerte sich 1943 bei der Reichskanzlei über eine SS-Razzia »auf asoziale Elemente«. Es seien »offenbar, um zahlenmäßig mit möglichst hohen Ergebnissen aufwarten zu können, einfach Kinos und Kirchen umstellt und dann sämtliche Besucher ... ohne Auswahl festgenommen und in ein Konzentrationslager geführt worden«.

Im selben Jahr beschwerte sich andererseits die SS über den deutschen Amtsarzt in Warschau, Dr. Hagen, daß dieser »Deutsche und Polen auf dem Gebiet der Tbc-Bekämpfung gleichermaßen« behandelte und bei ihm deutsche Patienten »nicht um das geringste besser verpflegt« würden als Polen.

Und es gab auch deutsche Fabrikdirektoren, die ihre polnischen Arbeiter wie Menschen behandelten und Juden vor Vernichtungslagern schützten, unter ihnen -- in den polnischen Erdölrevieren bei Krosno und Boryslaw -- der Pommer Berthold Beitz, damals 27. Der Krupp-Manager Beitz: »Ich weiß nicht, ob ich heute, älter geworden, noch den Mut dazu hätte.«

Auf dem Territorium ihrer polnischen Kolonie -- nicht im eigenen Reich -- errichteten die Deutschen das Netz der Vernichtungslager. Polens heutiger Premier Cyrankiewicz war Häftling in Auschwitz. Nach polnischen Angaben wurden insgesamt über sechs Millionen Polen und Juden getötet, und zwar

* 644 000 durch unmittelbare Kriegshandlungen,

* 1,286 Millionen durch Hunger, Epidemien und Erschöpfung in deutschen Gefängnissen und Lagern,

* 521 000 durch Hunger, Epidemien und Erschöpfung außerhalb der Lager,

* 100 000 Partisanen,

* 15 000 Aufständische und 200 000 Warschauer Zivilisten während des Aufstands in der Hauptstadt 1944,

* 3,577 Millionen kamen In Konzentrationslagern und Gettos um -- vor allem Polens Juden,

* 56 »Wo polnische Soldaten, die auf sowjetischer Seite kämpften, und 16 000 Soldaten, die an den Westfronten kämpften, fielen oder wurden verwundet.

Unter den Getöteten waren 7500 Ärzte, 700 Professoren, 3963 Volksschullehrer und 2647 Priester.

Die Polen übten Vergeltung: Rund zehn Millionen Deutsche wurden nach Kriegsende aus Polen, Ostpreußen, Pommern und Schlesien vertrieben, eine Million verlor dort durch Krieg, Flucht oder Aussiedlung das Leben.

Die Deutschen registrierten ihre eigenen Leiden genau -- in einer vierbändigen Dokumentation der Bundesregierung. Eine entsprechende Dokumentation deutscher Verbrechen, welche die polnische Rache erst herausforderten, gibt es nicht.

Polen, das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs, dem die Westmächte nicht zu Hilfe gekommen und dem die Russen in den Rücken gefallen waren, hatte die Siegermächte nun auf seiner Seite und erhielt die deutschen Ostgebiete als Ausgleich für den Verlust seiner eigenen Ostgebiete: Die UdSSR gab ihre Erwerbungen aus dem Hitler-Stalin-Pakt nicht mehr heraus.

Aufgrund eines bereits am 9. September 1944 mit dem moskaufreundlichen »Lubliner Komitee« geschlossenen Abkommens wurden zwei Millionen Polen aus der West-Ukraine und West-Belorußland nach West-Polen umgesiedelt, rund 250 000 Ukrainer mußten Polen in Richtung Sowjet-Union verlassen. Dennoch blieben etwa 1,3 Millionen Polen (1970) in der Sowjet-Union und etwa 150 000 Ukrainer im neuen polnischen Staat.

»Die Polen aus Lwow (Lemberg) singen bis heute mit Rührung ihre Tyszakower Lieder, und mitunter beobachten wir sogar die erstaunliche Tatsache, daß die junge Generation, die an der Lyna (Oder) und Neiße geboren ist, die weiche Aussprache von Zabuze (Ostpolen) übernimmt«, berichtete der polnische Publizist Górnicki über die vertriebenen Ostpolen.

Sie waren so wenig gefragt worden wie die vertriebenen Ostdeutschen. Die polnische Exil-Regierung in London hatte sogar gegen Polens Westverschiebung protestiert. Als Ausgleich für den Verlust von 180 000 Quadratkilometern im Osten erhielt Polen 103 000 Quadratkilometer im Westen -- nach den Maximen einer annexionistischen Kabinettspolitik, die in Europa längst als überwunden galt, von Deutschlands Hitler aber in die internationale Politik wieder eingeführt worden war.

Die Sieger Stalin, Truman und Churchill faßten auf der Konferenz von Potsdam im Juli/August 1945 entsprechende Beschlüsse, die von ihren Parlamenten nie ratifiziert, von den drei Großen nicht einmal unterzeichnet wurden und recht undeutlich gehalten waren:

* »Bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens« sollen die früher deutschen Gebiete an Oder und Neiße »unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden«.

* »Die Häupter der drei Regierungen bekräftigen ihre Auffassung, daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll.«

Die deutschen Minderheiten in Osteuropa sollten »in ordnungsgemäßer und humaner Weise« nach Deutschland »überführt« werden; im November 1945 erweiterte Polen mit Zustimmung des Alliierten Kontrollrats diese Bestimmung auch auf die Deutschen im nun polnisch verwalteten früheren Ostdeutschland.

Einer der Männer der ersten Stunde war Wladyslaw Gomulka, ein altes Mitglied der (nach ihrer Auflösung durch die Moskauer Komintern 1938 wegen ideologischer Abweichung) wiederbegründeten Kommunistischen Partei, die Im Gefolge der Roten Armee nach bürgerkriegähnlichen Kämpfen die Macht übernahm. Partei-Generalsekretär Gomulka wurde Minister für die polnischen Westgebiete.

Polens Kommunisten waren In Fragen des nationalen Selbstbestimmungsrechts -- der Lebensfrage Polens -- stets unsicher gewesen und standen beim Volk im Ruf nationaler Unzuverlässigkeit, Sie hatten den Minderheiten in einem sozialistischen Polen eigene autonome Republiken geben wollen: Kaschubien, Belorußland, Ukraine und Oberschlesien.

Nach dem Krieg aber übernahm Polens KP -- bald mit den Sozialisten zur »Polnischen Vereinigten Arbeiter-Partei« (PZPR) zusammengeschlossen -- das West-Programm der polnischen Chauvinisten, die stets die Oder-Neiße-Forderung erhoben hatten; nach Osten war Polen jetzt ohnehin durch Sowjetfreundschaft festgelegt. Polens Kommunisten mußten allenfalls darauf achten, sich gegenüber ihrem Volk von dem Verdacht der totalen Abhängigkeit von den noch immer verhaßten Russen zu befreien.

Wegen nationalkommunistischer Abweichung wurde Gomulka 1948/49 gestürzt und 1951 verhaftet. Nach Stalins Tod holte der beim Volk kompromittierte Parteiapparat Gomulka wieder -- gegen den Willen Moskaus.

Die Arbeiter von Posen hatten gestreikt; nun erhielten sie das Recht zur Wahl von Arbeitervertretungen. Die Bauern bekamen ihr kollektiviertes Land zurück, Der Verteidigungsminister Rokossowski, ein sowjetischer Staatsbürger, wurde bald nach Rußland zurückgeschickt. Mit dem Namen Gomulkas verbanden sich 1956 Hoffnungen auf mehr Meinungsfreiheit und einen Reform-Kommunismus (der nicht verwirklicht wurde).

Vor Warschau gingen im Oktober 1956 Sowjettruppen in Wartestellung, auf dem Warschauer Flugplatz landete uneingeladen der Erste Sekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, mit Begleitung.

Wütend stürzte sich Chruschtschow auf die wartende polnische Parteiführung: »Wir haben unser Blut vergossen, um diesen Boden zu befreien, und nun wollen Sie sich den Amerikanern in die Arme werfen! Aber das wird Ihnen nicht gelingen ...« Mit dem Finger wies er auf Gomulka und fragte mißtrauisch: »Wer Ist das denn?« Die Antwort: »Ich bin der ehemalige Generalsekretär der Partei, den Stalin und Sie ins Gefängnis geworfen haben. Mein Name Ist Gomulka.«

Gomulka wurde wieder Chef der polnischen KP« drei Jahre später billigte Chruschtschow auch dessen Programm. Im Warschauer Kulturpalast -- einem Geschenk Stalins -- versprach der Gast aus Moskau: »Jedes Land muß den Sozialismus bauen und dem Kommunismus entgegengehen unter der gebührenden Berücksichtigung seiner nationalen, kulturellen und ökonomischen Eigenarten.«

Es gab Gerüchte, Walter Ulbricht habe 1956/57 der Sowjetführung eine Intervention vorgeschlagen und empfohlen, Gomulkas »Revisionismus« durch die Drohung mit einer Grenzkorrektur (bei Stettin) zugunsten der DDR zu zähmen.

Warschaus Verhältnis zu Ost-Berlin blieb zwiespältig. Nach dem Krieg hatte SED-Funktionär Max Fechner erklärt, daß »die SED sich jeder Verkleinerung des deutschen Gebietes entgegenstellen wird. Die Ostgrenze ist nur provisorisch ...« ("Neues Deutschland« am 19. September 1946). Vier Jahre später erklärte die DDR-Regierung -- mit dem Anspruch der Alleinvertretung -, daß die Oder-Neiße-Linie die »Staatsgrenze zwischen Polen und Deutschland bildet«.

Noch heute fragen Polen-Touristen aus der DDR nach »Krummhübel« statt nach »Karpacz« oder nach »Warmbrunn«, das heute »Cieplce« heißt. Das fand die polnische Jugendzeitung »Sztandar Mlodych«, die vor kurzem darüber berichtete, »für beide Seiten sehr interessant«. Der langjährige DDR-Botschafter in Warschau, Karl Mewis, fiel auf, weil er ständig auf gut deutsch den Polen gegenüber die wirtschaftliche Überlegenheit seines Staates herausstellte.

Das war sachlich ungenau, weil der DDR-Anteil an der gesamten Industrie-Produktion des Ostblocks von 9,57 Prozent Im Jahre 1955 bis jetzt gesunken ist: Er wird sich 1970 dem Anteil Polens von etwas über sieben Prozent annähern -- infolge der abnehmenden Arbeitsproduktivitäts-Raten der vollbeschäftigten DDR. Polen aber hat durch Arbeitslosigkeit eine Arbeitskräfte-Reserve.

Und es war psychologisch ungeschickt, da In der DDR jene Deutschen leben, mit denen die Polen in der Geschichte ihre meisten Erfahrungen gemacht haben: Sachsen und Preußen. 1966 stationierte die Nationale Volksarmee der DDR an der Grenze nach Polen eine Einheit namens »Florian Geyer« -- so hieß auch die 8. Waffen-SS-Kavalleriedivision, die 1940 in Polen aufgestellt worden war.

Bald nach seiner Rückkehr in die polnische Politik bemühte sich Parteichef Gomulka denn auch um Kontakt zu den anderen Deutschen. »Als Anhänger einer realen und konstruktiven Politik haben wir auch den Wunsch ausgedrückt, unsere Beziehungen mit der Deutschen Bundesrepublik zu normalisieren«, erklärte er im

Januar 1957 vor dem polnischen Parlament, dem Seim.

Gomulka wiederholte sein Angebot mehrfach -- ohne Bedingungen, ohne die Voraussetzung der Grenz-Anerkennung, und (so im Juni 1957 vor Posener Arbeitern) als »einen gewissen positiven Faktor« einer deutschen Wiedervereinigung.

Polens damaliger Außenminister Rapacki entwickelte das -- von Moskau mit Mißtrauen verfolgte -- Projekt einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa, das eine Wiedervereinigung Deutschlands einschloß.

Bonn aber stellte Bedingungen. Kanzler Adenauer in einer Bundestagssitzung am 23, Januar 1958 auf eine Abgeordneten-Frage, ob Polen und die Bundesrepublik nicht gemeinsame Interessen hätten: »... diese gemeinsamen Interessen richten sich doch nur auf ein Zurückdrängen des Kommunismus.«

Der spätere Bundeskanzler Kiesinger erklärte als Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des Bundestages im April 1958 In Straßburg, es sei schwer festzustellen, ob diplomatische Beziehungen zur polnischen Regierung »dein polnischen Volk helfen«. Er glaube, »das letzte Wort über die gegenwärtige Regierung in Polen« sei noch nicht gesprochen.

Adenauers Staatssekretär Globke bedeutete einem nach Bonn angereisten polnischen Emissär, dem katholischen Sejm-Abgeordneten Dr. Stanislaw Stomma, für diplomatische Beziehungen sei »die Zeit nicht reif«. Auch die Bemühungen des Amateur-Diplomaten Berthold Beitz -- von Adenauer im Alleingang 1960/61 zum Sondieren nach Warschau geschickt -- scheiterten an der starren Haltung Bonns.

Erst der Eintritt der Sozialdemokraten In die Regierung schuf in Bonn die Voraussetzungen für einen Ausgleich auch mit Polen. Am 17. Mai 1969 -- kurz nach dem Ussuri-Konflikt und der Rückkehr des Sowjetpremiers Kossygin in die Politik -- bot Gomulka den Deutschen Verhandlungen an. Von der Ulbricht-Doktrin, jeder Vertrag des Ostblocks mit der Bundesrepublik setze eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR voraus, war nicht die Rede, Moskaus eigenes Verhandlungsangebot war noch nicht formuliert worden.

Gomulka konnte nur hoffen, daß die Zeit viele Wunden geheilt habe und die Westdeutschen gelernt hatten, das Heimatrecht der 4,8 Millionen in den Oder-Neiße-Gebieten geborenen und aufgewachsenen Polen -- rund die Hälfte der heute dort lebenden Bevölkerung -- nicht mehr anzufechten.

Auch von polnischer Seite fanden sich Leute in dem Bemühen, das Mißtrauen langsam abzubauen. Der Publizist Karol Malcuzynski erinnerte sich in der Parteizeltung »Trybuna Ludu":

Es gab eine Zelt in Polen, als die Leute sich nach einem Stein umschauten, wenn sie die deutsche Sprache hörten. Wie schwer war es zu erklären, daß sie auch die Sprache Goethes, Thomas Manns und Ossietzkis war, und nicht nur die Sprache Himmlers und Eichmanns. Wir haben diese harte Arbeit auf uns genommen. Auch wenn die ersten Gäste aus Deutschland auf der Straße als Schweizer Delegation ausgegeben werden mußten, Wir nahmen es auf uns, von der Nation Gutenbergs, Luthers, Beethovens und Marx' zu sprechen, nach auf rauchenden Trümmern und frischen Gräbern. Und noch heute lächelt man in manchen Redaktionen, wenn der Stift meist automatisch die Warte »deutsche verbrechen« in »Naziverbrechen« abänderte. Symbol einer undankbaren, aber nötigen Erziehung

Heute, so der englische Journalist Carl Lawrancic, ist »die polnische Öffentlichkeit im großen und ganzen überzeugt, daß es zu einer Versöhnung zwischen Deutschland und Polen kommen kann, und die Öffentlichkeit ist sehr daran interessiert«.

Nach einer Reise durch Polen im Frühjahr 1970 berichtete der Brite im Londoner Rundfunk: »Einfache Leute, die man in Zügen oder auf der Straße trifft, die sagen immer: Wenn man nur diese Frage (mit Westdeutschland) lösen könnte, dann würden wir unabhängiger von den Russen sein ... Die Leute sind sehr deutschfreundlich, zum Beispiel spricht man sehr viel deutsch in Polen.,. Ich habe keinen Haß gegen die Deutschen beobachtet.«

Dennoch mußte sich Gomulka bei einer Diskussion in einer Warschauer Autofabrik fragen lassen: »Genosse Gomulka, willst du uns an die Westdeutschen verkaufen?« Und die »Zycie Warszawy« warnte vor »falschen Tönen und verwunderlichen Kalkulationen": »Manche versuchen die Angelegenheit so darzustellen, als ob Polen sich wie ein verdurstender Kunde um die Gunst westdeutscher Wirtschaftskreise »bewerbe.«

Grund solcher Sorgen Ist die westdeutsche Wirtschaftsmacht. Krupp, Volkswagen und Mercedes -- in Polen bewunderte Markenzeichen westdeutscher Nachkriegstüchtigkeit -- wecken auch neue Ängste vor einer wirtschaftlichen Hegemonialmacht »Made in Germany«. Eine tüchtige, aber in polnischen Augen geist- und seelenlose »Neon-Auto-Zivilisation« beunruhigt.

Ein neues Kapitel deutsch-polnischer Beziehungen wird wirtschaftliche Kooperation zum Inhalt haben -- wie in den vergangenen Perioden friedlicher Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen. Belehrt von der Geschichte fürchten dabei manche Polen -- so die Warschauer »Slowo Powazechne« -, ihr Land werde in einem wirtschaftlichen Wettbewerb mit der Bundesrepublik unterliegen; Westdeutschland könne sein ökonomisches Gewicht als »Werkzeug einer Ideologischen Diversion« nützen.

Doch Polen ist nicht mehr der hilflose Agrarstaat früherer Jahrhunderte, seine Jugend nicht mehr vom engstirnigen Nationalismus bedrückt. Daß auch die Westdeutschen den Nachbarn ihres Nachbarn nicht mehr als Kolonialland betrachten, sucht eine Bonner Regierung zu beweisen, die nicht mehr von Abendländlern und Ostlandreitern gebremst wird.

Im Juni schloß Wirtschaftsminister Schiller in Warschau als erstes ein Handelsabkommen ab, das den Industriestaat Polen -- im Westen bisher vorwiegend als Lieferant von Kohle, Fleisch und Federvieh eingeführt -- In Zukunft verstärkt mit industrieller Fertigware ins Geschäft bringen soll. Die Westdeutschen sind bereit, Polens Wünsche auf Assoziierung beim EWG-Markt zu unterstützen.

Zu politischen Verhandlungen schickte Bonn Georg Ferdinand Duckwitz nach Warschau, und Polens Vize-Außenminister Winiewicz kam nach Bonn. Am 2. November begann der in Moskau bewährte Verhandler Scheel seine Gespräche mit seinem polnischen Kollegen Jedrychowski: Zum erstenmal suchen Deutsche eine Annäherung an Polen gleichzeitig mit einer Annäherung an Moskau.

Mit dem Warschauer Vertrag, von der Regierungs-Koalition im vergangenen Herbst selbst als »Schlüssel« bezeichnet, steht und fällt das Prestige der Bonner Ostpolitik. Das sozialistische Lager wartet ungeduldig auf die Warschauer Resultate, selbst für Moskau wäre ein Scheitern der Verhandlungen nicht leicht zu interpretieren.

Warschaus Parteichef Gomulka erhofft sich von einem erfolgreichen Abschluß mehr Selbständigkeit gegenüber dem Kreml mit zusätzlichem Prestige-Gewinn. Nur ein westdeutsch-polnischer Ausgleich kann Polens Sorge beseitigen, das neue Einvernehmen zwischen Moskau und Bonn gehe womöglich auf seine Kosten.

Die Bundesrepublik aber erklärt Ihren Respekt vor einer Grenze, die

* Zu Allerheiligen in Warschau.

nicht die ihre ist -- mit der Anerkennung der DDR-Ostgrenze nimmt sie den Polen jedoch die Urangst vor den Deutschen und eröffnet eine Ära der Zusammenarbeit zwischen zwei Völkern, die sich in Wahrheit ergänzen.

Noch ist die Vergangenheit nicht überwunden. Als Walter Scheel am ersten Verhandlungstag in Warschau zum ersten Gespräch unter vier Augen mit seinem Kollegen Jedrychowski ins polnische Außenministerium an der Aleja Szucha Nr. 43 (dem ehemaligen Gestapo-Hauptquartier) ging, traf er am Eingang auf einen älteren Herrn. Scheel hielt ihn für einen Protokoll-Beamten und schüttelte ihm die Hand.

Der Geehrte sagte in gebrochenem Deutsch: »Ich ehemaliger Gefangener von Konzentrationslager.« Scheel, verwirrt: »Ja, ja, dann wollen wir mal reingehen.«

Und als SPIEGEL-Redakteur Dirk Koch bei der Warschauer Touristen-Organisation »Orbis« seinen Bundes-Reisepaß mit der Angabe des Geburtsjahres 1943 vorlegte, bemerkte der Schalter-Angestellte: »Zu der Zeit war ich schon zwei Jahre in Buchenwald. Schöne Gegend dort.«

Der ehemalige Insasse des deutschen Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar begann so zu zittern, daß er das Formular nicht ausfüllen konnte, aufstand und weggehen mußte, um sich zu beruhigen. Nach einigen Minuten kehrte er zurück.

Am regnerischen Abend des 3. November gab die polnische Regierung im Schloß Jablonna für Scheel ein Essen -- bei Kerzenlicht, weil durch den Sturm die Beleuchtung ausgefallen war.

Als der Schaden behoben war, wurde das Deckengemälde im Speisesaal sichtbar; Es zeigte lichtblauen Himmel mit nur ganz wenig Wolken. Das, bemerkte Scheel, entspreche dem Stand der Verhandlungen.

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