Zur Ausgabe
Artikel 7 / 29

SARDINIEN Die Gesetzlosen

aus DER SPIEGEL 13/1954

Einer nach dem andern traten die Männer von Orgosolo, dem berüchtigten Räubernest Sardiniens, vor den Altartisch, der auf der Piazza aufgestellt worden war. Mit der Hand auf dem Kruzifix gelobten sie, daß sie der »vendetta«, der Blutrache, für immer entsagen und fortan nicht mehr töten wollten.

Ein Jahr nach dem feierlichen Schwur umstellten fünfhundert Karabinieri und Kriminalbeamte das schlafende Orgosolo. Beim fahlen Licht der Morgendämmerung drangen sie von allen Seiten in den Ort und in die Häuser ein. Jede Kammer, jeder Winkel wurde durchsucht: nach »fuorilegge« ("Gesetzlosen")*), die sich vielleicht wieder nach Hause geschlichen hatten. Denn längst war der Frieden vom 11. Januar 1953 gebrochen.

Erst am Heiligabend letzten Jahres wieder hatten »Gesetzlose« eine schwere Bluttat begangen. Sie hatten sich nach Einbruch der Dunkelheit an der Straße Lanusei - Fonni in den Hinterhalt gelegt, um den Postomnibus zu überfallen und auszurauben. Als sie von einer Streife der Karabinieri überrascht und angerufen wurden, eröffneten sie sofort das Feuer aus ihren Maschinenpistolen. Mit einem Kopfschuß brach der 27jährige Karabiniere Davide Budroni tot zusammen. Ein anderer Karabiniere wurde von einem der Banditen, der sich verwundet gestellt hatte, aus nächster Nähe schwer verletzt.

Aber die Wegelagerer an der Straße von Lanusei nach Fonni waren nicht die ersten Gewaltverbrecher nach jenem hoffnungsvollen 11. Januar vorigen Jahres. Auch die unbekannten Täter, die kurz zuvor dem kaum zwanzigjährigen Terzo Congiu aus Iglesias drei Schüsse in den Nacken gejagt und ihn an einem Wegrand bei Gonnesa sterbend hatten liegenlassen, waren nicht die ersten Friedensbrecher gewesen. Der Friede hatte vielmehr nur ganze neunzehn Tage gehalten. Schon kaum zwei Wochen nach dem Schwur von Orgosolo hatten in der Nacht zum 24. Januar 1953 vier maskierte Männer eine Karabinieristreife beschossen und einen der Polizisten tödlich getroffen.

Der Fall aber, der in ganz Italien die größte Empörung hervorgerufen hat, ist die Ermordung des Straßenbau-Ingenieurs Davide Capra aus Cagliari.

Schon vor drei Jahren war Capra einmal entführt und festgehalten worden. Das Lösegeld, das die Banditen gefordert hatten, war pünktlich bezahlt und Capra freigelassen worden, nachdem er geschworen hatte, nichts und niemanden zu verraten.

Da er seinen Schwur wohlweislich hielt, glaubte Capra, vor den Banditen in Zukunft sicher zu sein. So wagte er etwas, was vor ihm kein anderer Unternehmer gewagt hatte. Er übernahm den Auftrag zum Bau einer Straße, die von Orosei nach Dorgali, mitten durch die Barbagia führen sollte.

Die Barbagia aber - von den Römern, die dort gegen karthagische Guerillas zu kämpfen hatten, »Barbaria« (Barbarei) genannt - ist seit Jahrhunderten der

*) Blutrache und Banditentum hängen zusammen. Wer getötet oder ein anderes Verbrechen begangen hat, flieht in die Berge und lebt als »Gesetzloser«. ideale Zufluchtsort und Operationsbereich der sardischen Banditen. Das Gennargentu-Massiv (1829 Meter) überragt hier ein Hunderte von Quadratkilometern weites zerklüftetes Bergland, das von Korkeichen- und Kastanienhainen und fast undurchdringlichem Buschwald bedeckt ist.

Davide Capra baute die Straße, und alles ging gut, bis eines Tages die Banditen zeigten, daß sie noch immer die Herren der Barbaria waren. Sie hielten das Auto an, in dem Ingenieur Capra mit einem Landmesser zu einer Baustelle fuhr, und sammelten auf, wen sonst noch sie auf der Straße antrafen: Straßenwärter, Arbeiter und Aufseher. Sie alle wurden nach dem üblichen Schweigeschwur wieder freigelassen. Nur Straßenbauer Davide Capra mußte zum zweitenmal den Marsch zu den Verstecken seiner Entführer antreten.

Vielleicht wäre es Ehefrau Adelina Capra, Mutter von elf Kindern, gelungen, die ganz außerordentlich hohe Lösesumme von 20 Millionen Lire (134 400 Mark) irgendwie aufzutreiben. Für Davide hätte auch diese zweite Begegnung mit den Banditen dann noch glimpflich ausgehen können. Während aber Frau Adelina bei Banken und Freunden verzweifelt um Darlehen bettelte, glaubte Oberst Ciaccio, den Banditen in der Gegend von Maninfili auf die Spur gekommen zu sein.

Einheiten von Karabinieri und Militär, die nach der Entführung des Ingenieurs Capra zur Bekämpfung der Banditen eingesetzt worden waren, riegelten in einer Großaktion das verdächtige Gebiet ab und durchkämmten in mühseliger Pirsch große Strecken des Buschwaldes. Dabei stöberte eine kleine Gruppe von Karabinieri zwei Banditen auf. Es kam zu einem Schußwechsel, und einer der beiden Männer wurde erschossen. Es war der 24jährige Emiliano Succu, Enkel eines Mannes, der wie er als Bandit unter den Kugeln der Karabinieri fiel.

Noch am Tage vorher war Emiliano in Orgosolo gesehen worden. Er hatte in der Apotheke ein Fläschchen Herzmittel gekauft. Die Karabinieri fanden dieses Fläschchen wieder, als sie das Dickicht durchsuchten und auf eine gut getarnte

Laubhütte stießen. Dort lag, gefesselt und geknebelt, Ingenieur Davide Capra. Er war tot. Die Banditen hatten ihn vor ihrer eiligen Flucht erschossen.

Für das italienische Parlament war der Fall Capra der Anlaß, sich wieder einmal mit Sardinien und seiner »malattia ciclica« der »zyklischen Krankheit«, wie der Wechsel zwischen Tagen des Mordes und Perioden scheinbarer Ruhe genannt wird, zu befassen und endgültige Abhilfe zu fordern.

Der linkssozialistische Senator und ehemalige Führer der Sardischen Aktionspartei, Emilio Lussu, beschuldigte in einem Entschließungstext die Regierung, daß sie nichts zur Verbesserung der Verhältnisse in Sardinien getan habe. Er schilderte das sardische Banditentum als Folge der verzweifelten sozialen Lage, in der sich ein großer Teil der Inselbevölkerung befinde.

Auch die Democrazia Cristiana verlangt jetzt die Durchführung eines großzügigen wirtschaftlichen Aktionsprogramms für Sardinien. Senator Monni, der eine entsprechende Entschließung einbrachte, machte allerdings nicht die wirtschaftliche Not für das Banditentum verantwortlich. (Dem widerspricht auch, daß viele der Banditen wohlhabenden Familien angehören.) Es handle sich vielmehr in erster Linie um eine Gesinnung, die durch eine intensive Erziehungsarbeit korrigiert werden müsse.

Auf die zur Zeit laufenden polizeilichen und militärischen Fahndungsmaßnahmen reagieren die Banditen der sardischen Barbagia in der augenblicklichen lebhaften Phase der »malattia ciclica« mit besonders grausamen Verbrechen gegenüber »Verrätern«. Dem 32jährigen Nicola Moro, dessen Bruder sie des Verrats verdächtigten, schnitten sie beide Ohren ab und schlitzten ihm den Leib auf. Es ist die Strafe, mit der sich schon die Karthager an Verrätern rächten.

Jetzt zogen sardische Mörder unter die Episode des »Friedens von Orgosolo« einen blutigen Schlußstrich: Sie schossen den Initiator des mißglückten »Waffenstillstandes«, den fünfzigjährigen Industriellen Domenico Buscarino, außerhalb der Stadt auf offener Straße nieder.

Zur Ausgabe
Artikel 7 / 29
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren