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»Die größte Zerreißprobe in Friedenszeiten«

aus DER SPIEGEL 6/1979

SPIEGEL: Mr. Heath, Großbritannien bietet dieser Tage ein düsteres Bild: Streiks lähmen Industrie und Handel; Streikposten verhindern, daß die Industrie mit Gütern und die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgt wird; Züge fahren nicht mehr, Kranke werden nicht behandelt. Erlebt Großbritannien, wie der »Daily Telegraph« schrieb, seine schwerste Krise, seit Hitler Mitteleuropa überrannte?

HEATH: Ich würde sagen: die größte Zerreißprobe in Friedenszeiten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Nordwesten erhielten die Menschen infolge des Streiks sogar kein sauberes Trinkwasser mehr. So etwas ist erbärmlich.

SPIEGEL: Sozialarbeiter haben ihren Lohnkrieg sogar in die Krebsstation getragen: Krebskranke mußten nach Hause geschickt werden, weil militante Streikposten die Lieferung von Medikamenten und Lebensmitteln unterbanden. Bill Dunn, der Sprecher der Londoner Krankenwagenfahrer, sagte zur Rechtfertigung des Streiks: »Wenn dabei Menschenleben gefährdet werden, dann muß es eben so sein.«

HEATH: Alle stimmen überein, daß Streiks im öffentlichen Dienst unerträglich sind, wenn sie zu Lasten von Kranken gehen. Ich glaube nicht, daß es darüber Meinungsverschiedenheiten gibt. Mr. Dunn wurde von den übrigen Krankenwagenfahrern zurechtgewiesen. Sie erklärten, daß sie diese extreme Ansicht nicht teilten.

SPIEGEL: Denken Sie in diesen dunklen Tagen nicht an 1974 zurück, als Ihre Regierung im Kampf mit den streikenden Bergarbeitern lag und in Großbritannien nur noch drei Tage pro Woche gearbeitet wurde?

HEATH: Der Stillstand geht heute viel weiter, er hat viele Industriezweige und den öffentlichen Dienst erfaßt.

SPIEGEL: Sie würden also dem Kommentar der »Daily Mail« zustimmen, die schrieb: »Man lasse sich nicht dazu verleiten, einfach immer nachzuplappern, es sei jetzt so schlimm, wie es in den letzten Tagen von Edward Heath war. Denn wer nur einen Augenblick nachdenkt, wird erkennen, daß es jetzt ungemein viel schlimmer ist.«

HEATH: Ja, das ist richtig.

SPIEGEL: Britische Politiker und britische Zeitungen belegen Ihr Land mit allen möglichen Schimpfnamen: »Narrenhaus«, »Irrenanstalt«, »Nation am Rande des Abgrunds«. Wie würden Sie die derzeitige Lage der Nation und die Stimmung im Land beschreiben?

HEATH: Ich glaube, daß dieses Land über das, was hier geschieht, sehr bestürzt ist. Es gibt keinen Zweifel, daß große Gruppen der Gesellschaft entschlossen sind, ihre Ansprüche durchzusetzen. Und das tun sie sogar noch über den Rahmen der Macht der Gewerkschaftsführer hinaus.

SPIEGEL: Sollte dann jetzt die grundsätzliche Diskussion über Macht oder Machtmißbrauch der Gewerkschaften stattfinden, die Mrs. Thatcher gefordert hat? Sie haben ja 1974 dem Volk schon einmal die Frage gestellt: »Wer regiert Großbritannien -- die Gewerkschaften oder die Regierung?«

HEATH: Das stimmt, und bei der Wahl im Februar 1974 gab die Nation keine schlüssige Antwort. Die Konservative Partei erhielt mehr Stimmen als die Labour Party, aber aufgrund des Wahlsystems bekam die Labour Party im Unterhaus vier Sitze mehr als wir und wurde so die stärkste Fraktion.

SPIEGEL: Würden denn die Wähler heute eine eindeutige Antwort geben?

HEATH: Niemand kann vorhersehen, wie Wahlen ausgehen. Die Briten haben heute sehr gemischte Gefühle.

SPIEGEL: Sie sind aber noch immer dafür, daß eine Reform das Verhältnis zwischen Industrie, Gewerkschaften und Regierung völlig neu ordnen sollte.

HEATH: Mit dem »Industrial Relations Act« von 1971 hatten wir einen Rahmen für eine solche Neuordnung geschaffen.

SPIEGEL: Dieser Gesetzesvorlage widersetzten sich aber Labour Party und Gewerkschaften erbittert.

HEATH: Ja, und nachdem die Vorlage Gesetz geworden war, wurde dieses Gesetz von den Gewerkschaften weiter bekämpft, insbesondere von der Metaller-Gewerkschaft, die sich sogar weigerte, gerichtlich festgesetzte Strafen zu bezahlen. Daraus folgt, daß

Vor dem Parlamentsgebäude in London.

die Gesellschaft erst einmal zu der grundsätzlichen Anerkennung bereit sein muß: Die von einem demokratisch gewählten Parlament verabschiedeten Gesetze werden befolgt, auch wenn sie einzelnen nicht gefallen.

SPIEGEL: Die britische Gewerkschaftsstruktur ist für manche Mißstände sicher mitverantwortlich. Auf dem Kontinent ist man immer wieder erstaunt, wenn man erfährt, daß sich zum Beispiel der Automobilkonzern British Leyland bei Lohnverhandlungen mit 240 verschiedenen Partnern auseinandersetzen muß, während es ein solches Unternehmen in Deutschland nur mit einem einzigen Partner zu tun hätte. In Großbritannien gibt es über 480 Einzelgewerkschaften, in der Bundesrepublik nur 17. Würden Sie für Großbritannien Gewerkschaften vorziehen, die, wie in der Bundesrepublik, ganze Industriezweige umfassen?

HEATH: Sie in der Bundesrepublik sollten den Briten dankbar sein ...

SPIEGEL: Sind wir.

HEATH: ... vor allem Ernest Bevin, und den Amerikanern. Denn die haben Ihr System der 17 Industriegewerkschaften geschaffen. Nachdem wir das klargestellt haben, drängt sich aber in der Tat die Frage auf: Wie können wir die Zahl der Gewerkschaften in diesem Land verringern und ein Gewerkschaftssystem schaffen, das dem der Bundesrerepublik vergleichbar ist?

SPIEGEL: Ja, wie?

HEATH: Der »Industrial Relations Act« von 1971 sollte unter anderem den Gewerkschaften einen Anreiz geben, sich zu größeren Einheiten zusammenzuschließen. Aber das Gesetz war nicht lange genug in Kraft, um das zu bewirken.

SPIEGEL: Könnte man es denn heute schaffen?

HEATH: Unter normalen Umständen ist das sehr schwierig.

SPIEGEL: Aber dies sind doch keine normalen Umstände mehr.

HEATH: Mit nicht »normal« meine ich die Situation, in der sich die Bundesrepublik in den unmittelbaren Nachkriegsjahren befand. Es ist sehr schwer, die Gewerkschaftsbewegung in Friedenszeiten freiwillig zu einem derart dramatischen Wandel zu veranlassen.

SPIEGEL: Wenn aber wahr ist, was britische Politiker und britische Zeitungen behaupten -- nämlich, daß das Land ein »Tollhaus«, eine »Irrenanstalt« sei und daß irgend etwas geschehen müsse -, ist das denn keine Stimmung, in der ein derartiger Wandel möglich wäre?

HEATH: Innerhalb der Gewerkschaftsbewegung herrscht eine solche Stimmung keineswegs.

SPIEGEL: Der frühere Gewerkschaftsführer Lord Feather, der nach dem Krieg mithalf, die deutschen Gewerkschaften aufzubauen, sagt: »Wenn wir deutsche Gewerkschaften wollen, brauchen wir auch Arbeitnehmer dieser Güte.« Ist der englische Arbeiter denn wirklich so anders? Arbeitet er nicht häufig unter Bedingungen, die ein deutscher Arbeiter gar nicht hinnehmen würde?

HEATH: Natürlich gibt es unterschiedliche Verhaltensweisen, die wohl auf nationalen Eigenarten beruhen. Ich halte nichts davon, den britischen Arheiter herabzusetzen. Wir haben hervorragende Arbeiter. Als ich zum Beispiel das letzte Mal in Hamburg war, wurde mir gesagt, es gebe dort viele britische Werftarbeiter, und die Arbeitgeber versicherten mir, daß die zu ihren besten Arbeitern zählten. SPIEGEL: Das ist bekannt.

HEATH: Ja, wir haben andere Schwächen, die es hei Ihnen nicht gibt. Das heißt, wir investieren pro Kopf des einzelnen Arbeiters nicht soviel wie Sie in der Bundesrepublik, und wir haben in vielen Fällen nicht den hohen Ausbildungsstand wie Sie.

SPIEGEL: Sind das. nicht auch die Ursachen für alte britische Schwächen wie geringe Produktivität und personelle Überbesetzung?

HEATH: Es handelt sich um einen Teil des Problems. Hinter der personellen Überbesetzung steht die langlebige Erinnerung an die 30er Jahre, als wir unter starker Arbeitslosigkeit litten. Die Arbeiter fürchten, sie könnten abgeschoben werden, ohne Aussicht auf einen anderen Job.

SPIEGEL: Dies wäre hei einer expandierenden Wirtschaft nicht der Fall.

HEATH: Deshalb glaube ich und glaubten meine Regierungskollegen 1974, daß wir diese grundlegenden Probleme bei expandierender Wirtschaft lösen könnten. Wenn die Menschen sehen, daß die Zahl der Beschäftigten in einem Betrieb wegen Ineffizienz gesenkt wird, daß aber gleichzeitig neue Betriebe entstehen, in die sie selbst hinüberwechseln können, dann sind sie auch bereit, zu wechseln. Wenn sie dagegen sehen, daß sie sich bei Abbau der Überbesetzung nur in die Arbeitslosenschlange einreiben können, wird der Widerstand natürlich sehr stark. Hohe Produktivität hängt aber natürlich auch von neuer Technologie ab.

SPIEGEL: Da gibt es ein interessantes Beispiel, wie man Dinge in Großbritannien handhabt: Zeitungen investieren hier in neue Bleisetzmaschinen, obwohl ihnen klar ist, daß die technisch völlig veraltet sind. Sie tun das, weil sie sich mit ihren Gewerkschaften nicht über die Anschaffung elektronischer Setzmaschinen einigen können. Bevor die »Times« ihr Erscheinen einstellte, schrieb sie dazu: »Sie könnten sich genauso gut neue Pferdekutschen zur Auslieferung ihrer Zeitungen anschaffen.« Ist das nicht ein Teufelskreis?

HEATH: Das war eine unternehmerische Entscheidung der betroffenen Firma. Ich möchte, daß die Fabriken in diesem Land die allerneueste Technologie einsetzen. Das ist aber nicht nur ein spezifisches Problem für uns, sondern für ganz Europa und Nordamerika. Viele aufstrebende Entwicklungsländer mittlerer Größenordnung wie Brasilien, Mexiko, Südkorea, Singapur, Taiwan oder Hongkong haben heute schon modernere Technologien als wir in Westeuropa. Die Frage ist jetzt, wie es der westlichen Welt gelingt, mit diesen Staaten der Dritten Welt Schritt zu halten. Wir können das historisch erklären ...

SPIEGEL: ... dann fragen sich die Leute auf dem Kontinent, was eigentlich aus den Briten geworden ist, deren Wettbewerbssinn und Erfindungsgabe die industrielle Revolution eingeleitet hatten. Was ist aus ihnen geworden?

HEATH: Ich persönlich hin zutiefst davon überzeugt, daß das britische Volk sich diese Eigenschaften erhalten wird und daß es dieselbe Fähigkeit hat, Hindernisse zu überwinden, wie schon immer in seiner Geschichte. Schließlich sind wir immer nur eine kleine Inselgruppe gewesen. Außer Kohle haben wir nie Bodenschätze besessen. Aneurin Bevan nannte Britannien eine aus Kohle bestehende Insel mit Fischen rundum. Aber wir haben uns eine große Stellung in der Welt geschaffen. Jetzt müssen wir versuchen, unsere Eigenschaften und Fähigkeiten einzusetzen, um die Veränderungen im letzten Teil des 20. Jahrhunderts zu bewältigen.

SPIEGEL: Das scheint den Briten schwerer zu fallen als anderen. Man hat den Eindruck, daß sich Ihr Land dem hohen Tempo, in dem die Dinge sich ändern, nur mühsam und widerstrebend anpaßt.

HEATH: Das liegt zum Teil daran, daß wir in zwei Weltkriegen nicht die gleichen Erfahrungen gemacht haben wie europäische Länder und Japan. Bei uns wurde zum Beispiel nicht alles durch den Krieg zerstört und mit Marshall-Plan-Hilfe wieder aufgebaut. Wir müssen Großbritannien so schnell wie möglich in die moderne Welt führen, sonst verlieren wir das Rennen. Gleichzeitig muß die Veränderung für die große Mehrheit annehmbar sein, die ...

SPIEGEL: ... durch die Gewerkschaften vertreten wird. Ist heute nicht eine Art von militantem Syndikalismus an die Stelle der »Alten Garde der Bruderschaft freundschaftlicher Gesellschaften« getreten, wie die Gewerkschaften in früheren Zeiten genannt wurden?

HEATH: Ich sagte bereits, daß es breite Bevölkerungsschichten gibt, die das Gefühl haben, ihre Ansprüche durchsetzen zu müssen. Dabei sind sie der Kontrolle einzelner Gewerkschaftsführer entglitten.

SPIEGEL: Wilde Streiks werden von den Gewerkschaften mitunter im nachhinein für offiziell erklärt und ganze Betriebe damit stillgelegt, obwohl die Tarifverträge noch gelten. Das scheint fast schon normal zu sein.

HEATH: Solche Dinge kommen vor. Wenn ein einzelner Gewerkschaftsführer sieht, daß ein wilder Streik viel Sympathie genießt, erklärt er ihn für offiziell, um ihn unter Kontrolle zu bekommen. Wir haben aber in den vergangenen Monaten gesehen, daß Streiks selbst auf diese Art nicht mehr zu kontrollieren sind.

SPIEGEL: Als Sie selbst 1974 im Konflikt mit den Gewerkschaften lagen, haben Sie mehr oder minder eine klare Entscheidung gesucht. Mr. Callaghan dagegen scheint einem Konflikt mit den Gewerkschaften auszuweichen. Wenn man auf Ihre Erfahrung von 1974 zurückblickt, muß man dann nicht sagen, daß Callaghans Vorgehen vernünftiger ist? Sie wissen sicher, daß ein altes Sprichwort sagt, ein britischer Premier sollte sich niemals mit dem Papst, den Bergleuten und seinem Schatzkanzler gleichzeitig anlegen?

HEATH: Die britische Geschichte zeigt, daß britische Premiers oder Herrscher mit allen dreien gestritten haben, und zwar sehr erfolgreich.

SPIEGEL: Heinrich VIII.

HEATH: Ja, Heinrich VIII. hatte Erfolg hei seinem Streit mit dem Papst, Mr. Baldwin 1926 mit den Bergarbeitern und Harold Macmillan 1958 mit dem Schatzkanzler. Es kommt darauf an, was auf dem Spiel steht. Mr. Callaghan und seine Regierung haben zu Beginn dieses Tarifjahres gesagt, fünf Prozent Lohnerhöhungen seien das Äußerste, was das Land verkraften könne.

SPIEGEL: Und Sie haben seine Position unterstützt.

HEATH: Wenn Mr. Callaghan sagte, fünf Prozent insgesamt seien das Äußerste, was das Land verkraften könne, hatte er meiner Meinung damit recht. Als die Bergleute 1974 versuchten, unsere Einkommenspolitik zu Fall zu bringen, habe ich das der Nation erklärt und gesagt: »Also gut, jetzt müßt ihr entscheiden.« Jetzt liegt es bei Callaghan zu entscheiden, was er für den ehrlicheren Weg hält -- der Nation die Lage zu erklären, so wie ich es getan habe, oder einfach weiterzumachen und zu sagen: »Sehr schön, ich sitze hier und sehe zu, wie die Inflation steigt und steigt.«

SPIEGEL: Mr. Callaghan hat ja bereits gewarnt, daß höhere Löhne höhere Steuern und Einsparungen im Haushalt nach sich ziehen würden.

HEATH: Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Inflation steigen wird.

SPIEGEL: Trotz alldem haben schon viele Firmen Lohnerhöhungen von über 15 Prozent zugestanden. Offenbar haben sie erkannt, daß sich die Fünf-Prozent-Grenze nicht halten läßt.

HEATH: Die Unternehmer sind in einer schwierigen Lage, denn sie sehen, daß es einen langen Lohnkampf geben wird, wenn sie sich mit den Gewerkschaften nicht einigen. Und da das Geld knapp ist und die Zinsen hoch sind, haben sie nicht die Reserven, einen so langen Kampf durchzustehen.

SPIEGEL: Wenn wir in Deutschland eine Inflationsrate von über acht Prozent und anderthalb Millionen Arbeitslose sowie in einigen Branchen Lohnforderungen bis zu 60 Prozent hätten und dazu noch wilde Streiks in der Industrie und im öffentlichen Dienst. dann gäbe es Aufruhr. Mit Sicherheit würde der Kanzler zur Vermittlung aufgerufen. Sollte der britische Premierminister nicht auch auf diese Art intervenieren?

HEATH: Ich habe bereits gesagt, daß viele dieser Probleme auf nationalen Eigenarten beruhen. Sie in Deutschland hatten in den Jahren zwischen den Kriegen eine gewaltige Inflation. deshalb haben Sie jetzt so große Angst davor. Bei uns ist die Angst vor Arbeitslosigkeit ebenfalls auf die damaligen Erlebnisse zurückzuführen. Sie stehen heute in Deutschland deshalb nicht einer solchen Situation gegenüber. Bei Ihnen erzielen Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften breite Übereinstimmung, was Ihr Land im großen und ganzen verkraften kann. Bei uns dagegen ist jetzt ziemlich offensichtlich geworden, daß Lohnzuwachsgrenzen nicht allgemein hingenommen werden, obschon ohne solche Grenzen die Inflationsrate steigen wird.

SPIEGEL: Die nächsten Wahlen werden hei Ihnen spätestens in acht Monaten abgehalten, da sollten die Gewerkschaften doch politisch allen Anlaß haben, einer Labour-Regierung das Le

* vor den Toren der Londoner Viktoria-Werft.

ben zu erleichtern. Das scheint sie aber derzeit nicht zu kümmern. Ein britischer Kommentator schrieb: »Sie zwangen Mr. Callaghan in die Knie und treten ihn immer noch, jetzt wo er am Boden liegt und fast erledigt ist.« Warum ist das so?

HEATH: Ich bezweifle nicht, daß die Gewerkschaftsführer daran interessiert sind, auch nach den Wahlen eine Labour-Regierung zu haben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber sind sie dem Druck ihrer eigenen Mitglieder ausgesetzt -- und mehr noch als nur dem Druck ihrer eigenen Mitglieder -, die auf diese Weise größere Lohnvorteile herausschlagen wollen. Ebenso sehen sie sich der Tatsache konfrontiert, daß sie diese Entwicklung unter Kontrolle bringen wollten, dabei aber gescheitert sind. Sie können daher unmöglich eine Kehrtwendung machen und sagen: »Dies und das muß geschehen, damit wieder eine Labour-Regierung an die Macht kommt.«

SPIEGEL: Sind die Gewerkschaften nicht auch von Mr. Callaghan enttäuscht?

HEATH: Einige von ihnen meinen wohl, daß Mr. Callaghan kein ganz aufrichtiges Spiel mit ihnen trieb, als er alle in dem Glauben ließ, im September oder Oktober werde es Neuwahlen gehen. Sie hatten sich darauf gerüstet, er setzte die Wahlen dann doch nicht an. Das wirkt sich womöglich auf die Art aus, in der sie den Lohnkampf austragen.

SPIEGEL: Der alte Slogan, nur eine Labour-Regierung verstehe, mit den Gewerkschaften umzugehen, stimmt also nicht mehr?

HEATH: In letzter Zeit hat sich gezeigt, daß die Vorstellung Unsinn ist, zu einer Konfrontation komme es nur unter den Konservativen. Ebenso unsinnig ist die Vorstellung, die Gewerkschaften würden immer den Wünschen einer Labour-Regierung entsprechen. Jetzt ist allen unmißverständlich klar, daß es Probleme gibt, denen sich jede Regierung unseres Landes gegenübersieht, welcher Couleur auch immer.

SPIEGEL: Halten Sie Lohnforderungen, die Aufschläge bis zu 60 Prozent vorsehen, eigentlich für gerechtfertigt?

HEATH: Ich möchte nicht über einzelne Lohnforderungen urteilen, aber selbstverständlich sind Forderungen dieser Höhe überhaupt nicht zu rechtfertigen. Die Frage ist nur, wie man ein solches Problem in den Griff bekomnen kann. Die Gewerkschaften sagen sich ja nicht: »Wir arbeiten in einer Branche, die modernen Erfordernissen nicht mehr entspricht, die Nachfrage geht zurück, darum dürfen wir nicht nit Lohnerhöhungen rechnen.« Für die derzeitige Situation ist doch vielmehr bezeichnend, daß die Menschen glauben, ihren Platz an der Tafel, in der Tischordnung, behalten zu müssen. Und mitunter meinen sie sogar, daß sie in der Tischordnung eins aufrücken müßten.

SPIEGEL: In Deutschland käme niemand auf die Idee, 60 Prozent mehr Lohn zu fordern. Vom Standpunkt des britischen Arbeiters jedoch scheint eine solche Forderung mehr als angemessen, vor allem wenn man bedenkt, daß viele Menschen hier in England mit 45 Pfund in der Woche auskommen müssen. Angesichts steigender Nahrungsmittelpreise könnte sich niemand in Deutschland vorstellen, wöchentlich mit 170 Mark für seine Familie auszukommen, schon gar nicht hei den in England gelegentlich auftretenden Inflationsschüben von 25 Prozent.

HEATH: Bis zu den 60er Jahren mußten viele Menschen in Deutschland mit weniger auskommen.

SPIEGEL: Damals waren die Lebenshaltungskosten aber auch viel niedriger.

HEATH: Während der 60er Jahre begannen die Deutschen, uns und viele andere europäische Nationen zu überholen. Ich habe immer für eine Wirtschaft mit hohen Löhnen und niedrigen Produktionskosten gekämpft. In England haben wir nun leider eine Niedriglohn-Wirtschaft mit hohen Produktionskosten -- genau das Gegenteil von dem, was ich mir wünsche. Das fundamentale Problem besteht darin, wie wir hohe Löhne bei kostengünstiger Produktion erreichen. Leider wird überhaupt nicht begriffen, daß man sich diesem Ziel nicht einfach durch eine Lohn-Inflation nähern kann.

SPIEGEL: Wie soll dieses Ziel wohl. erreicht werden?

HEATH: Die einzige Antwort ist: Eine starke Erhöhung der Produktivität. Das bedeutet, daß wir mehr Investitionen brauchen, bessere Ausbildung und mehr Technologie, und dann müßten wir noch genug Unternehmergeist entwickeln, um den Markt für uns zu erobern ...

SPIEGEL: ... und zuverlässiger zu liefern. Der britische Ford-Direktor Ramsey klagte: »Die britischen Streikgewohnheiten verursachen weit mehr Schaden als in irgendeiner anderen fortschrittlichen westlichen Industrienation, weil sie unvorhersehbar sind und den Ruf Großbritanniens ruinieren, ein zuverlässiger Warenlieferant zu sein.«

HEATH: Natürlich, eine gewaltsame Unterbrechung der Industrieproduktion hat solche Folgen. Wenn es zu Verzögerungen kommt, wenden sich unsere Kunden von uns ab.

SPIEGEL: Inwieweit war denn die britische Industrie in der Lage, die Chancen zu nutzen, die der Gemeinsame Markt ihr bietet?

HEATH: Einige Industriezweige haben sie genutzt, sogar erfolgreich, meine ich, die chemische Industrie etwa. Anderen Industriezweigen ist das nicht gelungen. Eine unserer großen Enttäuschungen war, daß unsere Automobilindustrie in Europa nicht zum Zuge gekommen ist.

SPIEGEL: Sie hatten erwartet, sie werde auf diesem großen Markt gute Geschäfte machen?

HEATH: Als wir der EG beitraten, hatten wir diese Hoffnung.

SPIEGEL: Mr. Heath, als Sie Großbritannien in die EG führten, schien dies eine endgültige Entscheidung zu sein. Aber in beiden politischen Lagern, besonders der Labour-Partei, steigt die Abneigung gegen die EG -- um es milde auszudrücken -- ständig. Etliche britische Politiker wollen sogar, daß Großbritannien wieder austritt.

HEATH: Wir wollen zunächst einmal den ersten Punkt klarstellen: Die Entscheidung, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten, wurde ein für allemal getroffen. Sie wurde durch das Referendum im Verhältnis zwei zu eins bestätigt. Teile der Labour-Regierung und der Labour-Abgeordneten im Unterhaus haben allerdings die Entscheidung von Parlament und Volk niemals akzeptiert.

SPIEGEL: Hat das den Prozeß der Integration Großbritanniens in die EG verlangsamt?

HEATH: Diejenigen im Labour-Kabinett und in der Labour-Partei, die »Ja« gesagt hatten, wurden behindert -- besser gesagt: gelähmt. Sie waren nicht mehr in der Lage, in der Gemeinschaft die Initiativen zu ergreifen, die wir eigentlich hätten ergreifen müssen, oder unseren eigenen Beitrag zum Leben der Gemeinschaft zu leisten.

SPIEGEL: Und die Anti-Europäer in der Labour-Partei machen die EG für alles verantwortlich, was schiefgeht.

HEATH: Ja, und in vielen Fällen machen sie das ganz skrupellos. Außerdem bin ich der Auffassung, daß die Art und Weise, wie sie sechs Monate lang den Vorsitz im EG-Ministerrat führten, jämmerlich war. Ich meine jetzt nicht die Beamten, denn die haben ausgezeichnet gearbeitet, ich glaube, daß sie die Arbeit im Apparat der Gemeinschaft ständig verbessert haben. Aber unsere Minister haben während ihrer EG-Amtszeit als Vorsitzende des Ministerrats und der Ausschüsse sehr viel Schaden angerichtet.

SPIEGEL: Das ist innerhalb der EG bekannt. Es ist wohl müßig, Sie zu fragen, ob Sie Großbritannien noch einmal in die EG führen würden, wenn Sie diese Entscheidung noch einmal treffen könnten. Würden Sie aber auch ein zweites Mal den gleichen Bedingungen zustimmen?

HEATH: Ja. Ich glaube, daß wir damals die für Großbritannien bestmöglichen Vereinbarungen ausgehandelt haben, führende Mitglieder der damaligen Opposition waren der gleichen Auffassung und haben das auch gesagt.

SPIEGEL: Dann war sich also damals jeder im klaren, daß die Lebensmittelpreise steigen würden?

HEATH: Ja, wir haben das sehr sorgfältig überprüft und zugestanden. Aber auch das wurde von den Anti-Europäern in der Öffentlichkeit verzerrt dargestellt. Teilweise bekamen wir während der weltweit schwierigen Versorgungslage ...

SPIEGEL: Als der Zucker knapp wurde ...

HEATH: ... sogar billigere Lebensmittel aus der Gemeinschaft als von Ländern außerhalb der EG.

SPIEGEL: Aber darüber wurde hier in Großbritannien wenig berichtet.

HEATH: Aus diesem Grunde sage ich ja auch, daß die Regierung keinen der Vorteile unseres Beitritts zur EG herausgestellt hat -- eben aufgrund ihrer anti-europäischen Einstellung.

SPIEGEL: Vom Kontinent aus gesehen erscheint die öffentliche Meinung in Ihrem Lande oft genug verwirrend. Im gleichen Atemzug, da die Briten ihr Land als »Irrenhaus« bezeichnen, verteidigen sie England oft erbittert als ein Land mit einer Lebensqualität, die angeblich weit über der anderer Länder liegt, als ein Land, in dem die Menschen freundlicher seien und das Gras grüner als anderswo, und so weiter.

HEATH: Das sagen doch meistens die Amerikaner, und wenn man etwa aus dem Stadtzentrum von Cleveland kommt, dann stimmt das ja sogar. Die Amerikaner sagen, die Briten müßten eigentlich die glücklichsten Menschen der Erde sein, weil sie nicht vorankommen, nicht voranzukommen brauchen und es sogar genießen, nicht voranzukommen. In Deutschland haben Sie Angst, alles sei so gut.

SPIEGEL: ... daß es nicht länger dauern könne?

HEATH: Daß es nicht länger dauern könne.

SPIEGEL: Großbritanien kann dagegen hoffen, daß alles nur noch besser wird. Wie wird denn Großbritannien Ihrer Meinung nach in den nächsten zwei, drei Jahren aussehen? Wird es noch weiter absteigen, vergleichbar etwa jenem Spanien, in dessen Reich die Sonne auch nicht unterging, das aber heute politisch eine drittklassige Macht ist? Oder wird es Großbritannien wieder bessergehen, nachdem es ihm schlechter gegangen ist?

HEATH: Ich verbringe meine Zeit nicht damit, in den Sternen zu lesen. Ich versuche, unsere Probleme zu analysieren, damit wir sie angesichts unserer Geschichte und unserer Tradition mit unseren charakteristischen Eigenschaften lösen können und unsere Entwicklung in die Richtung lenken, die ich mir für Großbritannien wünsche.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß Großbritannien seine Lage meistern kann?

HEATH: Ja.

SPIEGEL: Mr. Heath, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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