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JAPAN Die Größten

Computer, Roboter, Magnetschwebebahn - auf ihrer »Wissenschaftlichen Expo '85« wollen die Japaner »am Horizont das 21. Jahrhundert sehen«. Doch sie sehen vor allem die eigene Größe. *
aus DER SPIEGEL 12/1985

In der verschlafenen Provinzstadt Tsukuba, nordöstlich von Tokio gelegen, hat die Zukunft bereits begonnen. Eine schöne neue Welt, bonbonfarben bunt, haben Architekten und Techniker hier aufgebaut, in der futuristische Träume greifbare Wirklichkeit geworden sind:

Die »Wissenschaftliche Weltausstellung, Tsukuba Expo '85«, die am vergangenen Wochenende eröffnet wurde, ist Japans jüngste und größte Publikumsattraktion, ernsthafter Konkurrent des nicht weit entfernten »Tokyo Disneyland«.

Mindestens jeder fünfte der 120 Millionen Japaner wird in den nächsten sechs Monaten die Zukunftswelt der Expo bestaunen; vielleicht werden es sogar, schätzen die Veranstalter, bis zu 40 Millionen Besucher. Die Tsukuba-Expo zeigt, reißerisch grell, wie weit es die Menschheit gebracht hat - vor allem die japanische.

Wahrzeichen der Expo ist ein Riesenrad, symbolträchtige 85 Meter hoch, das größte der Welt. »Von dort oben«, sagt der Expo-Produzent Tomokazu Sakamoto, »kann man vielleicht am Horizont das 21. Jahrhundert sehen.«

Es wäre, ginge es nach dem Weltbild der Aussteller, eine sozial konfliktfreie Ära, umstellt und eingebunden von den technischen Geräten der Expo-Generation, beherrscht vor allem von Robotern.

Sensationen der Expo '85, zusammengefaßt, sind Elemente eines denkbaren häuslichen Environments einer Durchschnittsfamilie, in Japan hieße sie wohl Sato, anno 2010:

Frau Sato sitzt am zentralen Haushaltsschaltpult in der Küche; sprechende Computer erledigen ihre Arbeit, vom Überwachen der Speisezubereitung bis zur Identifizierung eventueller Besucher an der Haustür, allein nach der Intensität des Klingeldrucks. Frau Sato hat Appetit auf Obst: Sie pflückt vom erdlos wachsenden Baum, der vom Dach aus durch ein Glasfiberkabel mit Sonnenlicht gespeist wird, eine Frucht. (Der auf der Expo vorgestellte erdlose »Kunstbaum« trägt tatsächlich 12 000 Tomaten.)

Im Wohnzimmer spielt der Hausroboter auf dem Klavier Chopin - nicht programmiert, der Roboter liest die Noten vom Blatt. Ein zweiter Roboter macht derweil das Zimmer sauber. (Eine Schule in Chiba hat bereits angefragt, ob sie diesen hilfreichen Hausgeist nach der Expo zur Reinigung ihrer Turnhalle bekommen könne.)

Eine Magnetschwebebahn bringt Herrn Sato, den prototypischen Geschäftsmann des Jahres 2010, mit einer Geschwindigkeit von 350 Stundenkilometern in die Innenstadt. Dort, auf freiem Platz, bei hellem Sonnenlicht, führt ihm ein gigantischer Fernseh-Monitor die große weite Welt in Nachrichten und Filmen vor. (Der vom Elektronik-Riesen Sony entwickelte und erstmals für Tsukuba gebaute Freilicht-TV-Bildschirm mißt 25 mal 40 Meter - größer als drei Tennisplätze.)

Tochter Sato hat gerade zwei Minuten lang ihrem Roboter Modell gesessen - ihr Konterfei in zarten Pinselstrichen hat die Maschine bereits fertig. Nachdem sie sich dann noch eine Weile am dreidimensionalen Fernsehen ergötzt hat, ohne daß sie eine lästige Spezialbrille aufzusetzen hätte, betreibt sie praktischen Biologieunterricht: Wie sieht ein Hund diese Welt? Ein Computer gaukelt ihr vor, sie blicke wie das Tier - aus niedriger Perspektive, in ein leicht verschwommenes, auf den Nahbereich beschränktes Umfeld in Schwarzweiß.

Das kommt bei den japanischen Besuchern an. Roboter begeistern sie; in Computern sehen sie das Heil für die Zukunft. Die »größte wissenschaftliche Ausstellung der Geschichte« (Asahi Shimbun) soll einem Millionenpublikum

eindrucksvoll vorführen, von welcher Größe japanischer Geist ist.

»Mit der Tsukuba Expo '85«, sagt Hermann Schunck, Wissenschaftsreferent der Deutschen Botschaft in Tokio, »feiert Japan sich selbst« - auch wenn sie vorgibt, eine Weltausstellung zu sein. Zwar hatte die japanische Regierung 161 Länder eingeladen, in Tsukuba auszustellen, doch nur 48 Länder nehmen teil.

Den eher bescheidenen Pavillons mit Länderschauen steht ein überwältigendes Aufgebot des Gastgebers gegenüber: Fünf protzige Gebäude, gestaltet von der Tokioter Regierung; 28 Ausstellungshallen japanischer Firmen und -gruppen, die sich jeden Pavillon zwischen drei und fünf Milliarden Yen (bis 65 Millionen Mark) haben kosten lassen.

Da kommt dem Ausland lediglich eine Statistenrolle zu: Nippons Computer gegen den Rest der Welt.

Eine Schau wie in Tsukuba, meint der für die Expo zuständige Wissenschaftsminister Reiichi Takeuchi, »bietet die Gelegenheit zu zeigen, wie fortgeschritten japanische Technologie und Wissenschaft sind«. Das ist keine Ironie: »Verglichen mit der Technologie aus anderen Ländern ist die japanische neu und gut«, sagt der Minister.

Die Konkurrenz scheint zu resignieren. »Wir standen vor der Wahl«, sagt Hermann Schunck, »entweder gar nicht in Tsukuba teilzunehmen und so das Feld kampflos den Japanern zu überlassen, oder uns hier als kleiner Sparring-Partner zur Verfügung zu stellen.«

Ein Campingwagen kündet im Pavillon von deutschem Drang ins Grüne, Motor- und Schlauchboot daneben bestätigen dies. Da darf eine Surf-Ausrüstung natürlich auch nicht fehlen. Gegenüber ist der Winter dran: Neue Skibindung und Rodelschlitten sollen staunen machen, ebenso, wie Pavillon-Chef Alfred Kührer stolz anmerkt, »der deutsche Olympia-Bob«. Medaillen hat er nicht gewonnen, aber schön bunt ist er.

Vor solchen braven Ausstellungsstücken kann sich Nippons futuristische Glorie erst so richtig entfalten.

Ein Vertreter der deutschen Wirtschaft in Tokio vermutet dunkle Machenschaften: »Es ist nicht auszuschließen, daß wir mit einem falschen Motto für die Expo irregeführt wurden.« Das offiziell auf Englisch herausgegebene Thema für Tsukuba lautet »Umwelt und Wohnstätten - der Mensch zu Hause«. Da ist dann eben Freizeit angesagt. Auf japanisch aber, in Kurzform: Mensch, Welt und Technologie.

Zumindest in den Vereinigten Staaten scheint es Übersetzer zu geben, die des Japanischen mächtig sind. Die USA stellen sich mit einer wirklich zukunftsweisenden Ausstellung und Show über die »Entwicklung künstlicher Intelligenz« vor.

Da sind die USA im High-Tech-Bereich den Japanern deutlich überlegen. Kazuo Iga, Entwicklungschef beim Elektronikkonzern Matsushita, läßt gleichwohl keinen Schatten auf Nippons Herrlichkeit fallen: »Wieso sollen die Amerikaner weiter sein als wir? Mit unserer Entwicklung der fünften Computer-Generation haben wir die anderen doch erst darauf gebracht, über 'künstliche Intelligenz' nachzudenken.«

Jahrzehntelang hat die Welt sich über die Japaner mokiert: Sie seien zwar ein altes Kulturvolk, aber zu originären Leistungen nicht fähig, ein Spätkömmling unter den Industriestaaten, bei denen sie schamlos kopierten.

Die Japaner haben sich durch Schmäh nicht beirren lassen. Für sie gab es nur ein Ziel: den Westen einholen und überholen. Sie hatten, meinten sie, das Zeug dazu: »Um ausländische Technologie in kurzer Zeit zu absorbieren«, erkennt der Tokioter Ökonom Takeuchi, »braucht man zwei Dinge: glühenden Nationalismus und tiefen Respekt für die anderen.«

Am Nationalismus hat es in Nippon nie gemangelt - und die technischen und wirtschaftlichen Erfolge waren beeindruckend.

Noch keine fünf Jahre ist es her, da schlug denn auch die Stimmung im Ausland um: Aus Herablassung wurde Bewunderung. Plötzlich wurde Japan zu einem Modell erklärt, das, so der Untertitel eines Buches des Harvard-Professors Ezra Vogel, »Lektionen für Amerika« und Europa zu erteilen habe. Ausländische Medien wurden nicht müde, den Japanern vorzuhalten, sie hätten es nun geschafft, sie seien die Größten.

Das Trommelfeuer des Lobes hat Wirkung gezeigt: Jetzt glauben viele Japaner auch selbst, daß sie die Besten der Welt sind. »Nicht einmal mehr unter den Intellektuellen gibt es laute kritische Stimmen«, sagt Professor Yoshikazu Ikeda in Nagoya, »die diesen überschnappenden Nationalismus verurteilen. Die Japaner sind in sehr kurzer Zeit erschreckend arrogant geworden.«

Nippon protzt mit Superlativen: das größte Planetarium der Welt (knapp 26 Meter Durchmesser) - Japaner haben es für die Expo gebaut; die größte Laser-Sonnenuhr der Welt - japanisch, auf der Expo; die schnellste Magnetschwebebahn - natürlich eine japanische. Das Wissenschaftsministerium in Tokio meint, in der Verkehrstechnologie der Zukunft sei Japan jetzt und fürderhin der ganzen Welt um Längen voraus. Die Leistungen der anderen werden nun kaum noch gesehen.

Im bundesdeutschen Pavillon steht in einer Nische ein Modell der Magnetschwebebahn »Transrapid« - »mindestens zehn Jahre in der Entwicklung weiter als die Japaner«, urteilt Hermann Schunck von der deutschen Botschaft. Überdies: Der japanische Zug wurde nach deutschen Patenten entwickelt.

Nur wenige Japaner sind noch bereit, solch Einwänden selbstkritisch Gehör zu schenken. Leo Esaki, japanischer Nobelpreisträger für Physik, gilt denn auch als eine Art Nestbeschmutzer: Er wirft seinen Landsleuten vor, sie litten an einem »Erst handeln, dann denken«-Syndrom. Esaki: »Wir haben uns bis jetzt durchgeschlagen mit unserer Cleverness, fertige Technologien aufzugreifen und zu verbessern.« Das wird sich kaum ändern, denn: »Japans Unproduktivität bei der Forschung, die kreatives Denken verlangt, hängt mit seiner Unfähigkeit zusammen, den Wert neuer Ideen zu erkennen.«

So wird denn auch Japans Aufbruch in die glorreiche technisch-wissenschaftliche Zukunft hin und wieder durch profane Mißhelligkeiten der Gegenwart gebremst:

Mindestens zehn Millionen Expo-Besucher, schätzen die Ausrichter, werden mit der Bahn nach Tsukuba anreisen. Also wurde an der bestehenden »Joban-Linie« von Tokio ein provisorischer Expo-Bahnhof gebaut - allerdings hat er nur zwei Bahnsteige, auf denen nun, unvorstellbar, täglich bis zu 200 000 Menschen stehen werden.

Obendrein liegt der Bahnhof immer noch 13 Kilometer vom Gelände der Weltausstellung entfernt. Diese Strecke müssen die Besucher per Bus zurücklegen. Nippons herkömmliche, kleine, enge Busse wären überfordert. Also mußten Großraum-Gelenkbusse her, mindestens 100 Stück, mit einem Fassungsvermögen von je 160 Fahrgästen. Die Busse importierte Tokio aus Schweden.

Japanische Firmen, die die Busse gern selbst gebaut hätten, mußten bei Regierungsanfrage passen: Den Japanern fehlt das Know-how für die Busgelenke.

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