Zur Ausgabe
Artikel 23 / 97

»Die großen Täter packen«

aus DER SPIEGEL 17/1991

SPIEGEL: Herr Präsident, ein halbes Jahr nach der Wiedervereinigung versinkt nicht nur die Wirtschaft der Ex-DDR im Chaos - auch die Justiz steht vor dem Bankrott. Die Deutschen hüben und drüben sind vor dem Gesetz nicht gleich, wie die Verfassung es vorschreibt, sondern Bürger erster und zweiter Klasse. Wann gilt die Verfassung in ganz Deutschland?

HERZOG: Wenn es nur um die Regeln ginge, wäre der einheitliche Verfassungsstaat schon heute vorhanden. In den fünf neuen Ländern gilt grundsätzlich die gleiche Gesetzesordnung wie in der alten Bundesrepublik - jedenfalls formal. Praktisch, da gebe ich Ihnen recht, liegt allerdings noch vieles im argen. Der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates vollzieht sich nicht über Nacht. Die Rechtspolitiker und die Richter stehen da noch in den Startlöchern. Deshalb werden wir uns eine geraume Zeit lang damit abfinden müssen, daß insbesondere der Rechtsschutz für die neuen Bundesbürger keineswegs westdeutschen Maßstäben entspricht.

SPIEGEL: Was heißt »geraume Zeit«?

HERZOG: Ich bin nicht der zuständige Mann und habe daher auch keine präzisen Vorstellungen, wie schnell sich der Aufbau entwickeln wird, aber ich würde _(* Mit Redakteuren Rolf Lamprecht und ) _(Werner Funk. ) auf alle Fälle mal mit drei bis vier Jahren rechnen.

SPIEGEL: Herr Bräutigam, Justizminister in Brandenburg, hat unlängst gesagt, in seinem Land sei »vieles nicht ganz grundgesetzkonform«. Wie kann der oberste deutsche Verfassungshüter damit leben?

HERZOG: Er wird unter Zwang und voller Ungeduld damit leben müssen. Aber er erinnert sich auch genau an die Zeit nach der Verabschiedung des Grundgesetzes, etwa an das allmähliche Entstehen einer funktionstüchtigen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Was wir heute ganz selbstverständlich als Standard einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit betrachten, ist auch bei uns erst im Laufe von einigen Jahren verwirklicht worden. Meine Ungeduld wird deshalb wohl noch einige Zeit andauern.

SPIEGEL: Puristen sagen, ein bißchen Rechtsstaat ist genauso wenig möglich wie ein bißchen Schwangerschaft.

HERZOG: Bei einer Schwangerschaft gibt es wirklich nur ja oder nein, ein Rechtsstaat entsteht Schritt für Schritt. In meinen Augen hinkt der Vergleich.

SPIEGEL: Vorläufig stehen die Grundrechte weitgehend auf dem Papier. Ob sie tatsächlich greifen oder nicht, erweist sich, wenn es zu Konflikten kommt - und über die müssen effiziente Behörden und Gerichte entscheiden. Sehen Sie diese Institutionen oder Instanzen?

HERZOG: Nein, im Augenblick nicht, insbesondere weder eine Verwaltungsnoch eine Arbeitsgerichtsbarkeit. Am allerwenigsten sehe ich eine rechtsstaatliche Verwaltung - und deren Fehlen ist besonders folgenschwer. Wenn Bürger hier in Karlsruhe Prozesse verlieren, dann zumeist deshalb, weil gut ausgebildete Beamte und Richter von sich aus schon auf die strikte Einhaltung der Grundrechte geachtet haben.

SPIEGEL: Und davon kann in den neuen Bundesländern auf absehbare Zeit nicht die Rede sein.

HERZOG: Gerichte, die den Staat zur Ordnung rufen, hat es bislang dort überhaupt nicht gegeben. Die müssen erst Stück für Stück aufgebaut werden - klar, daß hier noch ein erhebliches Defizit besteht.

SPIEGEL: Die Zahl der Arbeitsgerichtsverfahren hat sich im letzten Jahr verzehnfacht, die Gerichte sind hoffnungslos überfordert. Was passiert, wenn ein entlassener Arbeitnehmer drei Jahre auf sein Urteil warten muß?

HERZOG: Das Bundesverfassungsgericht, vor allem aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, stellen relativ strenge Anforderungen an die zulässige Dauer eines Verfahrens. Andererseits: Man kann einem nackten Mann nicht in die Tasche fassen. Vorläufig ist eine gewisse Toleranz angesagt. Ein Prozeß, der Jahre dauert, wäre in der alten Bundesrepublik natürlich sehr viel bedenklicher als in einer Region, die das alles erst aufbauen muß.

SPIEGEL: Was halten Sie von der Idee, das für die Rechtsprechung verhängnisvolle Defizit an Richtern im Osten durch die Verpflichtung von pensionierten Richtern aus dem Westen auszugleichen?

HERZOG: Ich halte das für eine gute Lösung. Sie hat zudem den Vorteil, daß auf diese Weise vermieden wird, Personalentscheidungen übers Knie zu brechen und teure Fehlentscheidungen zu vermeiden. Wer ernannt wird, bleibt normalerweise oft 30 bis 35 Jahre im Amt. Wenn alte Herren für eine Übergangszeit die Arbeit erledigen, besteht wenigstens die Möglichkeit, mit dem _(* Oben: auf dem Dachboden des ) _(Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte; ) _(unten: an der baden-württembergischen ) _(Verwaltungsfachschule in Haigerloch. ) Nachwuchs eine weitsichtige Personalpolitik zu betreiben.

SPIEGEL: Das quantitative Problem ist damit nicht gelöst.

HERZOG: Richtig, aber ich sehe kaum einen anderen Weg. Richter, die an unserer Rechtsordnung orientiert sind, müssen erst ausgebildet und rekrutiert werden. Das dauert mindestens zwei bis drei Jahre. Diese Notzeit mit Pensionären zu überbrücken, ist nicht die dümmste aller denkbaren Lösungen.

SPIEGEL: Die Juristenausbildung in der Bundesrepublik gehört zu den längsten in der Welt. Sollen die Neuen im Osten in einem Crash-Kurs von zwei Jahren schaffen, wofür die alten im Westen acht Jahre benötigen?

HERZOG: Zunächst einmal muß sichergestellt werden, daß der Bürger mit einem Prozeß, den er anstrengt, in angemessener Zeit zu Stuhle kommt. Für eine Übergangszeit darf man eben nicht, wie im Westen, sieben oder acht Jahre Ausbildung fordern - was im übrigen ohnehin zu lang ist.

SPIEGEL: Werden die Urteile solcher Behelfsrichter Bestand haben - in einer Rechtsordnung, die so kompliziert und anspruchsvoll ist wie unsere?

HERZOG: Warum nicht? Ich bin da anderer Ansicht als viele meiner Kollegen. Die Entscheidung eines Amtsrichters gewinnt nicht unbedingt an Qualität, wenn er alle einschlägigen Kommentarstellen mehrfach und zutreffend zitiert. Ein Richter, der Kläger und Beklagte zu Wort kommen läßt, der in seiner Begründung deutlich macht, worum es tatsächlich geht, und der am Schluß eine nachvollziehbare Abwägung vornimmt - so ein Richter ist in der unteren Instanz keineswegs fehl am Platz. Natürlich muß auch sein Urteil am Recht gemessen werden. Doch dazu sind die Rechtsmittelgerichte da.

SPIEGEL: In den nächsten Monaten sollen alle Richter und Staatsanwälte der ehemaligen DDR auf ihre Eignung überprüft werden, viel später als vorgesehen. Was kann dabei herauskommen - eine Bestenauslese oder eine Neuauflage der mißglückten Entnazifizierung?

HERZOG: Ich hoffe mit allem Nachdruck, daß es keine Neuauflage der Entnazifizierung wird. Für das Mißtrauen, das viele Bürger den Richtern des alten Systems entgegenbringen, habe ich volles Verständnis. Andererseits kann sich niemand eine Gerichtsbarkeit wünschen, die nur noch aus Wessis besteht. Eine »Kolonialjustiz«, von der hier und da geredet wird, darf es nicht geben. Deswegen würde ich bei der Beurteilung der bisherigen Richter einen Mittelweg einschlagen.

SPIEGEL: Welche Prioritäten muß der Staat beim Aufbau einer funktionstüchtigen Justiz setzen?

HERZOG: Die Prioritäten ergeben sich aus den Grundrechten. Sie sind Richtlinien jeden richterlichen Handelns. Um nur einige Beispiele zu nennen: Jeder muß sich gegen eine Behörde, von der er meint, daß sie ihn ungerecht behandelt hat, vor Gericht zur Wehr setzen können. Und: Das rechtliche Gehör ist unabdingbar. Das heißt: Jeder Bürger muß mit seinen Argumenten im Laufe des Verfahrens zu Wort kommen.

SPIEGEL: Ein Bürger, der gegen den Verlust seines Arbeitsplatzes oder seiner Wohnung klagt, muß eine Instanz nach der anderen absolvieren. In Karlsruhe wird er frühestens um das Jahr 2000 zum Zuge kommen. Ist das nicht so etwas wie Rechtsverweigerung?

HERZOG: Ja, auf jeden Fall. Wir müssen daher von Fall zu Fall prüfen, welche Fristen dem Bürger noch zuzumuten sind. Denkbar ist, daß einer schon nach der ersten Instanz zum Bundesverfassungsgericht kommt und sagt: Dieses Verfahren dauert zu lange, hier werden Grundrechte verletzt. Oder er trägt vor: Ich greife kein Gerichtsurteil an, sondern das Gesetz, aufgrund dessen die Entscheidung ergangen ist.

SPIEGEL: Das heißt: Sie würden Ihre bisherige Rechtsprechung, wonach der Rechtsweg erst erschöpft sein muß, bevor einer die höchste Instanz anrufen darf, möglicherweise relativieren?

HERZOG: Es kann sein, daß sich das in besonderen Fällen als notwendig erweist . . .

SPIEGEL: . . . weil die neue Justiz vor der kaum lösbaren Aufgabe steht, 40 Jahre SED-Unrecht zu bewältigen. Opfer wollen rehabilitiert, Täter sollen zur Verantwortung gezogen werden, auch solche - seien es Mauermörder, seien es Denunzianten -, die am Ende juristisch vielleicht gar nicht zu fassen sind. Kann die Justiz diese Mammutarbeit überhaupt leisten?

HERZOG: Sie kann es so gut und so schlecht, wie uns die Vergangenheitsbewältigung nach 1945 gelungen oder mißlungen ist.

SPIEGEL: Also nicht.

HERZOG: Zumindest sehr schwer.

SPIEGEL: Angeblich gibt es bereits hunderttausend Anträge auf Rehabilitierung.

HERZOG: Ich kann mir da auch globale Lösungen vorstellen. Eindeutig politische Urteile müssen per Gesetz kassiert werden. Problematisch sind die Fälle, in denen mit normalen Strafparagraphen Politik gemacht worden ist.

SPIEGEL: Der Flüchtling als Paßfälscher?

HERZOG: Beispielsweise, aber auch Fälle, in denen falsche Zeugen aufgetreten sind - oder in denen gar nicht erst Beweis erhoben wurde, weil das Urteil von vornherein feststand.

SPIEGEL: Die müßten alle wieder aufgerollt werden?

HERZOG: Versetzen Sie sich in die Lage der Verurteilten.

SPIEGEL: Und was geschieht mit denen, die auf andere Weise Opfer des Systems geworden sind - den Abiturienten, die nicht studieren durften, den Denunzierten, denen der Berufsweg verbaut wurde? Ist das überhaupt justiziabel?

HERZOG: Natürlich, aber das ist blanke Theorie. Alle Beweise werden fehlen.

SPIEGEL: Die Zahl der Täter ist womöglich größer als die der Opfer; allein die Stasi beschäftigte rund anderthalb Millionen Mitarbeiter und Zuträger. Sollen die alle vor Gericht?

HERZOG: Man sollte nicht die Fehler aus der Zeit nach 1945 wiederholen. Damals wurde jeder kleine PG verfolgt, die Großen konnten sich verkrümeln. Ich würde diesmal oben anfangen, die großen Täter packen, bei den Kleinen ein Auge zudrücken. Rachegefühle sind eine verständliche Regung, aber es ist nicht Aufgabe der Justiz, ihnen nachzugeben.

SPIEGEL: Wann wird die Autorität des Rechtsstaats mehr beschädigt - durch Bankrotterklärung am Anfang, etwa durch Amnestie, oder durch Bankrotterklärung am Ende, wenn Verfahren eingestellt werden, weil die Beweise fehlen oder die Vorwürfe verjährt sind?

HERZOG: Eine Amnestie, die auch große Täter laufen läßt - solche, die beispielsweise Menschen mißhandelt oder in den Tod getrieben haben -, würde die Rechtsordnung mit Sicherheit bis in ihren Kern treffen. Wenn die Großen in exemplarischen Prozessen abgeurteilt werden, würde eine Amnestie den Rechtsstaat nicht beeinträchtigen.

SPIEGEL: Ein frommer Wunsch.

HERZOG: Mag sein. Doch eine Grenze zwischen der Sekretärin beim Staatssicherheitsdienst und dem Gefängnisdirektor in Bautzen müßte sich ziehen lassen.

SPIEGEL: Sie haben 1988 vor dem Bundestag, um die Einheit zu beschwören, in einer Festrede zum 17. Juni von »dem Volk, in das man hineingeboren ist«, gesprochen. Die Mehrheit der DDR-Bürger ist in den SED-Staat hineingeboren worden. Was folgt daraus?

HERZOG: Ich habe von dem, was ich 1988 gesagt habe, keine Abstriche zu machen. Die Bürger in der ehemaligen DDR wollten den Beitritt zur Bundesrepublik. Doch der Unterschied zwischen den beiden Systemen wird sich noch viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte lang, bemerkbar machen. Das beginnt mit der Art zu reden, mit der unterschiedlichen Verwendung von Begriffen unserer gemeinsamen Sprache, und es endet bei den Erfahrungen mit der Wirtschaft. Denken Sie nur an die Arbeitslosigkeit, die jeweils anders verstanden und empfunden wird. Vieles wird sich schnell abschleifen, manches jedoch lange überdauern. Ich behaupte: Es wird noch in 20 Jahren Fälle geben, in denen man nach einer Stunde angeregter Diskussion merken kann, welcher Gesprächspartner in der DDR und welcher in der alten Bundesrepublik aufgewachsen ist.

SPIEGEL: Laut Artikel 146 verliert das Grundgesetz »seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist«. Muß das Grundgesetz, das nie von den Bürgern bestätigt wurde, durch Volksabstimmung legitimiert werden?

HERZOG: Das ist eine politische Frage. Jede Antwort - egal, wie sie ausfällt - wird mir den Vorwurf der Amtsüberschreitung einbringen. Aber ich sage mal: Ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn die Bürger über die Verfassung abstimmen.

SPIEGEL: Im Einigungsvertrag ist vereinbart, daß die gesetzgebenden Organe in den nächsten zwei Jahren über diese Frage entscheiden sollen.

HERZOG: Ich habe gelernt, daß eine demokratische Verfassung zustande kommt, indem das Volk eine verfassunggebende Versammlung wählt und diese eine Verfassung ausarbeitet oder daß diese irgendwo, etwa in Bundestag und Bundesrat, ausgearbeitet wird und nach einer Volksabstimmung in Kraft gesetzt wird. An diesem Defizit krankte das Grundgesetz bisher. Wenn ich das sage, bekomme ich allerdings wahrscheinlich wieder böse Briefe aus dem Bundestag. Die einen werden schreiben, ich hätte die Grenzen meines Amtes überschritten, die anderen, ich hätte zwar recht, aber ich hätte es nicht sagen sollen.

SPIEGEL: Unterstellt, es würde zur Abstimmung kommen - sollte das Grundgesetz bei dieser Gelegenheit durch Bestimmung von Staatszielen ergänzt werden?

HERZOG: Mich stört nicht erst seit heute, daß im Grundgesetz zwar ein Staatswesen konstituiert, aber an keiner Stelle gesagt wird, was damit eigentlich geschehen soll. Das ist so, als würde man einem grünen Männchen, das vom anderen Stern kommt, ein Auto erklären, indem man auf die Räder, das Lenkrad und das Gaspedal verweist, aber zu sagen vergißt, daß der Apparat eigentlich zum Fahren erfunden worden ist. Im Ernst: Ich würde Auskünfte über das Staatsziel für sinnvoll und systemgemäß halten, dann aber für alle - Grundrechte, Sozialstaat, Rechtsstaat, Umweltschutz . . .

SPIEGEL: . . . auch ein Grundrecht auf Arbeit?

HERZOG: Weiter gefaßt, sogar Stabilität und Wachstum sollten ins Visier genommen werden, das schlösse Währung, Beschäftigung, Arbeitsmarkt und Außenhandelsbilanz mit ein.

SPIEGEL: Und das alles sollte einklagbar sein?

HERZOG: Um Gottes willen, nein. Unter keinen Umständen Staatszielbestimmungen, über die das Bundesverfassungsgericht zu judizieren hätte. Dann würden sämtliche politischen Entscheidungen von Bonn nach Karlsruhe verlagert. Das darf von uns niemand erwarten.

SPIEGEL: Also, nichts weiter als schöne Sprüche für die Präambel?

HERZOG: Wo sie stehen, ist egal. Bei eklatanten Verstößen, etwa gegen das Sozialstaatsprinzip in Artikel 20, greift das Bundesverfassungsgericht auch heute schon ein, aber nur dann, wenn wirklich evident Unsoziales geschieht.

SPIEGEL: Mit anderen Worten: Staatsziele als Basis für Verfassungsauslegung?

HERZOG: Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sonst käme politische Wechselreiterei heraus. Es würden Wechsel gezeichnet, die das Bundesverfassungsgericht nicht einlösen kann. Das ist das Schlimmste, was man einer Verfassung, im übrigen auch mündigen Bürgern, antun kann.

SPIEGEL: Sehen Sie sonstigen Änderungsbedarf - etwa im Verhältnis zwischen Bund und Ländern?

HERZOG: Unser bundesstaatliches System stimmt hinten und vorne nicht. Wir leisten uns einen Staat, in dem der Bund als Gesetzgeber sagt, was geschehen muß, die Länder dürfen die Befehle aus Bonn nur noch ausführen - und bezahlen. Das amerikanische System ist viel sinnvoller. Da werden die Kompetenzen verteilt. Wenn eine Materie Landessache ist, bestimmt das Land die Regeln, organisiert den Vollzug und sorgt fürs Geld. Wenn der Bund zuständig ist, wird entsprechend verfahren.

SPIEGEL: Wollen Sie den Föderalismus stärken?

HERZOG: So ist es.

SPIEGEL: Sehen Sie jemanden, der da mitmacht?

HERZOG: Im Augenblick besteht keine politische Chance. Doch eine Verfassungsreform kann sich doch nicht in Kleinigkeiten erschöpfen, etwa mit der Frage einer direkten Demokratie.

SPIEGEL: Das ist keine Kleinigkeit.

HERZOG: Aber ein Nichts im Verhältnis zu den Kernfragen. Im übrigen weiß jeder, daß ich ein Anhänger der direkten Demokratie bin. Man muß nur darüber reden, auf welchen Feldern sie nicht stattfinden kann und welche Anforderungen an einen Antrag auf Volksentscheid zu stellen sind. Ich komme aus Bayern, und ich habe in Baden-Württemberg sechs Jahre als Minister gedient. Da ist direkte Demokratie zu Hause. Ich habe dagegen keine Bedenken, vor allem nicht auf Landes- und Kommunalebene. Es gibt viele Themen, bei denen ich den Bürgern mindestens soviel Verstand zutraue wie den Abgeordneten oder den Ministerialbeamten.

SPIEGEL: Die parlamentarische Demokratie zeigt Ermüdungserscheinungen. Braucht sie Frischzellen?

HERZOG: Ich finde, bei unseren schwerfälligen Gesetzgebungsverfahren müßte Ballast abgeworfen werden. Das Parlament ist mit seiner Massenproduktion total überfordert. Zu der Aufgabe, politisches Forum der Nation zu sein, kommt der Bundestag nur noch selten. Statt dessen müssen sich die Abgeordneten mit der Neufassung des Paragraphen 137 Absatz 3, fünfter Halbsatz befassen. Das kann nicht der Sinn einer parlamentarischen Demokratie sein. Der Bundestag muß den Kopf frei haben für die großen Optionen.

SPIEGEL: Ließe sich der Anpassungsprozeß zwischen Ost und West beschleunigen, wenn das Bundesverfassungsgericht, wie vom Rechtsausschuß des Bundestages vorgeschlagen, nach Weimar zöge?

HERZOG: Nein. Das brächte keine Beschleunigung, sondern Stillstand: ein Jahr Umzugsberatungen und Umzugstätigkeit, in dem unsere Rechtsprechung weitgehend lahmgelegt wäre.

SPIEGEL: Ihr Gericht ist neben dem Bundespräsidenten, der Bundesregierung, dem Bundestag und dem Bundesrat das fünfte Verfassungsorgan der Republik. Nach einem ungeschriebenen Gesetz verkehren alle in wechselseitiger Rücksichtnahme miteinander. Können Sie sich einen Umzug gegen den Willen der 16 Verfassungsrichter vorstellen?

HERZOG: Nein.

SPIEGEL: Wenn Sie und Ihre Kollegen schon nicht nach Weimar wollen, soll dann Berlin Regierungssitz werden?

HERZOG: Das scheint an einem seidenen Faden zu hängen - an der Frage, ob offen oder geheim abgestimmt wird.

SPIEGEL: Welche Folgen hätte das?

HERZOG: Wenn offen abgestimmt wird - so lese ich in der Zeitung -, geht es nach Berlin, wenn verdeckt abgestimmt wird, bleibt alles in Bonn. Sollte das richtig sein, würde ich eine geheime Abstimmung für undiskutabel halten. Jeder Staat kann sich eine Zeitlang blamieren, aber nicht auf Dauer.

SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. *VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:

Roman Herzog *

gehört als Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zu den fünf ranghöchsten Repräsentanten der Republik. Der konservative Staatsrechtsprofessor wurde nach dem im Gericht geltenden Parteienproporz für die CDU ins Amt gewählt. Zuvor war Herzog, 57, Staatssekretär unter Helmut Kohl in Mainz, dann Kultus- und später Innenminister in Baden-Württemberg. Der Professor ist Mitverfasser des führenden Grundgesetzkommentars »Maunz-Dürig-Herzog«.

* Mit Redakteuren Rolf Lamprecht und Werner Funk.* Oben: auf dem Dachboden des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte;unten: an der baden-württembergischen Verwaltungsfachschule inHaigerloch.

R. Lamprecht, W. Funk
Zur Ausgabe
Artikel 23 / 97
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren