DEUTSCHE SOLDATEN Die Hasen vom Amselfeld
Die Stimme des deutschen Uno-Polizisten überschlug sich vor Panik. »Wann kommt ihr endlich«, schrie der Mann flehentlich in das Funkgerät, »um Himmels willen, wir brauchen dringend Unterstützung.«
Vor dem Gebäude der Uno-Polizei in der Provinzstadt Prizren, Einsatzsektor der deutschen Kfor-Friedenstruppe in der Unruheprovinz Kosovo, wütete seit Stunden der entfesselte Mob albanischer Nationalisten. Er machte Jagd auf Serben und deren vermeintliche Beschützer. Steine flogen und Molotow-Cocktails, Flammen züngelten auf hellbrauner Erde neben umgekippten und demolierten Einsatzwagen. Vor der Orgie des Hasses hatten mehrere Dutzend Uno-Beamte sich in den Polizeiposten gerettet und verbarrikadiert. Viele bluteten.
»Kommt schnell, wir brauchen Hilfe«, hämmerte der deutsche Polizist wieder und wieder in das Sprechgerät. Doch niemand kam, das Militär schickte keinerlei Hilfe. Wohl nur der Zufall, dass an diesem zweiten Tag der März-Ausschreitungen im Kosovo sich in Prizren der Amoklauf der Albaner dann dem Abfackeln der Kirche Sveti Spas sowie einer Siedlung zuwandte, in der vor dem Krieg 2000 Serben lebten, mag die Uno-Mitarbeiter vor dem Schlimmsten bewahrt haben.
Bei dem jüngsten Aufruhr im Kosovo wurden 19 Menschen getötet, 8 Serben und 11 Albaner. Letztere meist in Notwehr von bedrängten Uno-Polizisten und Kfor-Soldaten. Nach einer Bilanz der Unmik, der Uno-Zivilverwaltung dieses internationalen Protektorats, gab es etwa 900 Verletzte, darunter waren 65 Angehörige der internationalen Kräfte. Es wurden 29 Kirchen und Klöster sowie etwa 800 Häuser der serbischen Minderheit zerstört, mehrere tausend Serben retteten sich durch Flucht.
Zerstoben sind mit diesen Gewalttaten wohl auch die letzten Illusionen über eine mögliche Aussöhnung der Volksgruppen und den Aufbau einer multiethnischen Demokratie. In einem Krieg um Menschenrechte hatten 1999 Nato-Bomber die mörderische Militärmaschinerie des Serben-Herrschers Slobodan Milosevic aus dem Kosovo vertrieben und 800 000 albanischen Flüchtlingen die Rückkehr ermöglicht. Beklommen muss die internationale Gemeinschaft fünf Jahre danach erkennen, dass sie diesen moralischen und militärischen Sieg zu verspielen, ihre ehrgeizige Mission zu scheitern droht. Viele der Opfer von gestern sind die Täter von heute. Wie einst der Belgrader Despot, betreiben nun albanische Extremisten das blutige Geschäft ethnischer Säuberungen, um den »serbenfreien« Staat »Kosova« zu schaffen - rund um das historische Amselfeld (Kosovo Polje), auf dem 1389 das serbische Ritterheer im Kampf gegen die Türken verblutete und den Opfermythos der Serben schuf.
»Wir haben schnell reagiert«, beschreibt Generalleutnant Holger Kammerhoff den
Einsatz der 20 500 Mann starken Kfor-Schutztruppe, die er seit vergangenen Oktober kommandiert, bei den jüngsten Unruhen. Und auch Verteidigungsminister Peter Struck lobt das »umsichtige Verhalten« seiner 3600 Soldaten in höchsten Tönen: »Sie haben besonnen reagiert, eine Eskalation verhindert und so Menschenleben geschützt.«
Dies ist die Berliner Version. Berichte von Augenzeugen in Prizren ergeben indes ein ganz anderes Bild. Nicht nur Serben, sondern auch Uno-Beamte, Soldaten anderer Truppenkontingente, albanische Menschenrechtler oder unabhängige Journalisten werfen der Bundeswehr Versagen, ja Feigheit vor. In der Bekämpfung der Ausschreitungen habe sie eine klägliche, wenn nicht die blamabelste Rolle gespielt. Die deutschen Soldaten seien weggerannt, hätten sich wie Hasen in den Kasernen versteckt und seien mit gepanzerten Fahrzeugen erst wieder erschienen, als sich der albanische Mob ausgetobt und sein Vernichtungswerk vollendet hatte. Solch harsche Beschuldigungen hatte es noch bei keinem der Auslandseinsätze deutscher Militärs gegeben.
In dem Versagen vor dem nackten Terror glaubten einige Balkan-Beobachter gar einen Hauch von Srebrenica zu verspüren: Als nach dem Fall der bosnischen Stadt im Juli 1995 der holländische Uno-Offizier Karremans dem Serben-General Mladic zuprostete, während Tausende Muslime zur Exekution abtransportiert wurden.
»Ihr Einsatz war ein Fehlschlag, sie sollten abziehen«, grollte Bischof Artemije von der serbischen Diözese Kosovo-Metohija über die Deutschen. Und Vater Sava Jancic, Sprecher des Klosters Decani, fügte hinzu: »Nach dem, was die Deutschen in zwei Weltkriegen getan haben, wünschen wir uns, sie würden vom Balkan verschwinden.«
Doch auch die deutschen Uno-Polizisten fühlten sich von den deutschen Soldaten im Stich gelassen. »Anzeichen von Traumatisierung« hat Herbert Fischer-Drumm, Polizeipfarrer in Rheinland-Pfalz, bei manchem der 278 deutschen Polizisten in persönlichen Gesprächen registriert, »weil ihre Hilferufe an die Kfor auf taube Ohren stießen«. Viele Beamte, so der Pfarrer, fragten sich, wozu die Soldaten überhaupt da seien, wenn sie ihnen nicht Beistand leisten könnten.
Berichte der frustrierten Polizisten liegen unterdessen der Unmik-Verwaltung vor. Deren finnischer Chef Harri Holkeri, melden albanische Zeitungen, soll dazu einen vehementen Disput mit dem Kfor-Kommandeur Kammerhoff geführt haben. Die Berichte werden jetzt ausgewertet. »Die Kfor muss ihr Sicherheitskonzept überdenken«, fordert Sachsen-Anhalts Innenminister Klaus Jeziorsky (CDU), der vergangene Woche mit seinem Hamburger Kollegen Udo Nagel von einem Besuch im Kosovo zurückkehrte. Auch Nagel ist der Ansicht, »Kfor muss in der Lage sein, die Uno-Mitarbeiter zu schützen«.
Nach einer Inspektionsreise am 5. und 6. April fasste der Vorsitzende der Bund-Länder-Arbeitsgruppe International Police Task Force, der nordrhein-westfälische Polizeiinspektor Dieter Wehe, die Ergebnisse in einem Bericht zusammen und schickte sie an das Bundesinnenministerium sowie die Innenminister der Länder. Wehe kommt zu dem Schluss: »Die Kfor ist bei gewalttätigen Unruhen zur Lagebewältigung nicht geeignet. Die Zusammenarbeit zwischen Kfor und Unmik ist nicht abgestimmt.«
In Prizren sei »trotz ständiger Hilfeersuchen an die Kfor« kein Militär erschienen, um die Polizei zu unterstützen. Die Kfor »erwies sich als unfähig, die ihr übertragenen Aufgaben zu gewährleisten«.
Auch Uno-Polizeichef Stefan Feller wird in dem Bericht mit den Worten zitiert, die Kfor sei den Unruhen nicht gewachsen gewesen, das Militär nicht ausreichend ausgebildet und vorbereitet. Die Kfor konnte »die ihr zugewiesenen Objektschutzaufgaben nicht gewährleisten und auch nicht den Schutz der serbischen Bevölkerung aufrechterhalten«.
»Seit Wochen schon wurde die Stimmung immer angespannter«, berichten in Prizren deutsche Polizeibeamte dem SPIEGEL. Sie wollen Namen und Dienstgrad nicht genannt sehen, weil sie derzeit der Uno unterstellt sind und jede Aussage rechtliche Folgen hätte.
Der Druck habe sich konkret gegen die noch etwa 100 000 Serben der Provinz und die Unmik gerichtet, die wegen Kriegsverbrechen auch gegen die einstige Kosovo-Befreiungsarmee UÇK zu ermitteln begann. Reden albanischer Nationalisten wurden schärfer, ebenso die politischen Schmierereien an Häuserwänden. »Es war klar, dass etwas passieren würde«, so ein Beamter, »nur nicht wann.« Eruptionen albanischer Gewalt, bei denen Sprengkommandos systematisch serbische Dörfer, Klöster und Kirchen attackierten, hatte es seit Kriegsende mehrfach gegeben. Nur war seinerzeit die Kfor-Schutztruppe
mit 50 000 Mann noch wesentlich agiler. »Man erwartet von uns Wunder«, stöhnte schon als erster Uno-Verwalter der Franzose Bernard Kouchner über die periodisch wiederkehrenden Ausbrüche des ethnischen Hasses.
Diesmal führte die - unbewiesene - Behauptung, zwei albanische Jungen seien von Serben in den Fluss Ibar getrieben worden und dort ertrunken, zur Gewaltexplosion. Zunächst in Kosovska Mitrovica und dann in fast allen Städten der Krisenprovinz, auch in Prizren.
Dort marschieren, so der Einsatzbericht deutscher Polizisten, am 17. März etwa tausend Demonstranten durch das Zentrum, skandieren »UÇK - UÇK« und »Unmik - armik«, die Unmik ist der Feind. Menschen aus den umliegenden Dörfern stoßen hinzu, offenkundig auch Islamisten, an ihren langen Bärten erkennbar.
Um 17.30 Uhr brennen die ersten Häuser in der Altstadt. Die Theologische Fakultät der Serben wird unter dem Beifall der Bevölkerung in Brand gesetzt, Steine fliegen gegen die Zivilverwaltung, Autos werden demoliert. Von der Kfor ist nichts zu sehen, obwohl besorgte Augenzeugen mehrmals die deutschen Offiziere telefonisch zum Eingreifen aufgefordert haben.
Erst als die Flammen auch auf die umliegenden Häuser überzugreifen drohen, nähern sich Spezialeinheiten der argentinischen Uno-Polizei. Allerdings nur mit einem Sicherheitsabstand von 300 Metern. Ihr Versuch, die Menge mit Tränengas aufzulösen, wird mit einem Hagel von Steinen und Flaschen gekontert. Die Südamerikaner lassen Knüppel und Schutzschilde fallen und fliehen.
Die deutsche Kfor lässt sich erstmals blicken, als die Randalierer ein Löschfahrzeug kapern und zum Unmik-Gebäude fahren. Das Erscheinen des Militärs zeigt offenbar Wirkung. Der Mob zieht weiter, wird an seinem Vernichtungsmarsch nicht gehindert.
Zwischen 18 und 21 Uhr wütet der Pöbel in der Altstadt am Hang unterhalb der Ruine einer byzantinischen Burg. Die Häuser serbischer Flüchtlinge werden angezündet. Ein Zug Kfor-Soldaten, der hinter Sandsackbarrieren die serbische Kirche St. Georg bewacht, flüchtet mit Geistlichen und den verbliebenen Serben in eine Kaserne. Die Demonstranten applaudieren, räuchern die Kirche aus, zünden 56 Häuser an und schließlich auch, nicht weit vom Bürgermeisteramt, die griechisch-orthodoxe Kirche Heilige Jungfrau von Ljeviska. Über die hatte Verteidigungsminister Struck einst gesagt, sie sei ein »Symbol, dass der Frieden währt und unser Einsatz ihn brachte«.
Einige Extremisten ziehen weiter, flussaufwärts an der Bistrica entlang zum Kloster des Heiligen Erzengels Michael. Der Zufahrtsweg wäre mit ein paar Panzern zu blockieren, zumal an dem Bauwerk aus dem 14. Jahrhundert die Bundeswehr stationiert ist - Hauptfeldwebel Udo Wambach mit 19 Soldaten.
Die etwa 200 Demonstranten schicken eine Delegation mit weißer Fahne zu den Deutschen und versichern, ihnen werde kein Leid geschehen, »wir wollen nur das Kloster abfackeln«. Die Kfor-Beschützer setzen sechs Mönche und zwei Besucher in ihre gepanzerten Fahrzeuge und fahren durch das Niedrigwasser der Bistrica davon. Das Kloster wird niedergebrannt.
Hauptfeldwebel Wambach wird für seine »hervorragende Einzeltat« Mitte April bei einem Prizren-Besuch von Verteidigungsstaatssekretär Walter Kolbow ausdrücklich belobigt. Kein Orden, aber immerhin ein Vermerk in der Personalakte. Der Feldwebel habe, so die Würdigung, »durch umsichtiges Verhalten, mutiges Verhandeln eine Eskalation der Gewalt vermieden, Blutvergießen verhindert und die ihm anvertrauten Menschenleben geschützt«.
Als die Nacht einbricht, erhellt der Feuerschein der brennenden Altstadt den Himmel über Prizren. Am nächsten Morgen, Donnerstag, 18. März, rauchen die Trümmer noch immer. Aber es bleibt zunächst ruhig.
Gegen 12.30 Uhr tritt der Pöbel erneut in Aktion. Da sämtliche serbischen Einrichtungen zerstört sind, richtet sich der Hass der Albaner nun gegen die Stadtverwaltung, die Uno-Zivilverwaltung und die beiden Polizeistationen.
Die erste Attacke trifft gegen 15 Uhr die Polizeiwache in der Innenstadt. Hilferufe
an die Kfor bleiben erfolglos. Steine fliegen gegen das Haus, Autos werden umgeworfen, von Soldaten ist nichts zu sehen. Die Kfor hatte die Zeit offenkundig nicht genutzt, das Einsatzkonzept zu überdenken, um erneuten Unruhen zu begegnen.
Dann der Angriff auf das einen Kilometer weiter gelegene Polizeihauptquartier. Polizisten aus verschiedenen Nationen, auch deutsche, sind einem Dauerfeuer aus Steinen und Molotow-Cocktails ausgesetzt, von der nahen Tankstelle kriegen die Extremisten immer wieder Nachschub. Schüsse fallen.
»Wir haben die Kfor um Hilfe angefleht«, berichtet ein Beamter. Die Soldaten kämen gleich, heißt es. Doch nichts geschieht. Das Einzige, was die Polizisten sehen, ist ein Militärauto, in dem Soldaten von einem nahen Hügel aus die Gewaltorgie beobachten. »Ich kam mir vor wie der letzte Dreck«, schreibt ein deutscher Polizist in seinem Rapport. »Das Schlimmste« sei, so ein anderer Beamter, dass die Randalierer ihre Ziele erreicht hätten: Die Soldaten schauten zu, als die ethnische Säuberung ein Stück weiter vorangetrieben wurde, »unsere Mission ist gescheitert«.
Erst als die Randalierer von Prizren in den Hof des Unmik-Gebäudes Granaten werfen, greift die deutsche Kfor-Truppe ein. Sie schickt gepanzerte Fahrzeuge, und die Situation beruhigt sich sofort.
Das deutsche Kontingent in Prizren hatte während des zweitägigen Chaos keine Verletzten zu beklagen. Das ist schön. Aus anderen Kfor-Kontingenten wurden zahlreiche Verletzte gemeldet, zum Beispiel bei den Italienern, Griechen, Franzosen. Hatten diese Kfor-Soldaten nicht dieselben Direktiven wie die Deutschen? Handelten sie auf eigene Faust, oder waren sie schlicht mutiger?
14 Verwundete gab es beim schwedischen Bataillon, das versuchte, das Serben-Dorf Caglavica vor den albanischen Feuerteufeln zu schützen. »Wir waren überrascht und warten jetzt auf die nächste Runde«, vertraute Unteroffizier Andersson Reportern an, »wir werden das diesen Albanern heimzahlen.« In Mitrovica, wo es die meisten Toten gab, verhinderten französische Kfor-Soldaten und Uno-Polizei, dass die Albaner in den serbischen Nordteil der Stadt gelangen konnten.
Warum es denn nicht möglich war, die Klöster zu schützen, werden in Prizren deutsche Offiziere von einem Journalisten des kanadischen »Chronicle Herald« gefragt. Ihre Antwort: »Es ist nicht unser Mandat, unschuldige Zivilisten zu verletzen, um eine alte Kirche zu schützen.«
Auf ähnlicher Linie wehrt sich Oberst Dieter Hintelmann, der Führer des deutschen Kfor-Kontingents in Prizren: »Wir haben genau nach unseren Bestimmungen gehandelt.«
Objektschutz ist nicht die Aufgabe der Bundeswehr im Kosovo. Geschossen werden darf nur in Notwehr.
Jeder Soldat hat eine kleine »Taschenkarte« mit den »Rules of Engagement«, den Einsatzvorschriften, dabei. Gebäude mit Waffengewalt zu schützen und auf Demonstranten zu schießen, die MolotowCocktails in Kirchen oder Klöster schleudern, ist darin nicht vorgesehen. Das Kapitel »Regeln für die Anwendung militärischer Gewalt« macht den Soldaten eindeutige Vorgaben: »Sie haben das Recht, Angriffe abzuwehren, die sich gegen Kfor-Personal, Kfor-Material und unter Schutz von Kfor stehende Personen richten.« Doch von diesem Recht, schimpfen deutsche Polizisten, machte die Bundeswehr in Prizren leider keinen Gebrauch.
»Die Anführer der Demonstrationen wussten genau, solange sie uns nicht angreifen, können wir nicht schießen«, sagt Hintelmann. Also ein Freibrief für den rasenden Pöbel? »Ich kann doch nicht auf eine Menschenmenge schießen lassen, in der sich auch Kinder befanden«, erklärt der Offizier. Demonstrationszüge, in denen auch Frauen und Kinder waren, hätten das Feldlager blockiert und so das Ausrücken von Verstärkung verhindert.
Massive Rückendeckung erhält der Offizier von Vorgesetzten in der Heimat.
»Kern unserer Aufgabe ist es, Menschenleben zu schützen«, so das Einsatzführungskommando in Potsdam, Hintelmanns vorgesetzte militärische Dienststelle. Zu Recht habe sich die Truppe »darauf konzentriert, serbische Bevölkerung und Uno-Mitarbeiter zu schützen«. Darauf allerdings warteten die deutschen Polizisten vergebens.
Vorwürfe, die Deutschen hätten feige gekniffen, sind auch für den Bundeswehrchef »völlig absurd«. Nach den geltenden deutschen Gesetzen dürften die Soldaten weder Tränengas einsetzen noch mit Gummigeschossen in eine Menschenmenge schießen, sondern, erläutert Struck, nur »Warnschüsse in die Luft abgeben«.
Auch der Außenminister ("Ich gehöre nicht zu denen, die Vorwürfe gegen die
Soldaten erheben") nimmt die Truppe in Schutz. »Unsere Soldaten haben unter erheblichem Risiko und unter enormem Druck Großes geleistet«, so der Grüne Joschka Fischer, »sie haben viele Menschen gerettet, diese Priorität war richtig.«
Eines hingegen räumen die Deutschen in Prizren wie in Berlin mittlerweile ein: Sie wurden von dem Aufstand, der sich binnen Stunden zum Flächenbrand ausweitete, völlig überrascht. Die Kfor-Aufklärung und diverse nationale Geheimdienste hatten versagt.
Dabei hatten sich gerade die Deutschen gerühmt, ihre Kontakte zur Bevölkerung seien hervorragend, wobei ihnen auch ein historischer Bonus zugute kam: Im Zweiten Weltkrieg unterstützten Albaner die Wehrmacht im Kampf gegen serbische Partisanen und schickten Hitler sogar eine SS-Division, benannt nach ihrem Nationalhelden Skanderbeg.
Wer im Kosovo »künftig einen Angriff auf serbische Enklaven oder Kulturgüter startet, wird auf die Kfor stoßen«, kündigte Generalleutnant Kammerhoff unterdessen eine härtere Gangart an, damit implizit ein Fehlverhalten einräumend. Von einem »Handlungsbedarf für die Aufgabe riot-control« spricht ein interner »Sachstandsbericht« der Truppe.
Minister Struck möchte die Bundeswehr nun mit Tränengas und Pfefferspray ausrüsten. Anders als bei der Polizei gilt Tränengas für das deutsche Militär als chemischer Kampfstoff. Chemiewaffen aber sind international geächtet, ihre Anwendung ist der Bundeswehr nicht erlaubt. Um die Soldaten mit Tränengas oder Pfefferspray auszurüsten, müssen erst Rechtsvorschriften geändert werden, darunter das »Ausführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen«. In Briefen an Innenminister Otto Schily und Außenminister Joschka Fischer bat Struck um »Unterstützung«, damit die Bundeswehr künftig bei Auslandseinsätzen »unterhalb der Schwelle des Schusswaffeneinsatzes angemessen reagieren« könne.
Die nationalistischen Dämonen auf dem Balkan dürften der Kfor schon sehr bald erneut Gelegenheit zum Handeln bieten. Es könne jederzeit wieder losgehen, fürchten erfahrene Uno-Polizisten: Nach irgendeinem neuen Zwischenfall, bei den nächsten Wahlen, spätestens aber 2005, wenn die Albaner die Unabhängigkeit der Provinz durchpauken wollen und die Serben, von Belgrad gestützt, eine Aufteilung in ethnische Kantone (siehe Kostunica-Interview Seite 146).
Jörg Lembke, Polizist aus Hamburg und im Kosovo mit der Identifizierung von Leichen aus dem Bürgerkrieg beschäftigt, traut jedenfalls in Sachen Sicherheit weder der Unmik noch der Kfor-Schutztruppe. Seine Kollegen hat Lembke aufgefordert, ihre exakte Anschrift, möglichst mit einem Foto ihres Hauses abzugeben: »Dann können wir einen Evakuierungsplan ausarbeiten, damit wir möglichst schnell rauskommen.« RENATE FLOTTAU, OLAF IHLAU,
ALEXANDER SZANDAR, ANDREAS ULRICH