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GRAPHOLOGIE / ITALIEN Die Heiligen und ihre Laster

aus DER SPIEGEL 7/1957

Vierzig Jahre lang brütete der Franziskaner-Pater Girolamo Moretti, der in Italien als einer der bedeutendsten Graphologen der Gegenwart gilt, über den Handschriften vieler Heiliger, ehe er es wagte, seine Erkenntnisse unter dem Titel »Die Heiligen nach ihrer Schrift« zu veröffentlichen*. In diesem Buch, das mit kirchlicher Druckerlaubnis im vergangenen Jahr erschienen ist, analysiert der 77jährige Pater die Schutzpatrone der Kirche nach ihrer Handschrift. Das Ergebnis ist schockierend: Der kirchliche Graphologe entdeckte an den Heiligen eine Reihe durchaus irdischer Charakter-Defekte.

Mehrmals war Pater Moretti deshalb während seiner jahrzehntelangen Arbeit in schwere Gewissenkonflikte geraten. Dabei war ihm hohe Patronage bei der Ausarbeitung seiner erschrecklichen Schlußfolgerungen sicher, denn der Anstoß zu diesem Versuch einer »graphologischen Hagiographie« war von hoher kirchlicher Seite gekommen.

Vor 42 Jahren, im Jahre 1914, hatte der vatikanische Monsignore Clementi, einer der bedeutendsten Kirchenhistoriker der römischen Kurie, dem Kloster-Graphologen, dessen Ruf damals bereits bis zum Vatikan gedrungen war, einen vergilbten Brief des Heiligen Giuseppe da Copertina (1603 bis 1663) übergeben. Mit frommen Eifer studierte der Franziskaner das Dokument des Gottesmannes, der kurz vor dem ersten Weltkrieg zum Schutzpatron der Flieger ernannt worden war. Bestürzt entdeckte er in der Schrift alle Merkmale schwachen Willens und rachsüchtigen Charakters. Wesenzüge also, die man eigentlich nicht bei einem Heiligen vermuten sollte. Als Pater Moretti seinem Auftraggeber das Gutachten übersandte, machte er selber die schüchterne Einschränkung, daß er bei seinen graphologischen Studien vielleicht dem Versucher zum Opfer gefallen sei.

Aber der weltmännische Prälat beruhigte den verstörten Kirchenbruder mit den Worten: »Ihre Analyse entspricht in allen Punkten der Wahrheit. Dieser Heilige mußte zeit seines Lebens gegen die schlechten Triebe seiner Natur ankämpfen.« Aufgrund dieses ersten Versuchs entschlossen sich kirchliche Kreise zu einem Experiment, das bis dahin in der Kirchen-Geschichte ohne Beispiel war. Die Schriftproben von 58 mehr oder weniger bekannten Heiligen wurden dem Pater übergeben, auf daß er sie analysiere. Damit der Graphologe in keiner Weise beeinflußt wurde, verschwiegen die Auftraggeber, von welchen Heiligen die Schriftzüge jeweils stammten.

Der verwegene Versuch, mit Hilfe der Schriftdeutung in die Seele der Heiligen einzudringen, förderte Ergebnisse zu Tage, die den Pater derart entsetzten, daß er zunächst einmal drei Jahre lang alle graphologischen Arbeiten unterbrach, um sein Gewissen zu erforschen. In den Schriftzügen des Heiligen Franziskus zum Beispiel, der vor allem wegen seiner Demut verehrt wird, hatte Pater Moretti Anzeichen der Eitelkeit und »Aufsässigkeit gegenüber der eingesetzten Obrigkeit« entdeckt.

Ähnliche Eigenschaften mußte er auch in den Manuskripten der Heiligen Theresie vom Kinde Jesu (auch Theresie von Lisieux genannt) erkennen, deren Schrift zudem der Handschrift der italienischen Massenmörderin Rina Fort auffallend ähnelt. Über die berufliche Begabung der französischen Mystikerin, die dem streng kontemplativen Orden der Kameliterinnen angehörte, fällte der klösterliche Graphologe nebenher ein bemerkenswertes Urteil: »Wäre sie in Armut geboren, so hätte sie das Leben einer Modistin geführt, vielleicht auch das eines Mannequins oder eines Modells, um sich den Unterhalt zu verdienen.«

In der Schrift des Heiligen Carlo Borromäus (1538 bis 1584), der nach dem Regime der Borgia als Kardinal die römische Kurie säuberte, will Pater Moretti »mephistophelische« Züge erkennen. Dieser Gottesdiener habe zudem von Natur aus wenig Vertrauen zur Vorsehung mitgebracht. Er habe zwar das Zeug zu einem guten Justizminister besessen, aber er hätte sich nicht immer streng an die Gesetze halten können. Einen Zeitgenossen des Carlo Borromäus, dem Heiligen Filippo Neri (1515 bis 1595), sagt Pater Moretti gar Neigung zu »psychischem Sadismus« und zum Geiz nach. »Er hätte einer jener Halsabschneider werden können, die man überall in der Geschäftswelt antrifft, und die sich dadurch bereichern, daß sie ihren Nächsten betrügen.«

Selbst die Schrift eines der berühmtesten Heiligen, des Franz Xaver, des größten Asienmissionars der katholischen Kirche, hielt dem Röntgenblick des Untersuchers nicht stand. Franz Xaver, so urteilt Pater Moretti, sei »ohne besonderen Ehrgeiz« gewesen und habe den Hang zu einer Exzentrizität gehabt, die sich »in der Form eines asozialen Lebenswandels hätte äußern können«. Der schriftkundige Franziskaner fügt hinzu: »Auch hätte er manche Freundschaft zum anderen Geschlecht haben können.«

Ebenso aber entdeckt Pater Moretti menschliche Schwächen im Schriftbild der spanischen Mystikerin Theresie von Avila. Zwar schätzt er ihre Intelligenz und ihre Energie so hoch ein, daß sie »bis zur Grenze menschlicher Fähigkeiten reicht«, zugleich aber glaubt der analysierende Ordensmann Symptome einer ebenso starken Sinnlichkeit herauszulesen. Sein Urteil: »Veranlagung zur Vielmännerei.«

Einem Zeitgenossen der Heiligen Theresie, dem leidenschaftlichen Mystiker Johannes vom Kreuz, dem Reformator des Karmeliterordens, schreibt der geistliche Graphologe in der Charakteranalyse die Neigung zu, »mehr zu zerstören als aufzubauen«. Er glaubt in den hinterlassenen Schriftzügen dieses Heiligen »Anzeichen des Sophismus, Skeptizismus und der Hyperkritik« zu erkennen, wie sie den »Fabrikanten von Irrtümern« eigen sei. »Viele solcher Männer gibt es auf dem Gebiet der Wissenschaft, unter Ketzern und den armseligen Handlangern subversiver Parteien.«

Interessant ist das graphologische Porträt, das Pater Moretti vom Gründer des Jesuitenordens entwirft: Er bestätigt dem spanischen Heiligen Ignatius von Loyola Organisations- und Propagandabegabung sowie den Hang zum Kommandieren. »Er wäre ein ausgezeichneter Armeegeneral geworden«, hätte aber auch »als Chirurg Erfolg gehabt«. Im übrigen schildert der Graphologe die Charakterveranlagung dieses Schreibers als »rachsüchtig« und »wenig altruistisch«. Er habe dazu geneigt, »die Lage von Leuten auszunutzen, die ihn brauchten«. Auch habe er keinen Widerspruch geduldet: »Wenn eine (ihm nicht genehme) Äußerung hinter seinem Rücken gemacht wird, neigt er dazu, den Betreffenden, der diese Äußerung gemacht hat, zu bestrafen, erstens wegen der Sache selber, dann wegen Mangels an Mut und wegen schuldhafter Verleumdung.«

Der Heilige Thomas von Aquin, dessen philosophische Lehren grundlegende Bedeutung für das katholische Denken haben, hätte nach Pater Moretti »ohne seine religiöse Erziehung« wohl Gefallen daran gefunden, Irrtümer in die Welt zu setzen und die Massen der beifallspendenden Intellektuellen zu beherrschen. In den Schriftzügen des Heiligen Vinzenz von Paul, der den Krankenpfleger-Orden der Barmherzigen Schwestern gründete, will Pater Moretti die Neigung zur Hinterlist erkennen. Die Heilige Katharina (1522 bis 1590) charakterisierte er als eine Frau, die »männliche Sportarten betreiben ... und an der Spitze einer Kompanie Soldaten stehen könnte«, sowie als eine Person, die keinen Mittelweg kennt. »Entweder Tugend oder Laster bis zum Äußersten.«

»Völlig normale Menschen«

Unter den 58 Heiligen, deren Schrift der Pater analysierte, bleiben schließlich nur drei übrig, an denen er so gut wie kein Fehl findet: der 1954 kanonisierte Papst Pius X. ("fast grenzenloser Altruismus"), der Heilige Johannes Berchmans, der als Novize des Jesuitenordens 1621 im Alter von 22 Jahren starb, und Margareta Maria Alacoque.

Den schockierenden Widerspruch zwischen den charakterlichen Schwächen, die der Graphologe aus den Handschriften herausliest, und dem frommen Lebenswandel, den die Gottesdiener tatsächlich geführt haben, erklärt Pater Moretti damit, daß die Heiligen durch die »Kraft des Gebetes und die göttliche Gnade« ihre menschliche Natur überwunden hätten. Pater Moretti, der heute als Philosophie-Professor i. R. in dem abgelegenen Kloster Mondolfo di Marott in der Adria-Provinz Pesaro lebt, führt zum Beispiel den Heiligen Pfarrer von Ars an, der im 19. Jahrhundert als größter Beichtvater Frankreichs galt. Dieser fromme Seelenhirte habe, so urteilt der Kloster -Graphologe, unter »unaussprechlichen Spannungen« gelitten, aus denen er als Sieger nur durch »derart inständiges und leidenschaftliches Gebet hervorgegangen sei, daß die Gottheit selber erweicht worden ist«.

Pater Moretti glaubt außerdem, daß seine Studien über die Heiligen-Schriften einen fundamentalen philosophisch-theologischen Lehrsatz der katholischen Kirche bestätigen, nämlich die Ablehnung des Determinismus.

Der Determinismus behauptet, daß das Schicksal eines jeden Menschen von Gott vorherbestimmt sei. Aber ähnlich wie Rudolf Virchow bei seinen anatomischen Untersuchungen nie eine Spur der Seele fand, hat Pater Moretti bisher kein graphologisches Merkmal entdecken können, das als Charakteristikum der Heiligkeit gedeutet werden könnte.

»Die Heiligen sind völlig normale Menschen wie jedes andere menschliche Wesen auch«, schreibt Pater Moretti. In, ihrer Menschlichkeit könne sie auch die graphologische Analyse erfassen. Die »sublime Natur der Gnade Gottes«, die sie zu Heiligen gemacht habe, entziehe sich dagegen jeder graphologischen Erkenntnis.

* Girolamo Moretti: »I Santi della Scrittura« Verlag Il Messaggero di S. Antonio, Padua.

Schriftdeuter Pater Moretti: Wäre der heilige Filippo ein Halsabschneider gewesen?

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