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Die Hoffnung heißt Germanija

Es war Helmut Kohls größter politischer Erfolg: Sowjetpräsident Michail Gorbatschow bescherte dem Kanzler die volle Souveränität des künftigen Deutschland samt Nato-Zugehörigkeit. Doch können die Deutschen den Erwartungen der Sowjetunion genügen, ist die Symbiose mit einem sozialistischen Trümmerfeld bekömmlich?
aus DER SPIEGEL 30/1990

Jedenfalls rechnet Deutschland auf uns nicht als auf seine zeitweiligen, sondern als auf seine ewigen Bundesgenossen.
FJODOR DOSTOJEWSKI

Territorialeinheiten der deutschen Bundeswehr rücken noch 1990 bis an die Oder-Neiße-Grenze, vorbei an den sowjetischen Garnisonen im Lande.

Die Sowjetarmisten sind in drei, vier Jahren wieder zu Hause, genau 50 Jahre nachdem sie deutschen Boden betraten. Jetzt helfen die Deutschen ihnen, sich auf bürgerliche Berufe umzuschulen, und bauen ihnen Wohnungen in der UdSSR.

Kampflos hat Moskau sein Paradestück, den »Ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat der deutschen Geschichte«, preisgegeben. Die westlichste Bastion des Sowjetlagers hat noch 131 Tage zu leben, dann ist sie verschwunden - wie das panzerrasselnde Machtinstrument des Blocks, der Warschauer Pakt.

Auch der Kalte Krieg ist zu Ende, eine neue Kräfte-Konstellation tritt an die Stelle des Ost-West-Konflikts, dessen Opfer das zerteilte Deutschland war - obwohl es ihn nutzte für den Aufstieg beider Hälften vom Nullpunkt zum höchsten Lebensstandard in ihrem jeweiligen Lager.

»Deutschland sollte, so lautete der 1945 nach seinem Schöpfer benannte Morgenthau-Plan, zu einem Agrarland herabgestuft werden«, erinnerte die Wiener AZ. Jetzt sei es, zusammen mit den USA, der »Sieger«.

Der 16. Juli, an dem Kanzler Helmut Kohl nach seinem Totalausgleich mit Michail Gorbatschow aus dem Kaukasus zurückkam, konnte symbolträchtiger nicht sein: Es war der Vorabend des 45. Jahrestages der Eröffnung der Potsdamer Konferenz. Welcher Weg von 1945, aus der seit dem 30jährigen Krieg größten nationalen Katastrophe der Deutschen, bis zu diesem Höhenflug des Jahres 1990!

45 Jahre nach seinem Untergang wird der deutsche Nationalstaat wiedererstehen, unter definitivem Verlust eines Viertels seiner vorherigen territorialen Ausdehnung zwar, aber doch in voller Souveränität und, wichtiger noch, im Einklang mit den Kriegsgegnern von damals, besonders dem am schwersten zu versöhnenden, der Sowjetunion.

Noch in derselben Woche verschwand dank der deutschen Grenzgarantie für Polen auf der Pariser »Zwei plus Vier«-Konferenz das Schreckgespenst eines Friedensvertrages mit Reparationsforderungen aus allen Himmelsrichtungen gegen Deutschland.

Da Gorbatschow und Kohl im Kaukasus nächtens über Bismarck sprachen, drängte sich ein Vergleich mit der Reichsgründung von 1871 auf. Im Schloß von Versailles proklamiert, das laut Fassaden-Inschrift »A toutes les gloires de la France« gewidmet ist, war der Bismarckstaat von Geburt an mit der Feindschaft Frankreichs belastet und blieb bis zu seinem Ende im Ersten Weltkrieg ein militärisch geprägtes Obrigkeitsgebilde - großmannssüchtig und politisch rückständig gegenüber den Demokratien des Westens.

Diesmal entsteht ein geeinigtes Deutschland in Harmonie mit den alten Demokratien des Westens, institutionell mehrfach mit ihnen verbunden und als Partner hoch geschätzt. Und die Völker Osteuropas erwarten von diesem Deutschland Hilfe beim Abräumen des gigantischen Trümmerfeldes, das der Sozialismus zwischen Magdeburg und Wladiwostok hinterlassen hat.

Das Kriegsende mit der Sowjetunion zu besiegeln, schafften die Deutschen allein - die USA, Vormacht des Westens, waren nicht zugegen. Die Bundesrepublik schien an ihre Stelle getreten, Briten und Franzosen brauchten alle Kraft, angesichts der deutschen Höchstform die Contenance zu wahren.

Und dennoch hatten die Deutschen guten Grund, sich von der Größe der Stunde noch weniger fortreißen zu lassen als beim jähen Fall der Mauer im vorigen November. »Wir haben Fortüne gehabt«, bemerkte ein bescheidener Kohl auf dem Rückflug.

Deutschlands Fortüne:

▷ Ohne den globalpolitischen Friedensschluß zwischen den beiden Supermächten wäre die deutsche Einigung keinen Schritt vorangekommen.

▷ Ohne das Debakel des Kommunismus in Osteuropa hätte Moskau seine Kriegsbeute von 1945 niemals herausgegeben.

▷ Ohne Gorbatschow hätte die Sowjetführung die Erkenntnis, daß nur Liquidation noch helfen kann, vermutlich erst in Jahren gewonnen, vielleicht aber auch nie.

Der Mann, der Rußland aus Unmündigkeit und Rückständigkeit in die Weltzivilisation führen möchte, sucht bei den Deutschen die entscheidende Hilfe für seine Perestroika: in einem »Generalvertrag« (so hieß der alliierte Akt, der Westdeutschland 1952 die Halbsouveränität gewährte) über wirtschaftlich-wissenschaftliche Kooperation samt einem »Nichtangriffspakt«.

Die Wirtschaftskraft der EG-Führungsmacht in Verbindung mit dem bislang nachhaltig verschleuderten Potential der Sowjetunion - dem Überfluß an Rohstoffen und bebaubarem Boden sowie mit Wissenschaftlern von Weltniveau und 80 Millionen Arbeitern, denen die Kommunisten mindestens Grundschulbildung angedeihen ließen. Kein Wunder, daß eine solche Perspektive auch beklommen macht.

Sind die Deutschen politisch reif und wirtschaftlich stark genug, dieser Aufgabe zu genügen? Werden sie ihr Engagement zu sehr dem Osten als ihrem künftigen riesigen Entwicklungsland zuwenden? »Wenn Deutschland und Rußland einander wärmen, fangen andere Staaten zu frösteln an«, warnte der britische Economist vorige Woche.

Ein wenig unvermittelt wuchsen die Deutschen überlebensgroß zu Weltmeistern der Zeitgeschichte, empfangen sie, zum Staunen der Welt, in ihrem Glücksjahr 1990 alles auf einmal: das Ende der Teilung ihres Staates und zum Bündnis mit der stärksten Macht der Erde nun auch noch die Freundschaft mit der zweitstärksten.

Der Mann im Kreml, soeben von seinem zunächst feindseligen, dann willfährigen Parteitag wieder zum Chef gewählt, schenkt Deutschlands Einheit in Freiheit einem Adenauer- oder gar Bismarck-Enkel aus der südwestdeutschen Provinz, auf den eher zutrifft, was Rußlands Chruschtschow einst über den sozialdemokratischen Weltmann Carlo Schmid gesagt hatte: »Gospodin Großgermanien«.

Westdeutschlands Kanzler hat sein eigenes schwaches Image einfach ausgesessen und dann große Politik gemacht, mit Instinkt für die Gunst der Stunde. Der »Wunderkohl«, so der Economist, betrieb seit vorigen Dezember beharrlich und ohne einen ernsten Fehler die Vereinigung der beiden deutschen Staaten fast im Alleingang.

Der Russe hatte dem Deutschen längst den verletzenden Goebbels-Vergleich von 1986 verziehen, jetzt ging es um Interessen. Der Kanzler berichtete, sein Partner habe sich gefragt: »Wie komme ich zu was?« Die Antwort sei zwingend gewesen: »Er weiß, daß alle Wege nach Europa über Berlin und die deutsche Einheit führen.«

Schon sehr bald, in dem ersten Vier-Augen-Gespräch mit seinem Bonner Gast in Moskau, machte Gorbatschow deutlich, daß er nicht vorhatte, diesen deutsch-sowjetischen Gipfel zu einem Gezerre um alte Rechtspositionen schrumpfen zu lassen. Der Präsident nahm - entgegen dem Ritual früherer Duelle - das Ergebnis vorweg: Die Sowjetunion sei bereit, die Viermächterechte für Deutschland und Berlin abzulösen, und gewähre dem einstigen Kriegsgegner die volle Souveränität.

Auf dem Flug von Moskau in seine Heimat Stawropol im Kaukasus hatte sich Gorbatschow mit Kohl ins Heck des komfortablen Präsidentenjets - Bett und Salon für jeden Minister - zurückgezogen. Kohl spielte seine »Trumpfkarte« (ein Kanzlervertrauter) aus: Ohne lange Diskussion bot er die Reduzierung der gesamtdeutschen Bundeswehr auf 370 000 Mann an.

Bislang stehen bei der Bundeswehr 480 000, bei der Nationalen Volksarmee noch 100 000 Mann im Sold. Die künftige Höchststärke sollte nach dem Willen von Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg erst im Herbst bei der Unterzeichnung eines ersten Wiener Abkommens über Truppenabbau genannt werden. Kohl in neudeutscher Souveränität: »Da frage ich doch keinen mehr.«

Für Gorbatschow war diese deutliche Verringerung symbolhaft: Nur so meinte er bei politischen Gegnern, aber auch bei besorgten Sowjetbürgern Verständnis dafür zu finden, daß die östliche Weltmacht das formal noch zum Warschauer Pakt gehörende Territorium der DDR bis 1994 von Sowjettruppen räumen will und an den Westen abtritt.

Ein gutgelaunter Gorbatschow bewirtete seine Gäste am Sonntag abend in einer romantischen Datscha in der Nähe von Stawropol. Rauch stieg auf, am Feuer brutzelte Fleisch an riesigen Schaschlikspießen. Kohl erwies sich als schlagfertig: Ob dieses ein erster Erfolg der sowjetischen Konversionsanstrengungen sei, Rüstungs- in Zivilproduktion umzuwandeln - von »Schwertern zu Schaschlikspießen«?

Spät am Abend bat dann Gorbatschow, man möge sich bitte mit den Ministern noch mal zusammensetzen, um ein Arbeitstableau für den nächsten Tag aufzustellen. Gorbatschow, Schewardnadse und der Vizepremier für Finanzen Stepan Sitarjan auf sowjetischer, Kohl, Genscher und Finanzminister Theo Waigel auf deutscher Seite hatten die Probleme rasch sortiert.

»Wir brauchen Argumente für unsere Völker«, leitete Gorbatschow ein. Und für den Nato-Beitritt brauche er neben der bereits zugesagten Truppenverminderung die Zusage, daß auf DDR-Gebiet keine westlichen ABC-Waffen, Atomwaffen und -träger verbracht werden dürfen. Das Einverständnis fiel den Deutschen, ohne ihre alten Westalliierten zu befragen, nicht schwer.

Auf der Schlußsitzung der Delegationen wurden dann die wenigen verbliebenen heiklen Punkte abgehakt. Die Deutschen kamen aus dem Staunen nicht heraus, so reibungslos lief das Geschäft. Mitgliedschaft in der Nato mit allen Rechten und Pflichten? »Gut«. Ob denn schon nach der Vereinigung territoriale, nicht der Nato unterstellte Bundeswehrverbände auf das ehemalige DDR-Territorium nachrücken könnten? »Gut«.

Kohl fragte: »Wie lange bleiben die sowjetischen Truppen?« Gorbi: »Drei bis vier Jahre«. Genscher: »Da darf nichts offenbleiben.« Es müsse heißen: »nicht länger als vier Jahre«.

Gorbatschow zögerte, er wollte weder einem Junktim mit der Reduzierung der Bundeswehr zustimmen, noch sich auf den Beginn des sowjetischen Truppenrückzugs festlegen. Genscher: »Es ist nicht wichtig, wann der erste, sondern wann der letzte geht.« Gorbi: Einverstanden. Bis spätestens 1994 soll alles vollendet sein.

Ohne zu zögern, gestanden die Sowjets zu, nach Abzug ihrer Truppen seien die Deutschen so souverän, daß sich auch in die Nato integrierte Verbände der Bundeswehr, jedoch keine ausländischen Einheiten östlich der Elbe aufhalten könnten - unter einer Bedingung freilich, schränkte Schewardnadse ein: Auch diese deutschen Nato-Einheiten dürften dort keine atomaren Trägerwaffen stationieren. Kohl und Genscher guckten sich an, souverän, und nickten. Abgehakt.

Genscher fragte nach der künftigen Präsenz »alliierter Truppen« in Berlin. Stumm, aber deutlich brachte Gorbatschow seine eigenen Truppen ins Spiel: Ohne ein Wort zu sagen, tippte er sich mit dem Finger auf die Brust. Damit war auch dieser Punkt klar: Solange sowjetische Soldaten in Berlin sind, dürfen auch die Streitkräfte der westlichen Verbündeten dort präsent sein, aufgrund bilateraler Verträge mit dem Westen.

Schewardnadse sprach dann die Finanzprobleme an. Tags zuvor hatte bereits Premier Ryschkow geklagt, bisher habe die Sowjetunion der DDR die jährlichen Stationierungskosten der Sowjetarmee mit sechs Millionen Tonnen Rohöl abgegolten. Wegen Preisverfall und der DM-Umstellung seien künftig elf Millionen Tonnen zu liefern.

Ein heikler Punkt war erreicht: Die Deutschen mußten - wenigstens optisch - den Eindruck vermeiden, daß die bereits mit den Sowjets ausgehandelten und noch zu vereinbarenden Zahlungen für Unterhalt und Abzug der Sowjetarmee bis 1994 als »Stationierungskosten« deklariert würden. Dieser Terminus würde sich mit dem Anspruch eines souveränen Deutschland nicht vertragen.

Flugs kam Genscher eine Idee: die Finanzierung in einem »Überleitungsvertrag über die Auswirkungen der Einführung der D-Mark in der DDR« gesondert zu vereinbaren.

So geschah es. Am Ende sagte Gorbatschow zu Genscher: »Nun haben Sie doch alles, was Sie vorgeschlagen haben.«

Als am Montag nachmittag die beiden Hauptakteure ihre Pressekonferenz im Kurheim von Schelesnowodsk beendet hatten, konnte Kanzlerberater Horst Teltschik das kaukasische Wunder immer noch nicht fassen - und dies, obwohl er des Kanzlers Erklärung mangels Schreibmaschine handschriftlich mit Großbuchstaben verfaßt hatte: »Damit haben wir nie und nimmer gerechnet.«

Die neuen Freunde demonstrierten neue Intimität. Sie setzten sich auf einen roten Mähdrescher, Gorbatschow erklärte seinem Gast, daß sich die Ernteerträge auch verdoppeln ließen, mit Rat und Tat aus Deutschland zu Lagerung und Transport.

Er brachte Kohl in den Kurort Mineralnyje Wody ("Mineralwasser"), wo er einst seinen Gönner kennengelernt hatte, den KGB-Chef Andropow, der ihn erst 1978 nach Moskau holte. Gorbatschow alberte über seinen größten Fehler, das Wodka-Verbot, worauf das fällige Lob deutschen Bieres folgte und der Wunsch nach dem Import ganzer deutscher Brauereien.

Er zeigte Kohl in der Stadt Stawropol seinen alten Schreibtisch, an dem er als Gebietsparteisekretär die Region verwaltet hatte. Und er flog mit ihm in die Berge (gerade so weit, wie die Deutschen 1942 vorgedrungen waren) zu der eleganten Datscha, die ihm als lokalem Parteigewaltigen gebaut worden war.

Dort nächtigten die beiden Weltpolitiker. Gorbatschow-Ehefrau Raissa, die Philosophin, pflückte auf dem Feld Blumen für den Deutschen.

Der beschwor urdeutsche Empfindungen, definierte »Heimat« - fühlbar, hörbar und sogar riechbar - als »besondere Wärme«, auch »Sprache der Erde«, und: »Hier kann man Erde riechen. Hier begreift man etwas von Rußland.« Da hüpft denn auch des Russen Herz.

Von Kant und Hegels Freiheitsbegriff war die Rede, danach prägte Gorbatschow das Schlüsselwort: »Wir fühlen, daß wir zusammengehören.«

Zwischen den Repräsentanten der beiden größten und von alters her unberechenbarsten Völker Europas stellte sich jene gefühlvolle Wohligkeit ein, die deutsch-russische Begegnungen so oft in der Geschichte kennzeichnete und die Welt selbst dann in bängliches Erstaunen versetzte, wenn sie für Europa von Vorteil war, etwa am historischen 30. Dezember 1812.

Da traf sich der Napoleon unterstellte deutsche General Yorck von Wartenburg mit seinem und des Korsen Gegner, dem russischen General Diebitsch, in der Mühle des ostpreußischen Tauroggen. Man erinnerte sich gemeinsamer Schulzeit und vereinbarte, daß Yorcks Preußen Napoleons Armee verließen.

Problematischer schon Rapallo 1922: Während der Genueser Weltwirtschaftskonferenz luden die Vertreter des jungen Sowjetstaats, die im Frack erschienen waren, die deutschen Delegierten heimlich zu einem Sonderweg ein, einer Verständigung der beiden Verlierer des Ersten Weltkriegs.

Die Deutschen mit Kanzler Joseph Wirth und Außenminister Walter Rathenau berieten nächtens und trafen sich am Ostersonntag anstelle des geplanten Kirchgangs mit den Russen im nahen Seebad Rapallo. Man vereinbarte, gegenseitig alle Reparationsansprüche zu streichen, diplomatische Beziehungen aufzunehmen - vom Westen wurde der Sowjetstaat noch boykottiert - und wirtschaftlich zusammenzuarbeiten.

Die Sache war so provokant, daß eine rechtsgerichtete französische Zeitung damals den Präventivkrieg forderte. Und tatsächlich erprobte die Reichswehr hernach insgeheim verbotene Waffen bei der Roten Armee: Panzer, Flugzeuge, Giftgas. Zu Recht wies Kanzler Kohl jeden Rapallo-Vergleich mit seinen Vereinbarungen im Kaukasus 1990 zurück. Der Economist titelte dennoch: »Stavrapallo«.

Schließlich der Coup des NS-Außenministers Joachim von Ribbentrop, der sich bei seinem Moskau-Besuch 1939 in sieben Verhandlungsstunden mit Stalin per Geheimvertrag Osteuropa teilte - was die UdSSR erst voriges Jahr eingestand. Sehr wohl gefühlt hatte sich Nazi Ribbentrop unter den Bolschewisten im Kreml, »wie unter alten Parteigenossen«. Stalin toastete auf Hitler.

Selbst bei Willy Brandts lockerem Badeurlaub mit Breschnew im Schwarzmeer-Kurort Oreanda bei Jalta 1971 kam jene Sentimentalität auf, die unbeteiligte Dritte betroffen macht und leicht das alte Klischee wiederbelebte: daß sie im Grunde Brüder seien, die Deutschen und die Russen, trinkfreudig, sangeslustig und immer bereit zu großen Taten für oder gegen die Menschheit.

Die beiden Weltveränderer im Kaukasus zeigten sich frei von der Empfindlichkeit Zukurzgekommener. Sie betrieben, wobei sich Gorbatschow auf Bismarck berief, »Realpolitik": Die deutsche Einheit, ja sogar ein Gesamtdeutschland, das der Nato angehört, entspricht neuerdings sowjetischen Interessen, nachdem solche Ansinnen 40 Jahre lang fast als Kriegsgrund gegolten hatten.

So ganz von der Hand zu weisen war der Rapallo-Vergleich aber doch nicht: Da arrangierten sich der Verlierer des heißen Krieges von 1945 und der Verlierer des Kalten Krieges von 1990. Risiken gibt es dabei durchaus.

Das kommende Deutschland, ob ihm nun die Sanierung seines Partners gelingt oder nicht, bindet sich trotz Nato und EG an die Sowjetunion und könnte seine westlichen Freunde gerade wegen der bestehenden Westallianzen in dieses historische Abenteuer ungewissen Ausgangs mit hineinziehen. Oder aber es könnte, bei westlicher Zurückhaltung, als alleiniger Konkursverwalter dastehen. Oder es könnte gar, wenn erfolgreich, die Welt mit neuer Arroganz der Macht schrecken.

»Es ist weise, wegen der bilateralen Natur der Vereinbarung zwischen den beiden Giganten Europas gewissermaßen auf der Hut zu bleiben«, mahnte denn auch der konservative britische Daily Telegraph, und »gemischte Gefühle« ortete Schwedens Dagens Nyheter: Deutschland werde »größer als seine Nachbarn und erhält dementsprechend Einfluß und Verantwortung«.

Eine Spur eigener Überbewertung zeigte selbst der ansonsten zurückhaltend auftretende Kohl in der eigenmächtigen Zusage des Abzugs seiner Westverbündeten aus Berlin und der atomwaffenfreien Zone zwischen Elbe und Oder.

Jim Hoagland, Pulitzer-Preisträger von der Washington Post, nennt das ein Fait accompli und einen Präzedenzfall künftiger deutsch-sowjetischer Sonderwege. Die Schweizer Weltwoche sah schon »den Weg für einen rapiden Aufstieg der Deutschen in den Status einer Weltmacht«, was in der Vergangenheit stets fatale Folgen hatte: »Ob das nun gutgeht?« Kohl: »Wir sind keine Weltmacht, und ich halte es für töricht, Weltmachtträume zu träumen.«

Das Unbehagen der Nachbarn rührt vor allem aus dem Gefühl, daß ihnen gar keine andere Möglichkeit geblieben war - so elementar hatten sich der Zusammenbruch des östlichen Systems und der deutsche Einigungsprozeß vollzogen.

Schon vor einem Jahr, als Gorbatschow die Wiedervereinigung noch als historisch »unrealistisch« einstufte und die Berliner Mauer noch unversehrt stand, kündigte der konservative britische Journalist Peregrine Worsthorne im Sunday Telegraph an: »Wenn Europa, die Wiege der Zivilisation, jemals wieder geeint und gekräftigt sein soll, dann kann nur Deutschland, in Partnerschaft mit den Russen, dieses Wunder vollbringen. Aber kann man dem Land trauen? Eine müßige Frage - es gibt in Wahrheit keine Alternative.«

Es ist Helmut Kohls Leistung, das Einheitsverlangen der DDR-Deutschen in der Völkergemeinschaft abgesichert, die fugenlose Zustimmung des Westens erreicht zu haben - und sich nun an das russische Wunder zu wagen. Er konnte die Zweifel weitgehend ausräumen, ob man den Deutschen dabei trauen kann.

Vergessen war die Sorge der New York Times vom Mai vorigen Jahres, »daß ein ungezügeltes Deutschland wiederum seine Macht gen Osten ausdehnt - diesmal nicht durch Eroberung und Invasion, sondern mit Hilfe von Verträgen und Investitionen. Anschließend könnte es diese neu geballte Macht auch dem Westen gegenüber ausspielen«.

Moskaus Militärzeitung Krasnaja swesda erweckte den Eindruck, als ob die mächtigsten Streitkräfte des Kontinents nach langem Schlaf eine neue Sicht der Wirklichkeit überwältigt habe: »Man kann nur staunen, daß die unnatürliche Spaltung des größten europäischen Staates so lange gedauert hat« - wobei das Sprachrohr der Sowjetarmee verdrängte, daß Europas größter Staat immer noch (und immer mehr) die UdSSR selbst ist.

Allerdings - in der Sowjetunion muß der Schock der neuen Zeit erst noch verarbeitet werden, der Oberste Sowjet muß alle Abreden über den militärischen Status Deutschlands ratifizieren. ZK-Berater Nikolai Portugalow, langjähriger Befürworter der deutschen Einheit, zweifelt an ungeteilter Zustimmung: »Wird es dem geeinten Deutschland, diesem Koloß, gelingen«, so fragt er aggressiv, »mit der harten Mark zu vollbringen, was Hitler mit Feuer und Schwert nicht hat erreichen können?«

Seine ZK-Abteilung für Internationales (Chef: Walentin Falin, neuerdings ZK-Sekretär) hatte eine gesamtdeutsche Nato-Mitgliedschaft noch bis zum Schluß zurückgewiesen und für Neutralisierung plädiert - mit Rücksicht auf die Stimmung in der KPdSU.

Auf dem Parteitag, der vor der Begegnung mit Kohl zu Ende ging, klagten erzürnte Delegierte Gorbatschow an, er habe Bonn »die DDR zum Geschenk gemacht«. Politbüromitglied Jegor Ligatschow, inzwischen nicht mal mehr ZK-Mitglied, sprach von einer »Annexion oder besser dem Schlucken der DDR durch die Bundesrepublik« - was er für eine »gefährliche Verletzung der europäischen Stabilität« hielt, die »vollständige Annullierung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs«.

Gorbatschow, von einer Partei zum Generalsekretär wiedergewählt, der er zuvor das Machtmonopol abgesprochen hatte, dürfte seine schwersten Bataillen noch vor sich haben, da er das Ziel einer Befreiung Rußlands offenbar von allen Widerständen unbeirrt verfolgt. Während Gorbatschow mit Kohl fraternisierte, begab sich Unerhörtes vor dem Moskauer Kreml, Zehntausende skandierten: »Kommunistische Partei auf den Müllhaufen der Geschichte.«

Im Kaukasus wirkte er auf seinen Gast »wie ein Mann, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte und zum Durchbruch bereit war«. Wird sich aber das Militär so beugen wie die Partei?

Der Befehlshaber des Wehrkreises Wolga-Ural, Generaloberst Albert Makaschow, behauptete vor russischen Parteitagsdelegierten, Stalin habe den Zweiten Weltkrieg gewonnen, den Gorbatschow jetzt gerade verliere. »Studierte Pfauen« nannte er sorglose Leute wie den Kommentator Alexander Bowin ("Wir brauchen uns vor niemand zu fürchten, nicht einmal vor dem vereinigten Deutschland"), meinte aber auch seinen Parteichef.

Selbst Verteidigungsminister Marschall Jasow warnte noch vor wachsender Stärke der Nato, obschon diese laut Londoner Erklärung in der UdSSR keinen »Gegner« mehr sieht. Und Admiral Chwatow, Chef der Pazifikflotte, schlug laut Alarm: »Wir haben alle Verbündeten im Westen verloren, wir haben keine Verbündeten im Osten. Folglich sind wir zurückgeworfen auf die Lage von 1939.« Das war freilich eine Art Plädoyer für Gorbatschows Pakt mit Kohl.

Auf dem Parteitag trat Außenminister Eduard Schewardnadse mit einem flammenden Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht auch des deutschen Volkes für seinen Präsidenten ein. Doch am 22. Juni beim Außenministertreffen in Ost-Berlin hatte auch er noch empfohlen, für die nächsten fünf Jahre solle das DDR-Territorium dem Warschauer Pakt unterstellt bleiben, die Bundeswehr halbiert werden. Die Westalliierten aber - eine Idee, mit der Chruschtschow 1959 die Stadt einsacken wollte - müßten binnen sechs Monaten aus West-Berlin verschwinden.

Sein Vize Julij Kwizinski blieb bis zuletzt dabei, die Westgruppe der Sowjetarmee müsse länger als vier Jahre in Mitteleuropa stationiert bleiben. Ihm ging alles zu schnell. 1988 hatte er noch getönt: »Die davon träumen, daß im Ergebnis der Perestroika der Sozialismus und die bestehenden territorialen und politischen Realitäten in Europa zur Disposition stünden, irren sich gewaltig.«

Und noch vorletzten Sonntag bestand er gegenüber Genscher darauf, die deutsche Souveränität habe bis zur Ratifizierung des Grenzvertrages mit Polen zu warten. Genscher rechnete mit einem Durchbruch erst im September.

Den Showdown der vorigen Woche vollzog der Präsident der UdSSR allein, beraten nur von seinem »Gehilfen« (so der amtliche Rang) Anatolij Tschernjajew, 69, der auch in Schelesnowodsk dabeiwar. Der Kriegsteilnehmer und promovierte Historiker hatte an der Moskauer Lomonossow-Universität in den fünfziger Jahren den Jurastudenten Gorbatschow Politik gelehrt.

Über die Deutschen informiert ihn ein anderer seiner Schüler, Professor Wjatscheslaw Daschitschew. Der hörte auf einem Seminar im schwäbischen Schloß Weikersheim am 27. Mai die Beschwerde, wenn es kein neues Versailles geben solle, müsse Moskau den US-Standpunkt einer vollen Souveränität für Deutschland übernehmen.

Daschitschew notierte sich die Formel, die sich Gorbatschow dann zu eigen machte: »Das vereinigte Deutschland wird in eigener, souveräner Entscheidung darüber befinden, ob und welchem Bündnis es angehört.«

Von Gorbatschow hieß es, er habe die Deutschen nie recht gemocht. Er kannte nur wenige - einen Besatzer-Feldwebel, der das Kind Mischa 1942 zur Landarbeit zwang, einen Tankwart an der Frankfurter Autobahn, der ihn 1975 an Stalins Einheitsversprechen für Deutschland gemahnte, den als Roboter empfundenen Honecker und den großmäuligen Krenz, den Pensionär Brandt und den Beleidiger Kohl.

Aber da war auch Matilda Ignatenko, Gorbatschows Lehrerin 1946/47, eine Rußlanddeutsche, die ihm im Fach Deutsch eine schlechte Note gab. Mischa, 15, revanchierte sich mit einem Test ihrer eigenen Kenntnisse - einer Liste deutscher Worte, die er aus einem vom Vater aus dem Krieg mitgebrachten Lexikon (falsch) abgeschrieben hatte und der Lehrerin vorlegte.

»Solche Worte gibt es in der deutschen Sprache nicht«, befand Frau Ignatenko. Als sie ein deutsches Gedicht aufgab: »Lenin war ein Freund und Führer«, bezichtigten die Schüler sie faschistischer Propaganda, sie vergleiche Lenin mit Hitler. Das war lebensgefährlich. Mischa rettete Matilda, mit dem Lexikon belegte er, das Wort »Führer« sei kein Nazi-Begriff.

Sie gab ihm etwas über den deutschen Ingenieur und Unternehmer Robert Diesel zu lesen, über den Gorbatschow alles wissen wollte. Die in Rußland verbreitete Bewunderung für deutsche Technik und Organisation hat sich ihm demnach früh mitgeteilt. Die beiden Völker, bot er sich Kohl an, verfügten über alle »Möglichkeiten und Traditionen«.

Die Kooperation zwischen Russen und Deutschen hat eine lange Geschichte. Stets bezogen die Russen ihre Entwicklungsmodelle aus Deutschland - die Städtefreiheiten Peters des Großen, die »Burmistry« (Bürgermeister), das »Ratuscha« (Rathaus), die »Landratory« (Landräte), den Marxismus, Ludendorffs Kriegswirtschaft und nun die »regulierte Marktwirtschaft«.

Zar Peter, Rußlands erster Reformer, holte sich den Holsteiner Fick und den Schlesier von Lüberas als Berater zur Errichtung der Ministerien für Bergbau und Manufaktur, auch den Kanalbauer Burchard Münnich. Die Zarin Anna Iwanowna ließ sich von dem Bochumer Ostermann beraten, Münnich stieg zum Feldmarschall auf. Ihr Favorit Ernst Johann von Biron ließ die russischen Kadetten nicht russische, sondern deutsche Geschichte lernen.

Die Zarin Katharina II. war selbst eine Deutsche. Als Beamte, Lehrer, Kaufleute, Bauern und Offiziere stellten fortan die Deutschen bis zur Revolution das stärkste Kontingent ausländischer Entwicklungshelfer in Rußland.

So soll es nun wieder sein, obwohl sich Rußland gegenüber seinen deutschen Untertanen ungnädig und Deutschland gegenüber den Russen verbrecherisch verhalten hat. Moskowskije nowosti:

Die Sowjetunion braucht nicht nur das Kapital der Deutschen, ihre hochqualifizierten Anlagen, guten Konsumgüter und ökologisch reinen Lebensmittel. Am meisten brauchen wir vielleicht sie selbst. Damit wir sie unter uns haben und sie mit ihrem Beispiel helfen, die schweren wirtschaftlichen Aufgaben zu bewältigen.

Daran denkt Gorbatschow wohl zuerst bei der beabsichtigten Zusammenarbeit: daß deutsche Fachleute zuhauf sein Land beraten, das ohne Bauern und Kaufleute, ohne Manager und motivierte Arbeitskräfte, ohne Gewerkschafter, Bankiers, Buchhalter und Anwälte den Kapitalismus erlernen soll, und zwar dessen deutsche, sozialdemokratisch abgefederte Version, nicht das Manchestertum der Margaret Thatcher oder der Chicago Boys.

»Die Vorzüge der Marktwirtschaft wurden weltweit unter Beweis gestellt«, eröffnete Gorbatschow dem Parteitag, »und die Frage besteht jetzt nur darin, ob unter Marktbedingungen eine soziale Sicherheit zu gewährleisten ist.«

Die Kapitalisierung der DDR scheint da als eine Art Test zu dienen: »Es geht um den Übergang vom Sozialismus, wenn auch dem ,preußischen', zum Kapitalismus oder, wie man sich in der BRD so schön ausdrückt, zur ,sozialen Marktwirtschaft'«, äußerte Kolumnist Bowin. »Ohne Zweifel werden die Deutschen als die ,Ersten in der Welt' diese Aufgabe bewältigen.«

Der Übergang zur Marktwirtschaft in der Sowjetunion birgt nach doppelt so langer Entwöhnung von selbständigem Denken, Wagen und Leisten hundertfach die Probleme des Wandels in der DDR. Das Ruinenfeld scheint grenzenlos: Bankrott der alles verzehrenden Schwerindustrie, ein Dutzend Millionen Arbeitslose sowie die Versuchung der unter Massenarmut und Nationalitätenkämpfen leidenden Menschen, das Heil in faschistischen Lösungen zu sehen.

Die Deutschen sollen einen Ausweg finden, und Kohl bietet ihn an. Schon erlernen Tausende Sowjetbetriebsleiter in der Bundesrepublik Management und Grundbegriffe der Volkswirtschaftslehre.

Die Hilfspersonen könnten, laut Gorbatschow, am besten aus der - gewandelten - DDR kommen, wo 100 000 Einwohner Russisch sprechen: »Das ist die Brücke.« Die DDR-Betriebe, bisher wichtigste Außenhandelspartner der UdSSR, sollen auch weiter für die Sowjetunion arbeiten - das hat Kohl schon im Februar zugesagt.

Damals brachte er eine Lebensmittelspende im Werte von 220 Millionen Mark nach Moskau mit - die Morgengabe hat die Sowjetkonsumenten bisher nicht erreicht. Gründe, laut Komsomolskaja prawda: »Übermäßig lange Prüfung der Fleischprodukte durch den sowjetischen Veterinärdienst, die unterschiedliche Spurbreite der Bahnen in der Sowjetunion und im Westen, das Fehlen von Waggons.«

Ein Drei-Milliarden-Kredit der Deutschen Bank wurde vertan, weil mit den Maschinen für die Konsumgüterproduktion nicht auch das nötige Know-how eingekauft worden war - Consulting, Installierung, Marketing, in der UdSSR noch unbekannte Künste. Auch Betriebswirte und Mechaniker samt Werkzeug müssen importiert werden.

Erstmals seit Jahrzehnten ist die sowjetische Außenhandelsbilanz negativ, der bislang zuverlässige Schuldner UdSSR steckt in einer schweren Liquiditätskrise, Rechnungen über anderthalb Milliarden Mark blieben unbezahlt. Bonn half schon mit fünf Milliarden aus, auch um die deutschen Lieferanten zu löhnen. Finanzexperten werden gebraucht und am Ende wohl auch Burmistry und Landratory.

Und bares Geld. Drastisch erläuterte Gorbatschow Kohl, was ihn jenseits aller systembedingten Mißerfolge in Bedrängnis gebracht habe:

▷ Der Verfall der Energie- und Rohölpreise habe eine zweistellige Milliardensumme in Dollar gekostet;

▷ die Katastrophe von Tschernobyl verschlinge 15 Milliarden Dollar;

▷ die Afghanistan-Lasten lägen bei sechs bis sieben Milliarden Mark, und

▷ der Alkoholismus im Lande richte jedes Jahr Schäden von über zehn Milliarden Dollar an.

Gorbatschow gab sich vorige Woche ein wenig hoffärtig: Von der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds lasse er sich nichts vorschreiben, »das macht unser stolzes Volk nicht mit«. Dann bat er kaum verhüllt um Geschenke:

Rettungsringe für uns? Nein! Wir wollen keine Almosen, wir erwarten keinen Gefallen. Es geht um etwas geschichtlich viel Größeres als nur um eine Änderung dessen, was war. Uns geht es um neue Lebensformen für künftige Generationen. Da wäre jeder Streit über die Rückzahlung unserer Schulden, um die Prolongation zu passenderen Bedingungen, kleinkariert.

Wollte Kohl dem Russen etwas bieten, mußte er die riskante Rolle eines Zahlmeisters der Perestroika übernehmen. Doch auf dem Wirtschaftsgipfel zu Houston scheiterte er mit seiner Forderung nach einer Subvention für Moskau von 15 bis 20 Milliarden Dollar.

»Hier ist nichts abzukaufen. Hier geht es nicht um Deutschland gegen Kredite«, hatte Gorbatschow gleich zu Beginn der Gespräche wacker behauptet. Zurück in Bonn, versicherte Kohl: »Wir haben über konkrete Bürgschaften oder ähnliche Bedingungen nicht gesprochen.«

Das mag stimmen. Falsch aber wäre die Vorstellung, die in Schelesnowodsk verkündete deutsch-russische Allianz in »Fragen allerhöchster Strategie« (Gorbatschow) habe mit Geld nichts zu tun. Die kaukasische Feier wird noch teuer.

Allein die Posten, die in Kohls triumphierend vorgetragenen acht Punkten ganz beiläufig enthalten sind, erreichen bei haushälterischem Aufrechnen stattliche Milliardensummen.

Beide Seiten bestreiten, für die Sowjetgarnison in der Ex-DDR würden Milliarden an Stationierungskosten fällig. Das Wort ist tabu. Im zweiten Halbjahr 1990 hat Bonn dafür 1,25 Milliarden Mark überwiesen. Im nächsten Jahr werden 2,5 Milliarden Mark fällig, wofür Erdgas angeliefert werden soll. Die Summe sinkt erst, wenn nennenswerte Kontingente der Sowjetarmee ins Russenreich zurückgerollt sind.

Fest zugesagt hat Kohl »technische Hilfe« bei ihrer raschen Rückführung - einige Milliarden für ein Obdach in ihrer Heimat und für die Umschulung von etwa 50 000 Offizieren.

Sorgfältig soll bei dieser Operation der Anschein vermieden werden, Bonn baue Kasernen für abziehende Krieger, das gefiele den Nato-Verbündeten nicht und brächte auch Gorbatschow in Verlegenheit. Denn es führt wohl zu sozialen Spannungen, wenn die Ex-DDR-Besatzer gleich nach ihrer Rückkehr Unterschlupf in Neubauten fänden, auf deren Zuteilung normale Sowjetbürger schon Jahre warten. Deshalb heißt der Handel: Bonn hilft beim Wohnungsbau, wer einzieht, ist Sache der Sowjets.

Großzügigkeit soll für Tempo beim Rückzug sorgen. Dieses Tempo, erläuterte Kohl seinem Partner in der kaukasischen Idylle, liege auch im Sowjetinteresse. Denn die Rotarmisten würden in der DDR Zeuge eines raschen Aufschwungs: Je länger sie blieben, desto mehr dränge sich ihnen die Frage auf, warum es in der Heimat so schleppend vorangehe. Das, so Kohl, sei ein soziales Unruhepotential.

Kohl erneuerte im Kaukasus sein Versprechen, Wirtschaftsverträge zwischen Moskau und Ost-Berlin zu schützen, die Sowjets vor Nachteilen aus der Einigung Deutschlands zu bewahren. Aus den Experten-Analysen in seiner Vorbereitungsmappe wußte er genau, daß diese Zusage schmerzhaft teuer wird.

Für das zweite Halbjahr 1990 hatte die DDR zur Stützung der nicht kostendeckenden Geschäfte mit Moskau einen Beitrag von zwei Milliarden veranschlagt. »Es ist allerdings fraglich, ob dieser Betrag ausreicht«, sorgten sich die Beamten in ihrer Expertise für den Kanzler. Denn offensichtlich steigere die DDR »aus beschäftigungspolitischen Gründen« ihre Exporte und habe die Lieferung zusätzlicher Konsumgüter vereinbart, die nach eigener Abschätzung Exporthilfen von 460 Millionen Mark erfordern: »Interne Schätzungen im Bundeswirtschaftsministerium gehen darüber noch erheblich hinaus.«

Legt der Finanzminister diese Zahlen zugrunde, hat er 1991 einen Fünf-Milliarden-Klotz allein aufgrund der politisch gebotenen Kanzler-Garantie für marktwirtschaftlich unsinnige Staatshandelsgeschäfte am Bein. Dem stehen zwar in gewissem Umfang Transferrubel-Forderungen gegenüber. Doch die Fachleute sind nicht gerade hoffnungsfroh, was solch ein Schatz wert ist.

Das alles hat der Kreml-Chef politisch bereits ebenso konsumiert wie die Fünf-Milliarden-Bürgschaft der Bonner Gäste, für die Gorbatschow sich mehrfach bedankte: »Sie waren die ersten. Wir werden nicht vergessen, was Sie für uns unternommen haben.«

Zwar gab es kein geheimes Zusatzprotokoll über einen Kaufpreis für die Herausgabe des sowjetischen Pfandes, der DDR, doch sowjetische Erwartungen wuchern, beflügelt unter anderem durch ein Angebot, das einige westdeutsche Industrielle als Preis der Einheit Moskau gegenüber angedeutet hatten - vor einem Jahr, vor der Vereinigung von unten.

Demnach sollten als weithin projektgebundene Kredite, »Hilfe zur Selbsthilfe«, innerhalb von zehn Jahren drei bis vier Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts nach Rußland fließen. Das wären ungefähr 100 Milliarden Mark.

Die nicht eben seriöse Offerte, die als Versuch zur Eroberung des sowjetischen Marktes erscheinen konnte, stieß auf ebenso seltsame Reaktionen: Im Moskauer Außenministerium löste sie Jubel aus, während ZK-Außenminister Falin an den Rand der Eingabe schrieb: »Verrat des Sozialismus«. Aber die Illusionen waren geweckt.

Gorbatschow tröstet frustrierte Funktionäre und meuterndes Volk mit dem Prinzip Hoffnung, das im Sowjetfernsehen bereits »Germanija« heißt. Das bedeutet aber auch: Versagt sich der als unermeßlich reich angesehene Gläubiger, ist der ein Sündenbock.

Kohl kennt das Dilemma: Deutschland allein könne kein »Gesamtpaket von Hilfen« schnüren, sagte er, damit »würden wir uns völlig übernehmen«, zumal ganz Osteuropa mit Fug nach der Deutschmark greift.

Die Deutschen können geltend machen, daß ein Erfolg der Perestroika im Lebensinteresse des gesamten Westens liegt, aber nur in Zusammenarbeit mit allen Industrieländern zu schaffen ist.

Dem Deal der UdSSR mit den Deutschen müßte ein ähnlicher Wirtschaftspakt mit der westlichen Welt folgen. Rußlands Schwäche kommt sie kaum teurer zu stehen als die Rüstungsmilliarden, die Rußlands Stärke sie bislang gekostet hat - »eine schöne Revanche des Handels«, bemerkte die Pariser Wirtschaftszeitung Les Echos, »der seit dem Verschwinden der Hanse auf diese Weise wieder zu Ehren kommt«.

Mag sein, daß sich die anderen bald beteiligen, die USA nach den Kongreßwahlen im November, die Japaner nach einer Rückgabe der Kurilen-Inseln durch Moskau, und daß die deutsche Geldmaschine nur das Antriebsrad zu sein braucht.

Kohl-Berater Teltschik setzt mehr auf die Europäer: Er glaubt, ein Konsortium unter Einschluß der Schweiz, Hollands, Österreichs zusammenzubekommen, das für die gewiß nötigen 15 Milliarden Dollar geradesteht. Washington könnte einer renommierten Consulting-Firma einen Dauersitz in der Sowjetunion finanzieren. Diese Experten sollten dann dafür sorgen, daß mit den Milliarden effektiv an besserer Ausbeutung von Energie und Rohstoffen gearbeitet und, beispielsweise, die Güterverteilung in dem Riesenreich verbessert wird.

Doch die Westdeutschen werden vor allen anderen zahlen müssen: Allein ihr Warenhandel mit dem Ausland erbrachte von Januar bis Mai einen Überschuß von 56 Milliarden Mark. »Für die Einheit«, findet auch Berlins Walter Momper, »ist nichts zu teuer.«

Greifen die Sowjetreformen (schon gibt es genug Zucker und Seife), scheint Gorbatschows Ziel nicht irreal, um die Jahrhundertwende seinen Sowjetbürgern wenigstens den Lebensstandard der DDR der achtziger Jahre bescheren zu können. Öffnet sich den Russen und ihren Mit-Völkerschaften die Tür nach Europa, dringt der Geist des Abendlandes bis Wladiwostok am Stillen Ozean.

»Die liberalen, demokratischen Werte des Westens teilend, unwiderruflich in die westlichen Institutionen eingebaut und im Besitz einer dynamischen Wirtschaft, ist Deutschland am besten befähigt, Osteuropa und Rußland für den Westen zu gewinnen und zu halten«, urteilt Robert G. Livingston von der amerikanischen Johns Hopkins University.

Und die sonst oft so Deutschlandskeptische New York Times kannte in ihrer Kohl-Bewunderung nun kein Halten mehr: »Gorbatschow mag der Mann der achtziger Jahre gewesen sein. Wie es aussieht, wird Kohl die Titelfigur der Geschichte der Neunziger werden.«

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