Die Inszenierung Politik
Hundert Jahre muß es her sein, daß er in der dunklen Kirche stand und predigte, über Jericho und über den »Ton, der Mauern zum Einstürzen bringt«, und mit allen zusammen betete in dieser dicht gedrängten Katakombe, für die Menschenrechtler, die verhaftet worden waren, und für den Mut und den gemeinsamen Widerstand der Machtlosen.
Jetzt ist er Gast im Amtszimmer des Parlamentspräsidenten von West-Berlin und hat Macht. Gediegene, dunkelgetäfelte Salonstimmung. Draußen ist Sommer, Ferienzeit, und ein paar Kilometer weiter weg die milde Anarchie eines steuerlosen Landes. Die Mauern von Jericho sind gefallen, und der Präsident, der alte Politprofi Jürgen Wohlrabe von der CDU, sagt: »Ich habe gehört, daß Sie für die Requirierung von öffentlichen Gebäuden drüben zuständig sind.« Thomas Krüger nickt. Er ist Stadtrat für Inneres des Ost-Berliner Magistrats. Im Westen heißt das: Innensenator.
Ein langer, polierter Konferenztisch. Krüger schaut meditierend auf ein abstraktes Gemälde. Einer aus Wohlrabes Crew bemerkt den Blick und sagt, wohl um die Stimmung aufzulockern: »Det kann ick Ihnen in drei Minuten pinseln.« Thomas Krüger lächelt nach innen. So ungefähr muß ein Treffen von Gesandten aus verschiedenen Sonnensystemen aussehen. Auf der einen Seite Verwaltungsprofis in italienischen Anzügen, die die »Gefechtslage« besprechen wollen. Auf der anderen Seite . . . nun ja.
Es ist nicht das scheußlich gerippte tintenblaue Kunststoffsakko, in dessen Brusttasche ein Dutzend billiger Plastickugelschreiber beulen. Auch nicht der blaurote Primanerschlips über weißer Hemdenbrust. Nein, es ist dieser zerfranste, wuchernde, russisch-orthodoxe Siebziger-Jahre-Vollbart, der jedem Westprofi signalisiert: Dieser Typ wird dir auf die Nerven gehen. Und darüber stehen schräge, blaue, freundliche Mongolenaugen.
»Sind Sie Jurist?« fragt Wohlrabe. »Nein, Theologe.« »Ach du Schande . . . evangelisch?« »Ja.« »Ick ooch. Wat ham Se jemacht?« Krüger erzählt von der »Kirche von unten«. Wohlrabe unterdrückt ein Gähnen. Seine Crew starrt entgeistert auf diesen merkwürdigen Popen. Schließlich kommt Wohlrabe zur Sache. Er sucht Raum im Osten: ein neues Gebäude für das Gesamtberliner Parlament. Er will den ehemaligen Preußischen Landtag. »Wer sitzt da drin? Herr Pohl! Ein sterbendes Ministerium. Det macht sowieso schon der Haussmann mit seinem Laden. Und die paar, die übrigbleiben, übernimmt er gleich mit.«
Wohlrabe drängt. »Fragen Sie nicht lange, ob Bonn es haben will - Bonn will alles.« Verschwörerisch beugt er sich zu ihm. »Klären Sie den Acker, ich klär' die Kohle.« Bis zum 6. September will er die Sache über die Bühne haben. »Geld gibt's nur einmal, und zwar jetzt.« Krüger schweigt verbindlich. Wohlrabe braucht ihn.
Nun, sagt er später in der Kantine, hat er eine Karte mehr im Blatt. Und er wird sich überlegen, wann er sie ausspielt. Politik - eine hinreißende Inszenierung. In der rechten Hand balanciert er zerkochtes Huhn mit Reis. In der linken einen kiloschweren Papierstapel. Den Einigungsvertrag. Krüger ist Ost-Berliner Verhandlungsführer.
Pfarrersohn Krüger, Plaste-und-Elaste-Facharbeiter, Absolvent des evangelischen Sprachenkonvikts, Mitorganisator der Kirche von unten ("gegen die langweilig-angepaßte Eppelmann-Linie"), ist ein politischer Senkrechtstarter. Im Oktober vorigen Jahres gehörte Krüger zu den Gründungsmitgliedern der Ost-SPD. Ein gutes halbes Jahr später feierte er als Stadtrat im Roten Rathaus seinen 31. Geburtstag.
Ein denkwürdiger Tag. Seine Mannschaft hatte ihm, dem politischen Neuling, am Morgen einen Fallschirm geschenkt. Und mittags riefen Tausende auf dem Platz vor dem Rathaus wütend »Krüger raus«. Thomas Krüger hatte den Beschluß 27/90 in die politische Arena gebracht, eine Art Säuberungsverfahren, mit dem die leitenden Stadtangestellten zu Auskünften über ihre frühere Tätigkeit gebracht werden sollten. Die PDS hatte daraufhin ihre Jubelperser mobilisiert. Seine eigenen Fraktionskollegen gingen vorsichtig auf Distanz. Doch Krüger trat vor das Rathaus und begründete seinen Beschluß. »Das war wie im Rausch«, sagt er.
Seither ist Thomas Krüger weit und breit der einzige Amtsträger, der entschlossen die Entstasifizierung vorantreibt und der, ein halbes Jahr nach dem Fall der Mauern von Jericho, gegen das Kartell des Verschweigens und Verdrängens angeht, mit dem Diestels Innenministerium »Geschichte bewältigt«. Dennoch ist Krüger kein theologischer Fundamentalist, eher ein Spieler mit Prinzipien.
Deutsche Politik, Berliner Politik in diesen Tagen ist zunächst eine geographische: Sie besteht in der Besetzung von Räumen. Seine SED-Vorgänger hatten das Innenressort besenrein übergeben - so ziemlich alle Unterlagen über die Struktur der Dienststelle waren vernichtet. Gereinigte Gebäude mit Angestellten ohne jede Vergangenheit. Schließlich durfte, noch unter Modrow, jeder seine Kaderakte säubern. »Es gab plötzlich keine Hauptabteilungsleiter mehr. Die hatten sich alle zu Referatsleitern degradiert, wohl nach dem Motto: Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.« Er lächelt. »Aber Politik funktioniert anders als die Bibel.«
So führt er denn seine 27/90-Gespräche beharrlich weiter. Gestern hatte er einen stellvertretenden Bezirksbürgermeister und Wahlfälscher bei sich, den Modrow noch in seinem Amt bestätigt hatte und der sich damit verteidigte, daß er doch nur sein »Plansoll« erfüllt habe.
Jetzt sitzt Krüger an seinem Schreibtisch in Hohenschönhausen und unterzeichnet den Entlassungsbrief. Vor wenigen Monaten noch saß Oberst Franz an diesem Tisch, Chef der Stasi-Hauptabteilung XXII, die sich um die RAF-Terroristen kümmerte. Größtes Möbelstück ist eine Maschine zur Vernichtung von Akten.
Krüger weiß, daß er in diesem verwüsteten Übergangsland der Noch-DDR hier draußen, zwischen immer noch streng bewachten Betonwürfeln und staubigen Grasnarben, nur ein Übergangspolitiker ist. Einer, der ein Fahrrad fährt, dessen Zahnräder zunehmend ins Leere greifen. Im doppelten Kampf gegen politische Altlasten und die Annexionsgelüste aus dem Schöneberger Rathaus bleibt ihm oft nicht mehr als die Politik-Inszenierung, die symbolische Eroberung öffentlicher Räume. Jede Pressekonferenz ist Terraingewinn.
Zu seinen Stärken gehört, daß er die Groteske dort entdeckt, wo andere zur »Normalität« übergehen. Er staunt und setzt dieses Staunen in Szene. Früher hat er jahrelang Theater gespielt - jetzt läßt er jede Woche »eine neue bunte Kuh steigen«. Die Wirklichkeit hilft ihm.
Überall stößt man in diesen Tagen auf Untertunnelungen, auf Geheimräume, auf Maulwurfshügel. Da war die Geschichte mit dem Tunnel unter dem Boulevard »Unter den Linden«. Früher war er von Kampfgruppen genutzt worden. Jetzt, sagte die Polizei bei einer Pressebegehung, ist der Tunnel stillgelegt. Im gleichen Moment klingelte, hinter einer verschlossenen Eisentür, ein Telefon. Sofort setzte Krüger eine erneute Pressekonferenz an.
Oder die Chiffrierräume in den Rathäusern, mit ihren Leitungen bis zum Innenministerium. Noch nicht einmal die Bürgermeister hatten Schlüssel zu diesen Räumen, und jeden Morgen gingen dort, hinter verschlossenen Türen, die Damen und Herren weiterhin ihrer Arbeit nach. Nun diktiert Krüger Kündigungen: »Seit der demokratischen Umgestaltung des Magistrats sind alte Einrichtungen überflüssig geworden . . . bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen . . .«
Innenminister Diestel, der zunächst mal gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten »einen halben Tag lang lachen mußte«, als er von den Chiffrierräumen hörte, sprach von »ganz normalen Einrichtungen, wie sie im Westen auch üblich sind«. Was aber ist normal? Und was wurde »normal« genutzt in einem paranoiden Überwachungsstaat?
Und vor allem: Seit wann ist diese Überwachung Vergangenheit? Ralf Hirsch, Krügers Referent, der gleichzeitig Mompers Referent ist ("damit wir uns besser ausspionieren können"), war früher als Menschenrechtler observiert und verhaftet worden. Jetzt hat er Einsicht in seine Akte nehmen dürfen - sie war noch bis zum 1. April dieses Jahres weitergeführt worden.
Für den jungen Ralf Hirsch war die Akteneinsicht lebenswichtig - die Bild am Sonntag hatte ihn als Stasi-Spitzel verleumdet. Hirsch konnte das Gegenteil beweisen. Der Springer-Verlag bezahlte 50 000 DM Schmerzensgeld, die jetzt einem Fonds für Stasi-Opfer zufließen sollen.
Die Akten: Herrschaftswissen, Erpressungsmaterial, gefährlich in den Händen einer exklusiven, politischen Powergroup. Ibrahim Böhme, der seit einigen Wochen für Thomas Krüger als Polizeibeauftragter arbeitet: »Ich rate jedem, der seine Akten einsieht, einen Psychiater mitzunehmen. Und solange der Diestel darüber verfügt, werden immer wieder Personen stolpern.«
Während der bedenkenlose CDU-Neuling Diestel die Stasi-Akten möglichst schnell vernichten will, ist Thomas Krüger für deren Offenlegung. Während der Innenminister die Erde über der Geschichte platttreten möchte, betreibt Krüger politische Archäologenarbeit. Seine engsten Mitarbeiter kommen aus dem Westen, etwa der besonnene Verwaltungsprofi Peter Haupt, den West-Berlins Innensenator Pätzold auf den frisch inthronisierten Krüger ansetzte. »Such ihn dir«, sagte Pätzold am 31. Mai. Haupt hatte keine Ahnung, wer dieser Krüger war.
Mittlerweile sind die Wessis zu »Wossis« geworden. Sie sind Krüger-Leute geworden, mit 14-Stunden-Tagen, Niedrig-Gehältern und merkwürdig glühendem Sendungsbewußtsein.
»Nur wer hier arbeitet, kann die Ossis wirklich verstehen«, sagt Lutz Engelke, der in New York studiert und als PR-Mann für große Automobilfirmen gearbeitet hat, bevor er im Roten Rathaus die Pressestelle übernahm. Und Richter Schillo: »Mit Bürokratie kommst du hier nicht weiter, das ist weitgehend rechtsfreier Raum, da brauchst du deinen gesunden Menschenverstand.« So müssen sich Kolumbus' Leute in Amerika gefühlt haben. Ein 25jähriger FU-Student aus Schwierzinas Büro sagt: »Manchmal habe ich das Gefühl, als ob ich allein regiere.«
Krüger und seine Leute: eine gemischte, ostwestdeutsche Besatzungsarmee in den Ruinen einer Diktatur, und Krüger, der Pope im Riffelsakko, ist der jüngste unter ihnen. Er ist verbindlich, konzentriert, er lacht viel, und wenn er Ideen entwickelt, spreizt er seine Hände zu Flügeln. Keiner, der anordnet, sondern einer, der überzeugt. Seine Integrationskraft ist erstaunlich. Morgens um sieben in der Früh-Lage hatte er den sympathischen Exzentriker Ibrahim Böhme sanft zurück ins Glied geschubst. Am Tag zuvor hatte Böhme öffentlich mit der PDS geflirtet, worauf ihm der Fraktionsvorsitzende der Ost-SPD, Richard Schröder, mit einem Parteiausschlußverfahren gedroht hatte. »Das ist die Vorgehensweise der Altparteien«, protestierte Böhme.
»Du mußt sehen«, erwiderte Krüger, »daß du dich vom Neuen Deutschland hast instrumentalisieren lassen. Das hilft nur der CDU.« Auch Mompers Kanzleichef Dieter Schröder habe sich erkundigt, »was der neue Wirbel bei uns soll«. Irgendeiner sagt: »Na ja, der Schröder ist manchmal ein ziemlich undifferenzierter Typ.« »Welcher Schröder jetzt, der von uns oder der von euch?« fragt Krüger. »Ist doch egal, Schröder ist Schröder.« Alle lachen, auch Böhme.
Böhmes Feststellung, sagt Krüger in einem Interview am Nachmittag, sei mißverstanden worden. »Linke Politik, darin sind wir uns mit Ibrahim einig, macht man über Sachthemen.« Dann die gewohnten Antworten auf die gewohnten Fragen. Ja, es sei merkwürdig, gegen Hausbesetzer vorzugehen, mit denen man früher zusammengewohnt habe, aber man verfolge die Berliner Linie, setze auf Dialog und Verständigung. Ja, auch an Krawatten habe er sich gewöhnt, und Politik mache ihm Spaß. Die größte Aufgabe? »Die Sicherung des kommunalen Eigentums.«
Noch während der Ostreporter vom Kurswechsel seiner Zeitung erzählt - sie ist »Partner« der FAZ geworden -, stürmt Schillo in den Raum. Die Treuhandanstalt sei auf ein Manöver ehemaliger VEB-Bonzen hereingefallen, die einen Betrieb angemeldet haben, »ohne jedes Unternehmenskonzept, mit 350 Mitarbeitern, alle auf Null-Stunden-Kurzarbeit ausgewiesen«, um an das Grundstücksvermögen des alten Betriebs heranzukommen. Der Magistrat kämpft seit Wochen um die Immobilie.
Krüger ruft den Stadtrat der Finanzen an. Pannenhilfe. »Sag allen deinen Leuten, sie sollen diesen Verein nicht eintragen . . . die behaupten, die hätten schon was Schriftliches von der Treuhand . . . und schmeiß soviel Leute wie möglich ins Grundstücksamt, da geht es um Milliarden.«
Dann, es ist früher Abend, bereitet er sich vor auf einen weiteren Ortswechsel, auf eine andere Welt, nicht Westen, nicht Osten, sondern die neutrale Zone - er läßt sich von seinem Fahrer zu einem Empfang in der Villa des Schweizer Botschafters chauffieren.
Dort trifft er auf Stephan Hermlin, ganz seigneuraler Schriftsteller in elegantem grauem Sommeranzug, und Hermlins Frau, PDS-Anhängerin wie ihr Mann, sagt: »Sie sind also derjenige, der diese entsetzliche Gesinnungsschnüffelei betreibt.« Das Wort von der »Gesinnungsschnüffelei« hatte CDU-Innenminister Diestel als Keule gegen Krüger eingesetzt - es gibt die merkwürdigsten Koalitionen in diesen Tagen.
Kurz darauf sitzen sie um einen großen runden Gartentisch. Der Schweizer Botschafter zeigt ein Foto von seinem Haus am Luzerner See, und Krüger und Hermlin diskutieren die alte KP-These vom »Sozialfaschismus«. Hermlin sagt, daß die Sozialdemokraten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf dem Gewissen hätten, Krüger widerspricht, und der Schweizer Botschafter reicht Bündner Fleisch und guten Rotwein zur Feier des »Jahrestages der Gründung der Schweizer Eidgenossenschaft«. Vor einem Jahr noch konnten solche Gespräche Schicksale entscheiden. Jetzt sind sie nichts als absurde Sommerabend-Plauderei.
Hermlin, ein Nachbar des Botschafters, war früher oft auch bei Günter Gaus zu Gast, der gleich gegenüber residierte: »Bis dieser entsetzliche Bölling kam, dieser Prolet.« Und Thomas Krüger, der Politiker und Theatermann, genießt die aberwitzige Situation in vollen Zügen und lächelt. Es ist nicht hundert, sondern tausend Jahre her, daß er in der Kirche stand und über Jericho redete.
Nachts läßt sich Krüger in seine Vergangenheit, in sein früheres Leben fahren, in den Osten, nach Jericho vor dem Fall der Mauern. Er besucht einen alten Freund am Prenzlauer Berg. Hinterhaus, drei Treppen. Gerrit steht an einer Staffelei und tupft an einem Frauenaquarell herum. Er öffnet eine 2-Liter-Flasche »Römische Schenke«, Krüger setzt sich unters Hochbett, und beide erinnern sich an die Vorlesungen im Sprachenkonvikt, an Lampe, der sich am Jahrestag des Mauerbaus ans Fensterkreuz kettete und Pfeile mit Botschaften über die Mauer schoß, an die Diplomatenparties, an den ukrainischen Woodstock-Veteranen.
Nach dem dritten Glas Wein rezitiert Krüger mit proletarischem Heldenpathos »Kuba«, den Staatsdichter Kurt Bartel: » . . . und über den Neubauten dreht und verneigt sich der Kran.« Und lachend läßt er Biermann folgen, noch ein Gedicht, das hundert Jahre zurückliegt: »Wer abhaut aus dem Osten, der ist auf unsre Kosten von sich selber abgehaun.« Texte aus einem hektographierten Programmheft, in das Theatermann Krüger auch Bechers lang verschwiegene, bittere Lebenssumme aufgenommen hatte: »Der Grundirrtum meines Lebens bestand in der Annahme, daß der Sozialismus die menschliche Tragödie beende . . .«
In vielen Inszenierungen, erzählt Krüger, haben »wir dem Staat vorgespielt, wie toll wir ihn fanden, das war irritierender als alles andere«. Performances etwa, in denen in Sprechchören gerufen wurde »Der Sozialismus siegt«. Die Anarchie des Witzes, die Parodie, die vorgetäuschte politische Frequenzgleichheit - auch dieser Ton war es, der Mauern zum Einstürzen brachte. Dieser Ton half auch, mit Denunziationen, Überwachungen, Inhaftierungen fertig zu werden. Spielend fertig zu werden. Etwa dadurch, daß man sich unvermittelt umdrehte auf einer U-Bahn-Station und seinen Bewacher anbrüllte. »Es gab, im wahrsten Sinne des Wortes, Spiel-Räume.«
Gerrit, Soziologe und Rundfunkdramaturg, hat am Nachmittag seine Kündigung bekommen. Er hat sich geweigert, sie anzunehmen. »Christoph hat mit einer Aktennotiz gedroht.« »Was? . . . Christoph, die alte Socke! Der ist jetzt im Funk?« Man kennt sich, aus der »Initiative Freiheit und Menschenrechte«. Und trifft sich wieder, auf verschiedenen Seiten.
Kurz vor zwölf bricht Krüger auf. »Warum steigst du nicht bei mir ein?« fragt er zum Abschied. »Ich könnte noch jemanden gebrauchen, der von außen draufschaut. Keinen Spezialisten, sondern einen, der Abstand hat.« Im Herbst will Krüger einen Konflikt-Kongreß initiieren. Im heißen Herbst der Tarifauseinandersetzungen, der Wahlkämpfe. »Konfliktfähigkeit, Konfliktbewältigung, da waren wir 40 Jahre lang unterentwickelt«, sagt Gerrit. »Du könntest mithelfen, den Kongreß vorzubereiten«, meint Krüger. Und dann fährt er ins Rathaus, um »noch 'ne Stunde Post zu erledigen«.
Am nächsten Morgen ist Krüger mit seiner Freundin Sabine im Wedding. Dort kaufen die beiden Fahrräder. Die West-Berliner Sozialsenatorin Ingrid Stahmer hatte die gleiche Idee. In einer improvisierten Konferenz, zwischen blinkenden Speichen und Sattelleder, reden sie über Kohls Coup, der gerade in den Nachrichten kam: Wahl und Einheit am 14. Oktober. Wird die SPD umfallen, aus Angst, als Einheitsgegner dazustehen, Kompromisse schließen?
»Mit dem ,City Bike'«, sagt da der Verkäufer, »müssen Sie keine Kompromisse eingehen, damit können Sie auch mal quer über den Rinnstein, durch Glassplitter und Nägel.« »Klingt gut«, sagt Krüger. Nur die Farbe stört ihn. Es hat einen schwarzen Rahmen mit rotgoldenen Streifen. Zum Ausgleich kauft er eine himmelblaue Fahrradtasche dazu, Marke »Pegasus«.
Kurze Zeit später zieht sich Krüger Gummistiefel an für eine andere Inszenierung, die ebenfalls mit dem untertunnelten, durchwühlten, verhexten Berliner Boden zu tun hat. Da wird, auf dem Brachland Potsdamer Platz, der Einstieg zum Labyrinth des ehemaligen Führerbunkers freigebaggert. Amerikanische Touristen klauben sich Steine aus der geschichtsschweren Erde.
Bewältigte Geschichte? Im Schein seiner Stablampe, über kniehohem Wasser, entdeckt Krüger an den Wänden frische Graffiti. SS-Runen, den Spruch »Für immer eins« und das Datum: 22. März 1990. Seine Stimme hallt an den Wänden: »Es ist gefährlich, Geschichte zu verdrängen - sie wird immer zurückkehren.«
Die Mauern von Jericho sind geschleift. Jetzt geht es, in den Trümmern, um Bestandsaufnahme. o