ARBEITSMARKT Die Jobvernichter
In der Tennishalle des vorpommerschen Städtchens Demmin herrschte gediegene Feststimmung. An den Wänden hingen bunte Plakate, ein Schalmeienorchester spielte Volkslieder, 2000 Besucher warteten vor gutgefüllten Bierkrügen auf den Star des Abends: Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Es war Aschermittwoch, der Tag, an dem die laut Umfragen beliebteste Politikerin Deutschlands zum ersten Mal seit langem böse Schlagzeilen entgegennehmen musste. Fünf Millionen Arbeitslose hatte die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit im Februar gezählt und am Vortag vermeldet. Doch die CDU wollte feiern - sich und ihre Kanzlerin.
Als Merkel in den Saal einzog, sprangen etliche Besucher freudig erregt auf die Bänke. Während sie sprach, intonierte die Kapelle regelmäßig einen Tusch.
Es klang wie ein ironischer Kommentar zu den chronisch optimistischen Botschaften, mit denen die Kanzlerin ihr Publikum zu begeistern suchte: Die Stimmung in der Großen Koalition sei bestens. Tata! In der Wirtschaft herrsche endlich wieder Aufbruchstimmung. Tata! Auch Mecklenburg-Vorpommern werde es besser gehen, wenn erst einmal die CDU im Land regiert. Tata! Tata!
Nur als Merkel kurz über das »Hauptproblem Deutschlands« redete, blieb die Kapelle pietätvoll stumm. Fünf Millionen Arbeitslose könnten »nicht einfach hingenommen werden«, sagte die Kanzlerin. Da müsse die Regierung bald mal »in die Puschen
kommen«. Pfusch, Tata! Die Jobvernichter kommen. Wolle mer se roilosse?
Drei Monate nach dem Start der Großen Koalition tut die Regierungschefin noch immer so, als seien andere für die Probleme verantwortlich. Angela Merkel ist Kanzlerin, aber mit dem Regieren hat sie so richtig noch immer nicht begonnen.
Sie lacht und reist viel, sie tanzt auf allen Bühnen der Welt. Zu Hause legt sich derweil der alte Grauschleier übers Land. Der Zauber des Neuanfangs könnte so schnell verfliegen, wie er gekommen ist.
Wochenlang hatten Politiker, Experten und Bürger das Land in ein fast frühlingshaftes Licht getaucht. Die Stimmungsbarometer der Konjunkturforscher schnellten in die Höhe, genauso wie die Umfragewerte der Regierung. Zeitweise schien es, als könnte die Große Koalition durch ihre bloße Existenz das Land verändern.
Am vergangenen Dienstag um zehn Uhr meldete sich die Wirklichkeit zurück. Sie sah aus wie Frank-Jürgen Weise, Chef der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit. Seine neueste Zahl: fünf Millionen Arbeitslose, immer noch, immer wieder.
Die Lage am Arbeitsmarkt ist so trübe wie zu rot-grünen Zeiten: Noch immer verliert das Land pro Woche 2000 sozialversicherungspflichtige Jobs. Noch immer belegt Deutschland mit einer Erwerbslosenquote von 12,2 Prozent einen der hinteren Plätze in Europa. Noch immer steigt die Zahl der Langzeitarbeitslosen an, was den Druck auf die Staatskassen spürbar erhöht.
Die angekündigten Initiativen zur Förderung von Forschung und Innovation sind bislang Absichtserklärung geblieben. Die versprochenen Strukturreformen bei Niedriglöhnen, Gesundheitssystem und Unternehmensteuern wurden vertagt. Anstatt die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, verschärft die Regierung sie.
Das gilt paradoxerweise vor allem für jene Beschlüsse, die in der Großen Koalition unter dem Begriff Konjunktur- und Konsolidierungspaket firmieren. Mit einem 25 Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm, so hat es die Koalition vor wenigen Wochen beschlossen, sollen in den nächsten Jahren Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Schwung gebracht werden.
Doch die Maßnahmen sind allesamt gegenfinanziert, und das heißt, der Staat sammelt das Geld, das er ausgibt, sofort wieder woanders ein. Das Maßnahmenpaket ist de facto ein Programm, das der Haushaltskonsolidierung nützt, der Konjunktur allerdings schadet. Mit einem massiven Kaufkraft-Aderlass soll es auch 2007 weitergehen: Zu Beginn des nächsten Jahres erhöht die Regierung nicht nur Mehrwert- und Versicherungsteuer sowie den Rentenbeitrag, sie kappt auch eine ganze Reihe von Steuervorteilen für Bürger und Unternehmen. Die Maßnahmen addieren sich zur größten Abgabenerhöhung in der Geschichte der Republik. Nicht einmal die regierungstreuesten Ökonomen glauben, dass dies der Konjunktur bekommen wird.
Der Steuerschock wird Bürgern und Wirtschaft etwa 40 Milliarden Euro jährlich an Kaufkraft entziehen. Er fördert die Schwarzarbeit und heizt die Inflation weiter an.
Das werde zu »beachtlichen negativen Wirkungen bei Wachstum und Beschäftigung führen«, prognostiziert der Leipziger Konjunkturforscher Ullrich Heilemann. Nicht einmal eine erneute »Quasi-Stagnation der deutschen Wirtschaft« sei ausgeschlossen. Insgesamt werde das Programm die Wachstumsrate in den nächsten drei Jahren um fast einen Prozentpunkt reduzieren und bis zu 250 000 Jobs vernichten.
Vor allem den Geringqualifizierten, die ohnehin leicht von der grassierenden Jobvernichtung betroffen sind, hat die Große Koalition bereits übel mitgespielt.
Um die Problemfälle wieder in Lohn und Brot zu bringen, brauchte Deutschland Hunderttausende zusätzliche, niedrig entlohnte Dienstleistungsjobs für Menschen mit geringen Qualifikationen. Und damit die Stellen auch angenommen werden, müsste die Joboffensive begleitet sein von einer Arbeitsförderungspolitik nach dem Vorbild Großbritanniens oder Dänemarks. Beide
Länder haben kräftige Anreize zur Annahme von Arbeit geschaffen.
Doch anstatt die folgenreichste Schwachstelle des deutschen Beschäftigungssystems zu beseitigen, haben sich Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) und große Teile der Koalitionsfraktionen offenbar einem ganz anderen Ziel verschrieben: Tausende Stellen am unteren Rand des Arbeitsmarkts wurden in den vergangenen Wochen quasi liquidiert.
So erhöht die Regierung zur Jahresmitte die Sozialabgaben für Minijobs um 20 Prozent - um den notleidenden Bundeshaushalt zu sanieren. Die Folge: Weil sich die Kosten verteuern, werden die Unternehmen nach einer Prognose der Knappschaft rund 750 000 Beschäftigungsverhältnisse streichen oder in die Schwarzarbeit abschieben.
Mehr als die Hälfte der Minijobs, die SPD und Union im Zuge der Hartz-Reform herbeizauberten, werden auf diese Art wieder beseitigt. Damit verschwindet das letzte Pluszeichen in der ohnehin schon dürftigen Bilanz der Hartz-Reform.
Nicht weniger beschäftigungsfeindlich ist die bereits beschlossene Reform der Hartz-Gesetze in Ostdeutschland. Schon heute lohnt es sich zwischen Stralsund und Dresden für viele kaum, einen regulären Job anzunehmen, weil der Abstand zwischen dem Verdienst für Arbeit und den Transfers für Nichtarbeit zu gering ist. Wer in einem privaten Unternehmen schuftet, bekommt vielerorts kaum mehr als ein Hartz-Empfänger.
Künftig wird sich der sogenannte Lohnabstand noch verringern, so hat es die Regierung einhellig beschlossen. Noch in diesem Jahr wird das Arbeitslosengeld II in den neuen Ländern auf das Niveau der alten erhöht. Die gutgemeinte Regelung, so fürchten viele Arbeitsmarktexperten, wird so manchem Langzeitarbeitslosen endgültig den Anreiz nehmen, wieder regulär zu arbeiten.
Zum größten Beschäftigungskiller könnte sich jedoch der von der Großen Koalition geplante Mindestlohn entwickeln. Grund: Je höher die Grenze gelegt wird, desto weniger Billigjobs können überleben. Vergangene Woche überboten sich führende Koalitionspolitiker mit immer neuen Forderungen.
Einige CDU-Abgeordnete brachten einen bundesweiten Mindestlohn von sechs Euro ins Gespräch. SPD-Fraktionschef Peter Struck liebäugelt mit einem Garantieverdienst von 7,50 Euro. Einige Gewerkschafter schlugen gar eine sogenannte Branchenlösung vor, bei der die Lohnmarke mancherorts auf zehn Euro und mehr steigen könnte.
Dabei arbeiten schon heute Millionen von Bundesbürgern für weit niedrigere Verdienste. Müssten ihre Entgelte als Folge eines Mindestlohngesetzes angehoben werden, könnte das Experiment leicht Hunderttausende Arbeitsplätze kosten.
Und die Unternehmen? Beobachten irritiert, wie die Spitzen der Großen Koalition die ernüchternden Arbeitsmarktbilanz in der vergangenen Woche als Trendwende feierte. Von einem »Signal der Hoffnung« sprach CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla. Und der zuständige Arbeitsminister Müntefering erkannte unverdrossen »Anzeichen für eine positive Entwicklung«.
Es läuft wie seit Jahrzehnten in der deutschen Politik: Kommt eine neue Regierung ins Amt, gibt es zunächst keine größere Aufgabe als den Kampf gegen die Beschäftigungskrise. Hat man sich dann erst einmal in der Machtzentrale eingerichtet, wird das Problem erst kleingeredet - und dann vergessen. Bis im Wahlkampf erneut die alten Kampflieder wider die Massenarbeitslosigkeit gesungen werden.
In der Großen Koalition droht die Zeitspanne zwischen Veränderungswille und Beharrungskraft nun besonders kurz auszufallen. Noch vor wenigen Wochen hatten Union und SPD den »Abbau der Arbeitslosigkeit« in ihrem Koalitionsvertrag zur »zentralen Verpflichtung der Regierungspolitik« erklärt.
Um dieser Verpflichtung nachzukommen, wäre vor allem einer gefragt: Wirtschaftsminister Michael Glos von der CSU. Doch der oberste Regierungsökonom wirkt überfordert.
Eigentlich müsste er sich als Mahner zu Wort melden, als Sachwalter jener Verhältnisse, die es zu ändern gilt. Das Wirtschaftsministerium ist zwar traditionell schwach ausgestattet mit Kompetenzen. Doch die Wirtschaftsminister der Republik, besonders die guten, waren immer
dann einflussreich, wenn sie es verstanden, überzeugend zu argumentieren.
Auch heute wäre jemand auf dem Posten nötig, der nicht nur weiß, wovon er spricht, sondern der verunsicherten Bürgern und Unternehmen Orientierung bieten könnte. Stattdessen musste Merkel mit Glos einen Verlegenheitskandidaten ernennen, der sich nie nach diesem Posten gedrängt hat. Wohl selten zuvor kam jemand so unvorbereitet ins Amt wie Glos.
In den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit hat der Neuling an der Scharnhorststraße denn auch zuweilen eher für Verwirrung gesorgt als Orientierung gestiftet. Mal ermuntert er die Gewerkschaften, »gutes Geld für gute Arbeit« zu fordern, kurze Zeit später ruft er sie zu Lohnzurückhaltung auf. Der Minister, das war die eigentliche Botschaft, ist ein Suchender.
Das Training im Job beginnt für Glos morgens um sieben Uhr. Der Wachdienst schließt ihm die Bürotür auf, weil seine Vorzimmerdamen erst eine Stunde später zum Dienst antreten. Sein Großraumbüro mit Holzvertäfelung und grauer Stoffverkleidung an den Wänden hat er nach seinen Geschmack etwas wohnlicher eingerichtet. In der Ecke grüßt ein Flaggenbouquet. Links die Europafahne, rechts das weiß-blaue Tuch Bayerns, in der Mitte die Deutschlandfahne. An den Wänden hängt ein halbes Dutzend alter Meister im Original, Biedermeier und Romantik. Die hat Glos, er sammelt Gemälde, von zu Hause mitgebracht.
Mit dem Fleiß eines Lehrerbuben beginnt er dann die Aktenlektüre. Manchmal stapelt sich ein Dutzend Mappen vor ihm, unter dem Schreibtisch stehen drei Pilotenkoffer.
Mittlerweile hat er sich einen groben Überblick verschafft über sein Ministerium, weiß Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden. In die Biografie über Ludwig Erhard, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegt, wirft er kaum noch einen Blick. Keine Zeit.
Fast täglich bekommt er Besuch, von Unternehmensführern, Interessenvertretern und Verbandspräsidenten. Viele drängen ihn zu mehr Reformermut, wenigstens möge er doch klare Worte suchen und finden. Doch die Besucher haben häufig den Eindruck, dass Glos von einem eher verhaltenen Amtsverständnis geprägt ist.
Er selbst macht keinen Hehl daraus, dass die wirtschaftspolitischen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag nicht seine sind. Sie wurden von anderen ausgehandelt; von CDU-Generalsekretär Pofalla etwa oder seinem nicht angetretenen Vorgänger Edmund Stoiber oder Müntefering. Überhaupt Müntefering.
Warum soll er den eigentlich ständig kritisieren, fragt sich Glos bei solchen Gelegenheiten. Die Offensive ist erkennbar nicht Glos' Metier. Den Unruhestifter, der den lauschigen Koalitionsfrieden durch allzu forsche Vorstöße stört, mag er nicht geben.
Er sieht sich eher in der Rolle des Wachhunds. Wenn irgendetwas falsch läuft, dann will er sich melden, vorher nicht. Vor den Wahlen schon gar nicht. Und vor Wahlen ist man ja eigentlich immer.
Die Kanzlerin kennt die Defensivhaltung ihres Wirtschaftsmannes; seine Passivität kommt ihr im Moment sehr gelegen. Merkel will Ruhe, nicht Streit. Sie will, dass Partei und Öffentlichkeit sich entspannen und nicht schon wieder dem Stress einer verschärften Reformpolitik ausgesetzt werden. Ihre Berater raten zu: Das Volk schätze an der Großen Koalition die kleinen Taten, die noch dazu in ruhigem Kammerton angekündigt werden, sagen sie.
In dieser Ruhephase kann Merkel einen politischen Schoßhund wie Glos gut gebrauchen. Der beißt und bellt nicht. Er hilft ihr, das Land ein wenig in den Schlaf zu singen. »Der Aufschwung kommt ganz massiv. Darüber freuen wir uns«, sagte er kürzlich.
Noch aus gemeinsamen Tagen auf den Oppositionsbänken des Bundestags schätzt Merkel ihren Glos als einen der verlässlicheren Partner aus der CSU. Deshalb wird sie ihn nicht voreilig fallen lassen. Seine wichtigste Ministerbefähigung ist seine seit Jahren erprobte Loyalität.
An Alternativen zu Glos, das ist das Erfreuliche für Merkel, herrscht kein Mangel. Aus der bayerischen Schwesterpartei bietet sich Erwin Huber an, falls der im Wettstreit um die Stoiber-Nachfolge unterliegen sollte. Huber ist ausgewiesener Finanz- und Wirtschaftsexperte. Vor allem verfügt er über administrative Erfahrung. Er war Finanzminister in Bayern, derzeit leitet er das Wirtschaftsministerium.
Was ihm für das Amt an der Spitze des Freistaats fehlt, könnte sich in Berlin als vorteilhaft erweisen: Huber ist ein Mann des kühlen Blicks, ein Tatenmensch, kein Konsenspolitiker. Vor allem aber einer, der dem Thema Massenarbeitslosigkeit absolute Priorität einräumt: »Wichtig ist, dass unterm Strich mehr neue Arbeitsplätze herauskommen als alte wegbrechen.«
Doch auch in der eigenen Partei erschließen sich der Kanzlerin und CDU-Vorsitzenden unverhofft Personalreserven. Vor kurzem hat sie sich mit dem notorischen Kontrahenten Friedrich Merz ausgesprochen, dem besten Finanzexperten, den die Union zu bieten hat. Merz bringt Sachverstand mit. Er kann reden. Und er kann überzeugen, wenn auch nicht unbedingt begeistern.
Jedenfalls weiß er, wovon er spricht. Gleichermaßen käme er in die Nähe einer Idealbesetzung für das Finanzressort wie für das Wirtschaftsressort. Bei einem Treffen im Kanzleramt kamen er und seine Kanzlerin überein, die Vergangenheit alter Kämpfe ruhen zu lassen. Das Arrangement nützt beiden. Merkel hat einen Widersacher mit querulatorischem Potential eingebunden, Merz ist aus seiner Schmollecke befreit. Vergangene Woche übte der Sauerländer schon einmal tätige Reue. Zu Besuch in Washington pries er gegenüber Vertretern der US-Regierung Merkels Politik der kleinen Reformschritte.
Die Autorität von Glos dagegen zerfällt zusehends. Erst jüngst hatte ihn sein eigener Parlamentarischer Staatssekretär Hartmut Schauerte halböffentlich kritisiert, was die Kanzlerin auf den Plan rief. Sie zeigte dem Abtrünnigen die Gelbe Karte, was den Minister stärken sollte und doch in Wahrheit nur seine politische Schwäche offenbarte.
Alleiniger Ratgeber in Wirtschaftsfragen ist Glos ohnehin nicht. Als Merkel eine Antwort auf die Frage suchte, ob der Finanzwissenschaftler Wolfgang Wiegard von Glos für eine zweite Amtszeit in den Sachverständigenrat berufen werden solle, konsultierte sie auch Merz. Die Personalfrage endete erfreulich für den Kandidaten. Wiegard darf bleiben.
RALF NEUKIRCH, CHRISTIAN REIERMANN,
MICHAEL SAUGA
* Am Aschermittwoch mit dem Anklamer Karnevalsclub im mecklenburg-vorpommerschen Demmin.