»Die Karre steckte tief im Dreck«
Über viele Wochen begleiteten und interviewten die beiden Autoren Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg den früheren DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker in seinem Exil Beelitz, dem sowjetischen Militärhospital. Egon Krenz, 53, Honeckers Nachfolger für die Wochen zwischen 18. Oktober und 6. Dezember 1989, kritisierte Honeckers Einschätzung in einem persönlichen Brief an den Vorgänger; Kopien schickte Krenz an andere Kollegen des früheren SED-Politbüros:
Lieber Erich Honecker!
Am Jahresende habe ich das Buch »Der Sturz« gelesen. Ich muß sagen: Ich bin tief betroffen, bin politisch und menschlich enttäuscht. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, daß Du nach allem, was in den letzten Jahren geschah, so realitätsferne, teils unbewiesene und falsche Einschätzungen triffst. Als ich Dich Anfang Dezember 1989 in Wandlitz nach meinem Rücktritt als Generalsekretär besuchte, hatte ich den Eindruck, daß Du ernsthaft über unsere und damit auch Deine Versäumnisse und ihre Ursachen nachdenkst. Leider habe ich mich getäuscht.
Die im Herbst 1989 eingeleitete Wende war lange herangereift. Sie sollte zu einer erneuerten DDR, zur Erneuerung des Sozialismus führen. Sie war keine Wende in Richtung auf ein vereintes Deutschland. Die Realitäten von heute, die für viele so bedrückend und keineswegs sozial gerecht sind, zeigen, daß dies mißlang.
Ich bin jetzt überzeugt, daß wir als politische Führung das wahre Ausmaß der tiefen Krise, in der unsere Gesellschaft seit Jahren lebte, nicht erkannten. Mir ist heute bewußt, daß sie alle Seiten des Lebens betraf: die Politik, die Ökonomie, die Moral, die Wissenschaft, die Kultur. Die Glaubhaftigkeit der Werte, Ideale und Ziele des Sozialismus standen seit langem - auch wenn wir dies nicht in dieser Schärfe sahen - in Frage. Viele redeten anders, als sie dachten, und sie dachten anders, als sie handelten. Nicht wenige - darunter viele Parteimitglieder - lebten in Gewissenskonflikten zwischen dem, was sie erkannten, und dem, was sie tatsächlich beeinflussen konnten. Ratlosigkeit und Resignation griffen um sich, begannen die ideologische Situation zu beeinflussen.
Die Verletzung des Leistungsprinzips verhinderte, daß sich gute Arbeit wirklich lohnte. Für die Sozialpolitik fehlte uns die notwendige Produktivität. Damit begann der Anfang vom Ende der DDR. So kam es zu subjektivistischen Entscheidungen nicht nur in der Investitionspolitik.
Die volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten wurden Wunschvorstellungen untergeordnet. Es kam immer mehr zu fehlerhaften administrativen statt zu ökonomisch durchdachten Entscheidungen. Zwischen dem, was unser Politbüro als Festtagsstimmung am 1. Mai, beim Pfingsttreffen der FDJ, beim Pädagogischen Kongreß deutete, sowie dem Alltag der Menschen gab es eine tiefe Kluft, die von uns im Politbüro leider verdrängt wurde. Wir neigten dazu, die Wirklichkeit von Tribünen und Präsidiumstischen aus einzuschätzen. So haben wir uns sehr vielen Täuschungen hingegeben.
Manches Kritische wurde in Vorlagen der Plankommission, des FDJ-Zentralrates und einzelner Politbüromitglieder dargestellt. In den letzten Jahren gab es bei Dir oft kein offenes Ohr für solche Fragen. Ich kann es daher nicht verstehen, daß Du grundlegende Probleme der gesellschaftspolitischen Entwicklung der DDR verharmlost, oberflächlich behandelst oder die Wahrheit teilweise verschweigst oder entstellst.
Ich bin davon überzeugt, daß die Hauptschuld für die Ursachen des Untergangs der DDR - soweit sie die innere Lage betreffen - beim Politbüro lag, dem ich angehörte und das Du geleitet hast. Unsere Politik schwankte in den letzten Jahren zwischen »Nichtzurkenntisnahme der Realitäten« und »politischer Verdrängung«. Wir setzten die führende Rolle der SED gleich mit der falschen Auffassung, daß nur die Parteiführung - und dort wieder einige dominierende Genossen - im Besitz der Wahrheit über die gesellschaftliche Entwicklung waren. Anders kann ich mir nicht erklären, daß es in den letzten Jahren kaum öffentliche Diskussionen über den Inhalt unserer Politk gab.
Das behinderte die Kreativität. Die Regierung war in ihren Entscheidungen eingeschränkt. Ministerpräsident Willi Stoph wurde faktisch »kaltgestellt«. Die Wirtschaftskommission behandelte, was eigentlich in die Regierung oder Parteiführung gehörte. Eine wirkliche Gesellschaftskonzeption war seit 1985 nicht mehr erkennbar. Wir reagierten weder auf neue internationale Entwicklungen noch auf innenpolitische Probleme. Es wurde mehr Energie in den Politbürositzungen aufgewendet, um über die »Fehler Gorbatschows« zu sprechen, als über unsere eigenen Aufgaben. Mit unserem Beharren, daß allein wir im Recht seien, und mit unserer Distanz zur Politik Gorbatschows haben wir das Ende unseres sozialistischen Systems selbst provoziert.
Die Massenpsychose, die DDR zu verlassen, ist zwar auch mit Ungarn erklärbar, aber die volle Wahrheit ist doch, daß dahinter eine sehr starke Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit vieler DDR-Bürger stand. Wir haben uns von einem falschen, einem idealisierten Menschenbild leiten lassen. Wir glaubten: Je höher die Bildung, um so stabiler die Persönlichkeitsentwicklung. Die realen politisch-ideologischen Prozesse wurden von uns im Politbüro ungenügend zur Kenntnis genommen.
So befanden wir uns mit dem 40. Jahrestag an einem schicksalsschweren Wendepunkt der DDR-Geschichte. Deine Rede auf der Festveranstaltung hat die Orientierungslosigkeit noch verstärkt und letztlich die Partei verunsichert. Die Rede hat gezeigt: Wir verfügen über keine strategische Konzeption für die Zukunft. So waren die Gorbi-Rufe beim Fackelzug der FDJ eine logische Folge, keine organisierte, sondern eine von innen kommende Hoffnung, daß sich mit Hilfe der Perestroika auch in der DDR Veränderungen in Richtung eines Sozialismus mit größerer Demokratie, höherer ökonomischer Effektivität und einer sauberen Moral vollziehen. Das war eine große Erwartung, auf die wir hätten früher bauen können und müssen.
Nun sagst Du, daß »die Wahrheit ist, daß die Welt der Andersdenkenden, wie sich jetzt herausstellt, nicht die Welt des Sozialismus ist«. Eine so globale Einschätzung der »Andersdenkenden« war schon immer unser Fehler. Die »Andersdenkenden«, die im Herst 1989 auf die Straße gingen, wollten eine verbesserte DDR. Es gehört zu den Fehlentwicklungen dieser Zeit, daß die Opposition von damals heute wieder Opposition ist. Wir hätten die Überzeugungen der »Andersdenkenden« nicht nur ertragen, sondern mit diesen Leuten, die sich einen Kopf über unsere Republik machten, zusammengehen müssen.
Unser System erwies sich nicht mehr als fähig, die Interessen der Menschen unter den neuen Bedingungen zu lösen. Unsere Tragik besteht darin, daß wir dies nicht nur zu spät erkannt haben, sondern auch nicht zu einer wirklichen Aufarbeitung der Situation in unserer Führung, die sich Kollektiv nannte, gekommen sind.
Wir alle - jedes Mitglied des Politbüros - müssen mit diesem Versagen vor der Geschichte unserer Partei und unseres Volkes leben. Und das ist wahrlich sehr schwer zu ertragen, für Dich, aber auch für uns alle. Unser Politbüro vergaß, daß es eine politische Partei zu führen hatte. Selbst das Zentralkomitee wurde bei wichtigen Entscheidungen ausgeschaltet. Jeder, der unseren Führungsstil kritisierte, geriet in den Verdacht, partei- und republikschädigende Gedanken zu vertreten. Die Kirche konnte bei wichtigen Themen deshalb die Meinungsführerschaft übernehmen, weil die Partei sich dieser Themen selbst zu wenig annahm. Wir überließen ihr, was eigentlich unsere Aufgabe gewesen wäre. So entstand der berechtigte Eindruck, daß die Kirche die Probleme realer sah als wir.
Ich will mit diesem Brief keine Verantwortung wegdrücken, schon gar nicht die meine. Gerade weil ich diese Verantwortung so sehr spüre, schmerzt es mich, daß nach dem Willen bestimmter Leute die DDR als Monster in die Geschichte eingehen soll. Die DDR war meine Heimat, und sie wird es in meinem Inneren immer bleiben. Auch deshalb bedrücken mich die Fehler, die während meiner Tätigkeit als Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender gemacht wurden. Doch bei allem Schuldgefühl: Diese Fehler haben ihre historischen und politischen Wurzeln in einer Zeit, die Du äußerst verklärt und mit großem Realitätsverlust darstellst. Ich meine, daß Du mit der Wahrheit zu großzügig umgehst.
Im Interview heißt es: »Die alte Führung, der ich nicht mehr angehörte, ist dem Ruf des nah- oder ferngesteuerten Volkes gefolgt . . .« Ich bin über diesen Zynismus zutiefst erschrocken! Glaubst Du wirklich, daß wir an einem unfähigen Volk gescheitert sind?
Wir sind unter anderem gescheitert, weil wir nicht wirklich im Volk gelebt haben, weil wir uns eine Scheinwelt aufbauten. Die Informationen, die wir erhielten, waren geschönt, die Meinungsforschung wurde von uns gering geschätzt und das Meinungsforschungs-Institut sogar aufgelöst. Bei unseren, vor allem bei Deinen Reisen ins Land war jeder Schritt vorbereitet. Solide Analysen über Denken und Fühlen des Volkes haben dem Politbüro selten vorgelegen. Wir hatten die falsche Vorstellung, eine moderne Gesellschaft ließe sich nach dem Willen des Politbüros gestalten.
Ich glaube, Deinem Ansehen schadet am meisten, daß Du Dich unwissend stellst. Für jemanden, der wie ich an Deiner Seite gearbeitet hat, ist es einfach nicht hinnehmbar, daß Du so tust, als hättest Du von allem, was unsere politische Führung auch im Detail ausmachte, nichts gewußt. Wäre es so gewesen, wäre ja der unhaltbare Zustand vermieden worden, daß kein Artikel, keine ADN-Meldung aus dem ZK, keine Entscheidung auch minderer Bedeutung ohne Dein »Einverstanden« die Politbüro-Etage hätte verlassen können.
Man mag über die Methoden der Staatssicherheit denken wie man will, aber unser Problem bestand nicht darin, daß wir keine exakten Informationen vom MfS erhielten, sondern darin, daß sie allzu häufig vom Tisch gewischt worden sind. Es stimmt doch einfach nicht, daß die Berichte der Staatssicherheit - wie Du schreibst - »eine Zusammenfassung der Veröffentlichungen der westlichen Presse über die DDR« waren. Ich mache mir noch heute den Vorwurf, im Politbüro nicht gesagt zu haben, daß Du viele Informationen, die Dir Erich Mielke übergab, nicht ernst genommen hast.
Deine Aussagen sind ein erschütterndes Bild darüber, daß Du die Realitäten schon seit Jahren nicht mehr zur Kenntnis genommen hast. Wer Deiner Ansicht widersprach, galt nicht selten als »Panikmacher«. Ich will nicht von mir reden, aber mich hat immer betroffen gemacht, wie selbst solche erfahrenen Genossen wie Willi Stoph, Alfred Neumann, Kurt Hager, Werner Felfe, Werner Jarowinsky, Werner Krolikowski, Erich Mückenberger, Gerhard Schürer, aber auch Hermann Axen bei kritischen Bemerkungen regelrecht gedemütigt wurden.
Es war doch nicht so - wie Du sagst -, daß wir ein Kollektiv waren, dem Du als Gleicher unter Gleichen angehörtest. Unsere Möglichkeiten haben wir über Jahrzehnte verpaßt. Was wir im Oktober und November 1989 noch tun konnten, war der Versuch, zu retten, was noch zu retten war, und die Erneuerung des Sozialismus in Angriff zu nehmen. Dazu war es leider zu spät. Die Karre steckte zu tief im Dreck.
Die Partei war längst nicht mehr bereit, sich nur mit kosmetischen Korrekturen abzufinden. Viele gingen davon aus, daß der »Kronprinz« - in dessen Rolle ich gekommen war - einfach weiterführt, was Erich Honecker hinterlassen hatte. Die Parteibasis reagierte sehr kritisch. Alles, was wir für die Menschen unserer Republik damals noch tun konnten, war, für einen friedlichen Verlauf der Herbstereignisse zu sorgen.
Ich will offen sagen: Hätten wir am 18. Oktober 1989 nicht die Wende an der Spitze vollzogen, die auf der Straße längst im Gange war, hätte es mit großer Wahrscheinlichkeit einen Bürgerkrieg gegeben. Du erinnerst Dich doch sicherlich des Telefongesprächs in bezug auf Leipzig, das Du am 15. Oktober 1989 gegen 21.00 Uhr mit mir zu Hause geführt hast? Ich habe die Worte noch heute im Ohr.
Du nennst in Deinem Interview nicht die Tatsache, daß ich am 13. Oktober auf eigene Initiative zusammen mit Fritz Streletz und anderen Genossen in Leipzig war. Der Befehl zu Leipzig wurde von Fritz Streletz* und mir ausgearbeitet _(* Generaloberst und Sekretär des ) _(Nationalen Verteidigungsrats. ) und von meiner Sekretärin in meinem Arbeitszimmer im ZK geschrieben. Dir ist sicherlich noch erinnerlich, wie Fritz Streletz und ich danach gegen 17.00 Uhr in Deinem Arbeitszimmer auf Dich eingeredet haben, diesen Befehl unbedingt zu unterschreiben, damit jede Gewalt und die Anwendung der Schußwaffe ausgeschlossen werden. Wolltest Du nicht Absperrungen organisieren lassen, die die Gewalt geradezu provoziert hätten?
Du sagst, ich hätte den Auftrag gehabt, die Leipziger Bezirkssekretäre zu belobigen. Gern hätte ich dies mit Deinem Auftrag getan, denn sie hatten es verdient. Doch Deine Bemerkungen in der Politbürositzung am 10. Oktober 1989 lauteten noch anders: »Nun sitzen die Kapitulanten (gemeint waren diese Bezirkssekretäre) schon in der Bezirksleitung.« Deine Worte in bezug auf Leipzig - »Laßt sie gewähren« - las ich das erste Mal in Deinem jetzigen Interview.
Ich kann mich nur erinnern, wie unglücklich Erich Mielke über Deinen Vorschlag war, daß die Demonstranten auf Lkw aufgeladen und weggefahren werden sollten. Ganz nebenbei: Der Begriff »Sicherheitspartnerschaft« entstand in Vorbereitung der Demonstration am 4. November 1989 in Berlin, als Du schon nicht mehr Generalsekretär warst.
Was die Chancen des Sozialismus auf deutschem Boden betrifft - vielleicht war 1968 die letzte wirkliche Chance für uns. Hätte die sozialistische Gemeinschaft, statt Panzer nach Prag zu schicken, eine kollektive Analyse über Vorzüge und Mängel des Sozialismus und die notwendigen Schlußfolgerungen ausgearbeitet, vielleicht wäre manches geschichtlich anders verlaufen. Aber wer will das heute mit Bestimmtheit sagen! Doch, was wir 1985 verpaßt haben, ist unsere gemeinsame Schuld.
Niemand weiß heute genau, was aus einer »deutschen Perestroika« 1985 geworden wäre, wenn wir den Mut gehabt hätten, sie gemeinsam mit Gorbatschow in Angriff zu nehmen. Ich hoffe, es wäre ein Schulterschluß mit der Sowjetunion entstanden, der unsere beiden Länder nach vorn gebracht hätte. Vielleicht aber wäre damals schon sichtbar geworden, daß eine grundlegende Reformierbarkeit unseres Sozialismusmodells die nationale Frage - die wir undialektisch als abgeschlossen betrachteten - neu stellt?
Hätten wir die Zeichen der Zeit erkannt und im Politbüro die komplizierten Beziehungen zur BRD wirklich kollektiv erörtert - statt eine Vielzahl Einzelmaßnahmen zu treffen -, dann hätten wir möglicherweise einen Prozeß beeinflussen können, der den Bürgern der DDR ihre Identität bewahrt hätte und nicht so schmerzhaft verlaufen wäre wie jetzt. Selbst den Weg in die deutsche Einheit als Teil des europäischen Hauses hätten wir mit Selbstbewußtsein gehen können, weil das beste aus 40 Jahren DDR-Geschichte hätte eingebracht werden können. Die DDR-Bürger wären nicht politisch entwurzelt, weil der Weg von der Sicherheits- und Vertragsgemeinschaft zwischen der DDR und der BRD über eine deutsche Konföderation bis zur »neuen Qualität Deutschland in Europa« einen Anschluß der DDR an die BRD vermieden hätte.
Die DDR, die SED, unsere Geschichte werden jetzt regelrecht »verteufelt«, um von anderen Problemen abzulenken. Wer jeden Tag im Kaufladen, in den Schlangen vor der Post, in Gesprächen auf der Straße oder vor der Sparkasse die Verbitterung der Menschen über unsere Politik hautnah spürt, der kann dies wahrscheinlich sensibler beurteilen als Du, der erneut seine Informationen nur aus den Medien oder wenigen Gesprächen entnimmt.
Ich stehe zu meiner Biographie. Ich wurde aus innerer Überzeugung Kommunist. Meine Ideale gebe ich auch heute nicht auf. Ich werde nicht damit fertig, daß unsere Politik so gescheitert ist und unsere Partei nicht mehr besteht, während Du offensichtlich die Richtigkeit Deiner Entscheidungen verteidigst. Es ist doch ein Fehler, so zu tun, als wäre alles »normal« gelaufen und nur andere seien schuld.
Du hältst es für richtig. Deinen Sturz als »Ergebnis eines großangelegten Manövers, deren Drahtzieher sich noch im Hintergrund halten«, zu charakterisieren. Das zielt mir zu sehr in die Nähe des Argumentes »von der langen Hand Moskaus«. Ich kann Dir nur sagen, daß sich Gorbatschow Dir gegenüber mehr als anständig erwiesen hat. Niemals hat er meines Wissens hinter Deinem Rücken Pläne ausgeheckt, die unsere Führung betrafen. Auch (der sowjetische Botschafter) Genosse Kotschemassow hat stets zur Besonnenheit gemahnt und darauf gesetzt, daß die Signale zur Veränderung von Dir kommen sollten. Was nun die »kleinen Lichter« betrifft - von denen Du sprichst -, »die sich mit dieser Tat (Deinem Sturz) brüsten«, so läßt Du hier offen, ob Du nur einzelne oder das ganze ehemalige Politbüro meinst. Ja, ich bin einverstanden: Wir waren »kleine Lichter«, weil wir eine kleinkarierte Politik machten, die uns auch in die heutige Lage gebracht hat.
Du sprichst in Deinem »Kreuzverhör« von Deinem »Rücktritt«. So steht das auch in den Parteidokumenten. Doch dies war die erste Lüge, mit der das Politbüro unter meiner Leitung und durch meine Schuld begann. Willi Stoph hatte eindeutig Deine Absetzung gefordert, und alle Mitglieder und Kandidaten des Politbüros hatten sich dem angeschlossen. Du hattest doch an einen freiwilligen Rücktritt nicht gedacht.
Insgesamt ist für mich unverständlich, daß Du in Deinem Interview nicht ein Wort der Entschuldigung für unsere seit Jahren verfehlte Politik an die ehemaligen Bürger der DDR findest. Wolfgang Herger und ich haben uns vor einem Jahr vor dem »Runden Tisch« für die falsche Sicherheitsdoktrin der SED entschuldigt. Dort haben wir gesagt, was wir über die Verflechtung von Partei und Staatssicherheit wußten. Ich muß über Deinen Abschnitt »Staatssicherheit« sehr staunen! Einerseits machst Du mich verantwortlich, andererseits schreibst Du auf die Frage, warum Du selbst das Ministerium für Staatssicherheit nicht mehr kontrollieren konntest: »Das war von vornherein so. Das lag an der Tradition des Systems der Staatssicherheit innerhalb der sozialistischen Länder.« Wenn das stimmt, dann konnte doch auch nicht ein Sekretär oder eine Abteilung die Kontrolle ausüben.
Wofür ich verantwortlich war, dafür stehe ich ein. Ich war bekanntlich für die Abteilung für Sicherheitsfragen zuständig. Sie hatte beschränkte Vollmachten, was die Leitung der ihr zugeordneten Ministerien betraf. Deine Auffassung von Macht und Machtausübung hat es nicht zugelassen, die Verantwortung und die Anleitung des Ministeriums für Staatssicherheit aus Deiner Hand zu geben. Zu keinem Zeitpunkt vor dem 24. Oktober 1989 war ich Dienstvorgesetzter oder hatte das Recht, gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit zu befehlen.
Du sagst, daß die Öffnung der Grenze für Dich eine Katastrophe war. Ich bekenne offen, auch mir wäre lieber gewesen, der freie Reiseverkehr wäre unter anderen Umständen zustande gekommen. Dies jedoch hätte viel früher geschehen müssen. Die Reiseverordnung, die am 10. November 1989 in Kraft treten sollte, wurde am 9. November dem ZK vorgetragen. Niemand hat Einwände erhoben. Daß die komplizierte Situation am Abend des 9. November eintrat, das konnte ich leider nicht voraussehen.
Heute können viele klug reden, aber an jenem Abend saß ich allein am Schreibtisch und hatte in wenigen Minuten zu entscheiden, ob an der Grenze Blut fließt oder die Schlagbäume geöffnet werden. Ich möchte Dir ersparen zu lesen, was mich in dieser kurzen Zeit innerlich bewegte. Auf jeden Fall habe ich gegen die Gewalt entschieden, und das bereue ich nicht. Alles andere hätte tatsächlich in die Katastrophe geführt.
Ich kann verstehen, daß Du Dein Lebenswerk verteidigst, daß Du im Sinne jener Überzeugungen auftrittst, die Du seit Deiner Jugend hast. Doch dies darf nicht auf Kosten der Wahrheit oder anderer gehen.
Lieber Erich Honecker! Ich hoffe, daß Dir 1991 mehr Glück bringt als die beiden vorangegangenen Jahre. In diesem Sinne wünsche ich Dir und Margot Gesundheit und unter den komplizierten Bedingungen alles Gute.
Mit besten Grüßen
Egon Krenz *BUCHKOLUMNE **VERLAGSHINWEIS:
Reinhold Andert/Wolfgang Herzberg: »Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör« Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 455 Seiten; 29,80 Mark
* Generaloberst und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrats.