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SUEZ-FOLGEN Die Kartoffeln werden teurer

aus DER SPIEGEL 50/1956

Bleichen Gesichts erhob sich auf den

hinteren Bänken des britischen Unterhauses in London der konservative Abgeordnete Sir lan Horobin. Er stellte dem eben aus Amerika zurückgekehrten Außenminister Lloyd eine Frage voller Hohn, Schmerz und Scham. Sir Ian deutete darin an, daß England zur Stunde von Washington regiert wird und nicht einmal mehr über die Urlaubsreisen seines eigenen Regierungschefs allein bestimmen darf. Er fragte den Außenminister:

»Kann mein hochehrenwerter und gelehrter Freund uns versichern, daß nun, nachdem wir dem Rückzug unserer Armee

aus Ägypten ohne wirksame Garantien für unsere Lebensinteressen zugestimmt haben, die notwendige amerikanische Zustimmung erteilt werden wird, um unseren Ministerpräsidenten zum geeigneten Zeitpunkt von Jamaica zurückzubringen?«

Die Frage, ruhig und mit ausdrucksloser Miene gesprochen, wurde in einer außergewöhnlichen Situation gestellt. Selwyn Lloyd hatte zwar im Parlament den Rückzug aus Ägypten als einen politischen Erfolg darzustellen versucht. »Er stieß in die Vormarsch-Trompete, um seinen Rückzug zu decken«, meinte Aneurin Bevan, Labours neuer Sprecher auf außenpolitischem Gebiet. Das Ausmaß der Kapitulation Englands wurde jedoch offenbar, als Lloyd eingestehen mußte, daß er bei seinem Besuch in den USA nicht einmal eine Garantie für die Freilassung von 710 in Ägypten internierten Engländern erreicht hatte.

Die »Suez-Rebellen« der Konservativen Partei, eine Gruppe von 30 bis 40 Mann,

der Horobin angehört, war besonders empört darüber, daß Präsident Eisenhower die Engländer zu dem »demütigenden Rückzug« (so ein anderer Sprecher der Gruppe) gezwungen hatte, obwohl es eben der Zickzackkurs der amerikanischen Nahost -Politik im Sommer und Frühherbst gewesen war, der Eden zu seiner Verzweiflungstat am Suez-Kanal getrieben hatte.

Die Suez-Rebellen sind ein Menschenschlag für sich. Ihr Glaubensbekenntnis verriet der blonde Lord Hinchingbrooke: »Der Suezkanal und das ihn umgebende Gebiet«, sagte er dieser Tage, »bilden in irgendeinem wesentlichen Sinn einen Teil Großbritanniens.«

Im Monat November hatten die Suez -Rebellen einen Triumph erlebt: Der Geist ihrer politischen Vorstellungen hatte die englische Regierung und einen erheblichen Teil des englischen Volkes erfaßt. Das Ergebnis war der welthistorische Spitzbubenstreich Englands am Suez-Kanal.

Im Dezember war es mit ihrer kurzen Glorie wieder vorbei. Der Zorn, dem Horobin in ihrem Namen Ausdruck verlieh, wurde auch von zahlreichen konservativen Abgeordneten geteilt, die der Gruppe nicht

angehören, wenngleich sie sich beeilten, noch in derselben Sitzung von Horobins maßloser Äußerung abzurücken. 125 von ihnen hatten formell einen parlamentarischen Antrag eingebracht, der Amerika bezichtigte, durch seine Politik »die atlantische Einigkeit ernstlich zu gefährden«.

Einen Tag nachdem Horobin das Unterhaus durch seinen Ausspruch schockiert hatte, mußten Englands Abgeordnete freilich einsehen, wie ohnmächtig ihre Fronde gegen Amerika ist. Schatzkanzler Harold Macmillan trat vor das Unterhaus und enthüllte die Wirtschaftsnot, in die sich England gestürzt hat.

Die Benzinpreise wurden drastisch erhöht, nämlich um 19 Pfennig pro Liter. Dadurch werden Busfahrten und Kartoffeln teurer. Weit schlimmer aber: Durch Devisenspekulationen und Kapitalflucht war der Gold- und Dollarhort des britischen Staates bereits im Monat November, bevor noch größere Ölkäufe in Amerika begonnen hatten, um 279 Millionen Dollar auf weniger als zwei Milliarden zusammengeschrumpft. Englands Gold- und Dollarhort ist nicht einmal mehr halb so groß wie der deutsche (siehe »Bitten aus England«, Seite 13).

Um das Pfund zu halten, entschloß sich der Schatzkanzler zur Mobilisierung aller Reserven. Er unternahm sogar einen riskanten Schritt: Macmillan ersuchte die Amerikaner, England eine Zinszahlung von rund 90 Millionen Dollar zu erlassen, die alljährlich zu Silvester fällig ist.

Ein Abkommen mit den Amerikanern gibt England das Recht, ein solches Ersuchen an Washington zu richten. Voraussetzung ist aber, daß die englische Devisenlage prekär ist. Die Bitte um Nachlaß bedeutet also: Um dem Bankrott zu entgehen, kündigt man an, daß man dem Bankrott nahe ist.

Das ist keine gute Reklame für das Pfund, und aus diesem Grunde hatte 1951 die sozialistische Regierung Attlee die fälligen Zinsen prompt gezahlt, obwohl sich Großbritannien auch damals in schwerer wirtschaftlicher Bedrängnis befand. Macmillan aber hielt es für erforderlich, nach der ersten Demütigung, dem Suez-Rückzug, auch diese zweite, den Bittgang nach Washington, auf sich zu nehmen.

Nach dieser Ankündigung zeigte sich die berühmte nationale Disziplin der Engländer zum erstenmal wieder, seit Eden sie durch seinen unmoralischen Seitensprung zerschlagen hatte. Daß es klug war, um Verzicht auf die Zinsen zu bitten, wurde zwar selbst in Macmillans eigenem Lager bestritten. Im übrigen aber betonte Harold Wilson im Namen der Sozialisten, es sei »die Pflicht von jedermann, das Pfund zu stärken«. Die Opposition werde »alle geeigneten Maßnahmen des Kanzlers unterstützen«.

Macmillan war sich darüber klar, daß er sein Ziel nur mit amerikanischer Unterstützung - nicht nur hinsichtlich des Zinsnachlasses - erreichen konnte. Seine Aufgabe war es, die Politik des Einlenkens gegenüber Washington der Nation schmackhaft zu machen. Das war nicht leicht. Sogar einer seiner Regierungskollegen, Marineminister Lord Hailsham, hatte in einer öffentlichen Rede mit Kindertrotz Amerika der »moralischen Schwäche« geziehen und von Amerikas »Unfähigkeit, Tatsachen zu erkennen« gesprochen. Damals wußte man im Kabinett bereits von Englands Finanzdebakel.

Es kam Macmillan jedoch zugute, daß Präsident Eisenhower seine starre Haltung aufgab, sobald er sein Hauptziel, den Abzug der anglo-französischen Truppen, erreicht hatte. Nach Berichten, die ihm seine Botschafter aus den westeuropäischen Hauptstädten geschickt hatten, entpuppte sich nämlich der Suez-Streit als eine Mine, die Amerikas gesamte Weltpolitik der letzten zehn Jahre in die Luft zu sprengen drohte.

Falls Amerika nicht für das Nahost-Öl - das ausbleiben wird, bis der Suez-Kanal wieder eröffnet werden kann -Ersatz aus der westlichen Hemisphäre liefert, meinten amerikanische Europa-Kenner, muß man in Westeuropa mit drei oder vier Millionen Arbeitslosen rechnen. Das würde in Frankreich, in Italien und vielleicht auch anderswo den Drang zu neutralistischen Volksfrontregierungen fast unwiderstehlich machen, und Amerikas Politik der weltweiten Abwehr gegen den Kommunismus wäre im Herzstück der Alten Welt gescheitert.

In England, so analysierten die Diplomaten, lagen die Dinge noch komplizierter. Weigerte sich Amerika, mit den Briten wieder ins Geschäft zu kommen, so würde

sich die verworrene politische Lage auf der Insel so komplizieren, daß sie am Schluß nur durch vorzeitig angesetzte Wahlen gelöst werden könnte. Von deren Ausgang konnten sich aber die Amerikaner nur Böses versprechen.

Vielleicht, so ließ sich die »New York Times« aus London kabeln, würden die Konservativen siegen, weil sie nämlich durch einen Appell an die aufgestörten anti-amerikanischen Gefühle der Massen auf der Insel reüssieren könnten. Ein konservatives Kabinett, das durch solche Wahlen ans Ruder gekommen wäre, würde aber, da es gegen Amerika nicht regieren kann, in den Neutralismus ausweichen.

Auch auf anderem Wege könnte sich ein ähnliches Resultat ergeben, falls nämlich die Sozialisten die Wahl gewinnen würden. Labour-Führer Gaitskell hat in der letzten Zeit Amerikas »saubere Hände« im Nahen Osten öffentlich gelobt. Aber für die englischen Sozialisten ist betonte Freundschaft mit dem kapitalistischen Amerika eine Verlegenheitsposition, aus der sie sich eines Tages lösen möchten. Und daß sie es tun würden, dafür garantiert ein Name: Aneurin Bevan.

Der Rebell von einst ist zwar in den letzten zwei Jahren ruhiger geworden, aber Amerika und Amerikas Politik gefallen ihm auch heute nicht. Erst kürzlich hat er von der »lauwarmen Existenz« der Nato gesprochen. Er würde den Atlantikpakt mit Vergnügen opfern, um Moskau und Washington zu einem Ausgleich zu zwingen. Gerade dieser Mann aber wurde mitten in der Suez-Krise von Parteiführer Hugh Gaitskell an Stelle des farblosen Abgeordneten Robens zum parlamentarischen Partei-Sprecher für Außenpolitik ernannt. Das gibt ihm für den Fall eines Wahlsieges seiner Partei die Anwartschaft auf das Außenministerium.

Merkwürdigerweise haben ihn die Konservativen, die er früher oft zu voller Wut reizte und die er auch heute noch mit seinem spitzen Humor manchmal empfindlich trifft, neuerdings ins Herz geschlossen. Seine John-Bull-Figur gefällt ihnen besser als die ranke Erscheinung des Idealisten Hugh Gaitskell. Sie meinen, daß er vom

Mechanismus der Macht mehr versteht als sein Chef.

Die überraschende Liebe der Konservativen zu Bevan ist plausibel, weil

- Bevans bewährter Anti-Amerikanismus

der augenblicklichen Stimmung der Konservativen entspricht, und

- weil die Konservativen den Amerikanern durch das Gespenst einer Koalition mit Bevan Angst machen wollen.

Die Aussicht, daß Bevan eines Tages Außenminister werden könnte, hat tatsächlich Washington tief verstört. »Eine heftig gegen Amerika eingestellte Regierung in England«, schrieben die Gebrüder

Alsop in der »New York Herald Tribune, »würde unsere strategische Luftwaffe der englischen Stützpunkte berauben, von denen das Strategische Luftkommando in ausschlaggebender Weise abhängt.«

Amerika ist zu der Auffassung zurückgekehrt, daß es trotz Suez mit England zusammenarbeiten muß.

Solchen amerikanischen Einsichten will man in England nachhelfen. Der einflußreiche Lord Derwent hat im Oberhaus Sondersteuern auf amerikanische Filme und amerikanischen Tabak vorgeschlagen; im Unterhaus wurde sogar verlangt, die Tabakkäufe in den USA einzustellen.

Schatzkanzler Macmillan hat aus finanziellen Gründen mit Einsparungen am Wehretat gedroht. In Unterhaltungen sprechen konservative Politiker von einer Verminderung der englischen Streitkräfte in

Deutschland, was die Amerikaner - jedenfalls zur Stunde noch - zweifellos beunruhigen würde.

Selbst die Frage der Stützpunkte wurde öffentlich angeschnitten, von der Linken und von der Rechten. Der »Sunday Express« regte an, ein Startverbot für die amerikanischen Flugzeuge in England zu erlassen und das so gesparte Benzin der englischen Wirtschaft zuzuführen.

Ein Suez-Rebell, der schmächtige Abgeordnete Paul Williams, ging noch weiter. »Da die Stationierung der Bomber des Amerikanischen Strategischen Luftkommandos uns eventuell zum Ziel Nummer Eins der Russen macht, werden wir uns überlegen müssen, ob die weitere Bereitstellung englischer Stützpunkte für diese Flugzeuge für uns ein Vorteil oder ein Nachteil ist.«

Auf der Linken meinte der Abgeordnete Richard Crossmann, der oft denkt wie Bevan, die englische Politik seit 1945 habe England militärisch zu einem amerikanischen Atombomben-Stützpunkt, politisch zu einem Juniorpartner und wirtschaftlich zu einer Filiale der USA gemacht. »Ich wünsche mir, daß wir dieser Abhängigkeit von den USA ein Ende setzen.«

Angesichts solcher und ähnlicher Stimmen hat Amerika nun eingelenkt. Es hat Öllieferungen an ganz Westeuropa versprochen. Die amerikanische Regierung hat den Engländern darüber hinaus zugesagt, alles zu tun, um den Kongreß zum Erlaß der Zinsen zu bewegen. Und sie hat tatkräftige Hilfe bei allen Aktionen verheißen, durch die das Pfund gestützt werden kann. Daily Mirror, London

Wer räumt den Schrott beiseite?

Suez-Rebell Sir Ian Horobin

»Demütigender Rückzug«

Labour-Außenpolitiker Bevon: Der Anti-Amerikanismus ...

konservativer Marineminister Lord Hailsham

... eint Englands politische Gegner

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