Zur Ausgabe
Artikel 5 / 105

Lager Die klappen uns weg

In den westdeutschen Übersiedler-Quartieren grassieren Lagerkoller und Depressionen.
aus DER SPIEGEL 8/1990

So deprimierend hatte sich Werner Morisse, 39, seinen neuen Job nicht vorgestellt. Nahezu täglich, berichtet der Bremer Psychologe, werde er in seinen Beratungsstunden mit »wahren Dramen« konfrontiert. »Weinende Frauen, randalierende Männer, brüllende Kinder«, beschreibt der Therapeut seine Klientel. Morisse: »Eine menschliche Katastrophe.«

Seit Anfang des Jahres betreut der Psychologe ein Notlager für Übersiedler, aufgeschlagen in einem Trakt der Wilhelm-Kaisen-Kaserne in Bremen-Lesum. Auf den kargen Stuben der I. Marinestützpunktkompanie hocken seit November letzten Jahres rund 250 ehemalige DDR-Bürger, zumeist junge Familien und alleinstehende Männer, die an ihren neuen Lebensbedingungen schier verzweifeln.

Vor allem abends, »wenn mit der Dunkelheit auch die Depressionen kommen«, berichtet Almuth Stoess vom Arbeitersamariterbund (ASB) Bremen-Nord, seien die »Konflikte derart eskaliert«, daß zeitweilig »jede Nacht die Polizei« anrücken mußte.

Weitere Ausschreitungen soll nun der Morisse-Einsatz verhindern. Bei der »miserablen seelischen Verfassung« der Kasernenbewohner, berichtet die ASB-Chefin und Lagerbetreuerin Stoess, sei »psychologische Erste Hilfe nötig« - und das nicht nur in Bremen.

Bundesweit löst ein drastischer Anstieg von Aggressionen und Frustrationen in den Aufnahmelagern bei Betreuern Sorge um die Seelenlage ihrer Klientel aus. In saarländischen Notquartieren hat der Landeschef des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Albert Schwarz, schon erste Anfälle von »Lagerkoller« beobachet. In Hamburg meldet die DRK-Betreuerin Wiebke Meyer-Kolumbe zahlreiche »psychische Zusammenbrüche«. Immer mehr Bewohner von Notlagern, so die Sozialarbeiterin, »klappen uns einfach weg«.

Ursache ist das oft seit Monaten währende Leben in notdürftig hergerichteten Massenquartieren. In Campingwagen, Turnhallen oder auch Wohnschiffen hausen viele Übersiedler, angewiesen auf Gemeinschaftsduschen und Behelfsklos, ohne jegliche Privatsphäre auf engstem Raum zusammen.

»Wir müssen die Menschen stapeln«, beschreibt der Dortmunder Sozialdezernent Manfred Schelle das Gedränge in den Quartieren der Revierstadt. Und auch ein Essener Kollege räumt ein, daß die Zustände in den Notlagern längst unzumutbar sind: »Das verstößt gegen die Menschenwürde.«

Der Psycho-Druck hat zu einer erheblichen Zunahme von Zwischenfällen geführt. »Ohne Ausraster«, beschreibt ein Helfer die Lagersituation, »vergeht kein Tag mehr.« * Mit Psychologe Werner Morisse (l.) vom ASB in einer Notunterkunft in Bremen-Lesum.

Längst sind es nicht mehr nur gesellschaftliche Außenseiter wie Alkoholiker, Kriminelle oder Nichtseßhafte, die ihre Betreuer mit Randale auf Trab halten. Sorgen bereiten den Helfern zunehmend biedere Familien, bei denen die Zuversicht der ersten Wochen in Verzweiflung umschlägt.

Viele sind gereizt durch die bedrängte Lagersituation, gedrückt von der Chancenlosigkeit auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, geplagt von Selbstzweifeln. Frustration und Aggression entladen sich in Ehestreitigkeiten, Alkoholexzessen oder Gewalttätigkeiten.

In Unterkünften, in denen Übersiedler mit Polen-Aussiedlern zusammengelegt sind, macht sich der langgehegte Haß auf »die Pollacken« verstärkt Luft. Bei der »angespannten nervlichen Situation« in den Quartieren, berichtet der Bremer ASB-Mitarbeiter Morisse, müsse »jederzeit mit Selbstmordversuchen gerechnet werden«.

Nur per Zufall kamen vor wenigen Tagen in Hamburg DRK-Sozialarbeiter gerade noch rechtzeitig, um eine Übersiedlerin vom Suizid abzuhalten. Weil sie mit ihrer Situation nicht fertig wurde, hatte sich die alleinstehende Frau, Mitte 50, auf der Toilette eines Übergangswohnheims am Fensterkreuz erhängen wollen.

Das Ausmaß des seelischen Leids erhellt eine Umfrage der West-Berliner Ärztin und Aussiedler-Betreuerin Gabriele Kondziella unter 2000 Bewohnern von Übergangswohnheimen. Fast jeder zweite, ermittelten Frau Kondziella und Kollegen, klage über massive »psychosomatische Störungen« - Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Magenerkrankungen, Depressionen, Nervosität.

Vor allem bei Kindern, ergab die Kondziella-Untersuchung, führten die Belastungen zu »schwerwiegenden Folgen": Jedes dritte Kind reagierte nach Beobachtung der Ärztin unverhältnismäßig aggressiv, trotzig oder hyperaktiv. Bettnässen, Schlafstörungen oder Nägelkauen seien »fast schon normal«.

Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, bislang fast ausschließlich für die Lagerbetreuung zuständig, sehen sich überfordert. Seine Mitarbeiter, klagt Bernhard Döveling von der Bonner DRK-Zentrale, kämen bei der Betreuung »kaum über die Grundbedürfnisse hinaus«. Den zunehmenden psychischen Störungen, räumt Peter Gutwein vom Roten Kreuz in Münster ein, »stehen wir dilettantisch gegenüber«. Mitunter ergeht es den hilflosen Helfern wie dem Hamburger DRK-Sozialarbeiter Mohammed Bekrater, der »einige schlimme Fälle gleich nach Ochsenzoll gebracht« hat, in die psychiatrische Klinik. Bekrater: »Wir haben oft nur noch Feuerwehrfunktion.«

Engagierte Lagerbetreuer wie die Bremer ASB-Chefin Stoess haben ihre Mitarbeiterstäbe denn auch schon mit festangestellten Psychologen aufgerüstet. Andere Betreuer arbeiten mit Experten zusammen, die, wie die Psychologin Regina Lessenthin beim DRK in Ludwigsburg, zu kostenlosen Beratungsstunden in die Lager kommen.

Die Hamburger DRK-Mitarbeiterin Meyer-Kolumbe hält »ambulante Therapieeinrichtungen« für notwendig, in denen seelisch strapazierte Übersiedler in Krisen behandelt werden können.

Ob das gelingt, ist fraglich. Denn Fachleute wie die Münsteraner Psychologin Monika Sabel, die mit dem Bundesverband der Psychologen eine ehrenamtliche Lagerbetreuung organisieren will, befüchten, daß die »große Depression erst noch kommt«. Auch ihre Ludwigsburger Kollegin Lessenthin ist sicher: »Die große Welle der seelischen Störungen steht noch bevor.«

Trotz solcher Alarmmeldungen aus Betreuerkreisen sehen die meisten Sozialbehörden der Städte und Länder keine Notwendigkeit, zusätzliche Gelder für die psychologische Betreuung auszugeben. Noch, beschwichtigt etwa die Hamburger Sozialbehörde, sei es »ja zu keinen Auswüchsen gekommen«.

Hoffnung auf finanzielle Unterstützung für Psycho-Beratung haben die Hilfsorganisationen kaum. In den Ämtern gilt eine Parole, die Betreuer der Hamburger Sozialbehörde vernommen haben wollen: »Da müssen die eben durch.«

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 5 / 105
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren