Die Krieger aus Pearl Harburg
Es kommt selten vor, dass eine Kopie besser und effektiver ist als das Original. Aber es kommt vor.
Das Original steht im Universitätsviertel im pakistanischen Peschawar, ganz unscheinbar in der Sayed Jalaluddin Afghani Road, wo die Reichen und die Gebildeten wohnen. Das Original heißt »Beit al-Ansar«, was man mit »Haus der Unterstützer« übersetzen kann oder mit »Haus der Anhänger«. Der Mieter des Originals heißt Osama Bin Laden, der Mietvertrag ist sieben Jahre alt, und bis er sich versteckte, begrüßte Bin Laden hier Kämpfer, die kamen, um zu lernen für das, was ihr Meister »Heiligen Krieg« nennt.
Die Kopie steht in Hamburg-Harburg, Marienstraße 54. Ein vierstöckiger Nachkriegsbau ist das, blassgelb getüncht, schmucklos, mit Isolierfenstern in Kunststoffrahmen. Am Gehsteig der Einbahnstraße parken Ford Fiestas; es gibt keinen Vorgarten, nur vergitterte Kellerfenster.
Wenn Mohammed Atta seinen Mietanteil an seinen Freund Said Bahaji überwies, kritzelte er stets denselben Verwendungszweck auf den Überweisungsträger: »Dar el Ansar«, was das Gleiche bedeutet wie »Beit al-Ansar": »Haus der Unterstützer« oder »Haus der Anhänger«.
Denn hier, erste Etage rechts, hinter der Fußmatte mit der Aufschrift »Moin, Moin« haben sie in drei quadratischen Zimmern gewohnt, auf insgesamt 58 Quadratmetern: Atta und Binalshibh und die anderen, die Helfer und die Massenmörder, die am 11. September über 4000 Menschen töteten und die Welt veränderten.
Um 22.18 Uhr am 12. September übermittelte die amerikanische Bundespolizei FBI eine Liste mit 19 Tatverdächtigen. Noch an diesem Tag eins nach den Attentaten von New York, Washington und Pittsburgh stürmte ein Einsatzkommando des Landeskriminalamts Hamburg die Kopie des Hauses der Anhänger. Viel war nicht mehr da, nur ein Einbauschrank, eine weiße Einbauküche mit Dunstabzugshaube und ein Telefonanschluss im Flur. Ein paar Zettel fanden die Ermittler noch und Papiere im Keller, arabisch beschrieben, aber auch nach der Übersetzung nicht sehr vielsagend.
Ansonsten war die Terror-WG leer. Keine Menschen mehr, keine Beweise: Das Nest der Mörder war besenrein, renoviert und frisch geweißelt.
Die Durchsuchung des deutschen Hauses der Unterstützer war der Start; seitdem läuft die gewaltigste Kriminalfahndung aller Zeiten. Weltweit arbeiten Agenten und Detektive, Psychologen und Staatsanwälte an der Aufklärung der Anschläge. Allein in Deutschland gingen rund 17 000 Hinweise ein, 448 Menschen und 19 Firmen wurden überprüft, 452 Bank- und 43 Kreditkartenkonten gecheckt, Berge von Akten, Computern, Videos beschlagnahmt. Das Bundeskriminalamt (BKA) richtete die Soko USA ein, mit 600 Mann.
Und das Bild rundet sich.
Die Fahnder haben neue Namen, neue Verdächtige. Sie haben neue Spuren gefunden, die Wege des Geldes aufgespürt, und sie wissen nun sehr genau, wie der größte Terroranschlag der Neuzeit in einem tristen Teil Hamburgs inszeniert wurde.
Immer deutlicher wird, dass der deutsche Anteil an der Attacke sich nicht nur auf drei Piloten beschränkt. Auch die Rekonstruktionen von Telefonaten und Geldtransfers haben immer wieder denselben Endpunkt: Hamburg-Harburg, jenen Stadtteil der Hanse-Metropole, den man inzwischen auch Pearl Harburg nennen könnte.
Als sie in den Neunzigern hierher kamen, waren die Killer vom 11. September ganz normale junge Leute, Muslime natürlich und fleißige Studenten, deshalb Musterbeispiele für die Integrationsfähigkeit dieser Gesellschaft.
Aber dann wurden sie die Prototypen einer neuen Sorte von Terroristen, junge Männer, deren Potenzial irgendjemand erkannt haben muss: Smarte Jungs aus gutem Hause waren sie und deshalb viel zu schade für terroristischen Kleinkram wie Autobomben.
Für diese Kerle musste es schon etwas ganz Großes sein, ein Anschlag wie dieser eben, bei dem Aufwand und Effekt in einem irrwitzigen Verhältnis stehen: 19 junge Männer töten Tausende. Sie geben für Wohnungen, Ausbildungen, Flugscheine und Pässe nur ein paar hunderttausend Mark aus und verursachen über 200 Milliarden Mark Schaden. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist geradezu absurd, und funktionieren konnte das alles nur, weil einer wie Atta das eigene Leben unter »Nebenkosten« verbuchte.
Ihre tödlichen Phantasien, das steht inzwischen fest, haben die Mörder in Hamburg entwickelt, erst zaghaft, dann hemmungslos. Und offen. Viele Leute in den Hamburger Gemeinden müssen gewusst haben, dass mitten unter ihnen eine radikale Truppe heranwuchs, die beim Tee den Hass auf Juden und Amerikaner pflegte.
Vor der Tat kam die Ausbildung. Von Hamburg führte 1999 der Weg der späteren Piloten nach Afghanistan. Atta und Marwan al-Shehhi, der sich dort Abu Abdallah genannt haben soll, waren nach Überzeugung der Amerikaner in einem Gästehaus von Bin Ladens Terrortruppe al-Qaida in Kandahar. Ziad Jarrah, davon sind sogar Familienmitglieder überzeugt, ging auch; der Junge hatte ja sogar seinem Onkel erzählt, für ihn gebe es nur den Weg des Märtyrers.
Als sie dann im Sommer 2000 in die USA aufbrachen, verwischten sie nicht einmal alle Spuren. Aus Bücherschränken zogen die Fahnder Werke über den »Heiligen Krieg«; in Schubladen fanden sie 94 Kopien von Bin Ladens Aufruf zum Kampf gegen die Ungläubigen; in Attas Gepäck lagen ein Testament und eine Art Dienstanweisung für den Massenmord; in Hamburg, in einer einstigen Wohnung Jarrahs, fand sich etwas, was sich nach dem Anschlag wie eine Prophezeiung liest: »Der Morgen wird kommen. Die Sieger werden kommen. Wir schwören, wir werden euch besiegen. Die Erde wird unter euren Füßen beben.« In den Trümmern der in Pennsylvania abgestürzten Maschine, jener, die es als Einzige nicht ins Ziel schaffte, lag ein angekokelter Zettel mit einer Hamburger Adresse.
Hamburg. Immer wieder Hamburg.
Nach den Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft sind neben den drei Piloten nun zehn weitere Männer verdächtig, an der Vorbereitung der Anschläge beteiligt gewesen zu sein; in allen Fällen laufen jetzt Ermittlungsverfahren. Zwei dieser Männer sollten wohl ebenfalls in den Maschinen sitzen; weil sie keine Visa erhielten, scheiterte der Plan. Drei sind auf der Flucht und werden per Haftbefehl gesucht; ein weiterer, der Deutsch-Syrer Mohammed Haydar Zammar, soll in Marokko sein. Die anderen, darunter der aus Syrien stammende Mamoun Darkazanli, sind noch hier.
Für die deutschen Sicherheitsbehörden ist all das, was die Ermittlungen zu Tage fördern, eine ziemlich bittere Erfahrung. Dass Radikale Deutschland als Unterschlupf nutzen, war bekannt. Aber es galt als eine Art Grundregel, dass sie schon nichts tun würden, was die Behörden misstrauisch machen würde. Das arabische Sprichwort: »In den Teller, aus dem man isst, spuckt man nicht«, scheine »an Verbindlichkeit zu verlieren«, sagt der Leiter der Abteilung Ausländerextremismus beim Bundesamt für Verfassungsschutz, Helmut Stachelscheid.
Zwei der jetzt Verdächtigen etwa, Darkazanli und Mohammed Zammar, sind für Verfassungsschutz und Polizei alte Bekannte; seit Jahren stehen sie im Verdacht, Bin Ladens Statthalter in Hamburg zu sein.
Hätte deshalb irgendjemand erahnen können, was am 11. September geschah? Wohl kaum.
Ein anderer, Zakariya Essabar, schrieb bei seiner Bewerbung um einen Studienplatz, dass er nach Norddeutschland wolle, »weil Hamburg als Hafen- und Handelsstadt bekannt für seine Offenheit und Toleranz« sei. Purer Sarkasmus im Nachhinein - doch waren die Sicherheitsvorkehrungen nicht wirklich zu lasch?
Im Behördenstaat Deutschland hat jeder seine Spuren hinterlassen. Einreise - bitte schön, ein Blick in die Ausländerakte. Umzug - kein Problem, mit Hilfe des Melderegisters. Studium - klar, jeder hat eine dicke Akte. Da können die Amerikaner, bei denen es nicht einmal eine Meldepflicht gibt, nur staunen.
Es ist nur eben so, dass jetzt auch all die Fehler und Schwächen der vergangenen Jahre offenkundig werden. Atta etwa war mit drei Pässen registriert. Dass das keiner gemerkt hat, macht Innenminister Otto Schily heute noch rasend. Und dass der inzwischen weltweit gesuchte Ramzi Binalshibh bei seiner Einreise nach Deutschland noch Ramzi Omar hieß, weiß das BKA nur dank eines Zeugen, der sich nach der Veröffentlichung des Fahndungsfotos an den Mann erinnert hat.
Vieles gilt inzwischen als gesichert: Die vier Piloten, so meinen die Ermittler, waren die Hirne - und die 15 anderen die Muskeln. Womöglich wussten die Kidnapper, die Flugoffiziere aus den Cockpits gezerrt haben müssen und dann hinten in der Maschine die Passagiere in Schach hielten, nicht einmal, dass es nicht um eine einfache Entführung, sondern direkt in den Tod ging.
Detail um Detail tragen die Fahnder zusammen, aber es gibt da eine seltsame Schieflage: Die deutschen Ermittler finden eine Menge heraus und teilen es den Kollegen in Amerika und anderswo mit - aber wenig kommt zurück. Die riesigen Dollar-Überweisungen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten? Leider sei immer noch keine Auskunft zu den Einzahlern möglich, heißt es. Die 13 Attentäter aus Saudi-Arabien? Wir bedauern, noch sind keine Angaben zur Vita verfügbar. Der vierte Pilot, Hani Hanjour, gleichfalls aus Saudi-Arabien? Dito, keine Biografie zur Hand.
Etliche Fragen sind immer noch offen: Wer hat die Attentäter aus Hamburg und dem Rest der Welt ausgesucht und zusammengeführt? Von wem stammt der Plan?
Diese Lücken machen die Ermittler und die Bundesregierung einigermaßen ratlos. Mauern die Amerikaner, oder wissen sie wirklich so wenig? Und wie soll man die Bedeutung der Hamburger Zelle beurteilen, wenn man nichts über die anderen Attentäter weiß?
Wichtig war sie, das immerhin wissen die Fahnder nun.
Sehr wichtig.
Denn hier fing es an.
Es gibt Fragen, die sich Ermittler hinterher immer stellen: hätte das Verbrechen verhindert werden können? Hätten die Mörder enttarnt werden können - vor dem Mord?
Mohammed Atta, Kopf der Gruppe, ruhigster und stärkster der 19 Täter vom 11. September, kam als braver Student ins Land. Der sanfte Junge, der in Kairo seinen Bachelor of Architectural Engineering gemacht hatte, sollte Deutsch lernen, und seinen Doktor sollte er in Deutschland machen - so wollte es Mohammed Atta senior, der Vater, Rechtsanwalt in Kairo.
Laut Ausländerakte reist Atta junior am 24. Juli 1992 zum ersten Mal nach Deutschland ein. Eine Aufenthaltsgenehmigung hat er nicht, und niemand verlangt sie von ihm, denn ein Hamburger Lehrer-Ehepaar, das sich um einen Schüleraustausch zwischen Deutschland und Ägypten kümmert, hat ihn eingeladen.
Atta bewirbt sich um einen Architektur-Studienplatz an der Fachhochschule Hamburg, und als er dort keinen Platz bekommt, klagt er. Als er doch noch zugelassen wird, nimmt er seinen Einspruch zurück und tritt das Studium nicht an: Er hat sich bereits für Stadtplanung an der Technischen Universität Hamburg-Harburg eingeschrieben.
Atta (Deutsch: das Geschenk), der in Deutschland seinen vollen Namen Mohamed Mohamed al-Amir Awad al Sajjid Atta auf Mohamed al-Amir verkürzt, kommt gut zurecht in der Fremde. Klar, mit dem Lehrer-Ehepaar, bei dem er untergeschlüpft ist, hat er Krach; »wir diskutierten oft mit ihm, wenn er mal wieder die Hände vors Gesicht schlug, weil Halbnackte im Fernsehen kamen«, sagen die beiden. Und am Ende schmeißen sie ihn raus: Atta hatte während des Ramadan darauf bestanden, nachts zu kochen, und deshalb konnte keiner mehr schlafen.
Er findet ein Zimmer im Studentenwohnheim Am Centrumshaus, nahe der Universität. Und an der Hochschule werden ihm seine ägyptischen Scheine angerechnet; er kann gleich mit dem Hauptstudium beginnen.
Auffällig? Nur im besten Sinne. So war es auch bei Ziad Jarrah oder Marwan al- Shehhi; die meisten der jungen Männer kamen, um zu studieren. Als Muslime, natürlich, aber nicht als Kriminelle. Bei einigen anderen allerdings war auch das ein bisschen anders. Es gab da etwa welche, die mit diversen Namen hantierten und dadurch die Behörden narrten.
Ramzi Mohamed Abdullah Binalshibh, 1972 im Jemen geboren, kam per Schiff nach Hamburg und stellte am 27. September 1995 einen Asylantrag. Damals nannte er sich noch Ramzi Mohamed Abdellah Omar. Er erzählte, er sei 1973 im Sudan geboren worden. Mit der ziemlich hilflosen Geschichte, dass er in Khartum nach Studentenunruhen von der Polizei für zwei Wochen festgenommen worden sei, begründete er seine Flucht.
Der Antrag wurde vier Monate später abgelehnt, und Binalshibh alias Omar klagte. Im Dezember 1997 wurde die Klage abgewiesen, und im Mai 1998 wurde Omar, weil er verschwunden war, zur Fahndung ausgeschrieben. Das allerdings interessierte Binalshibh schon nicht mehr.
Denn im Dezember 1997 war Ramzi Binalshibh mit einem Schengen-Visum in die Bundesrepublik eingereist. Am 6. November 1998 zog er in die Marienstraße 54, das Haus der Unterstützer. Er war ein Student, so ein Kommilitone, der »in Mathe immer Sechsen bekam, weil er schlief oder unterm Tisch den Koran las«.
Es gab andere, die kamen einfach und kümmerten sich nicht um Formalitäten.
Muhammad Bin Nasser B., 1946 in Indonesien geboren, reiste im März 1972 mit einem Touristenvisum ein, das für zwei Monate gültig war. Er blieb 13 Jahre lang. Illegal. 1985 wurde er erwischt, kam in Abschiebehaft, doch dann geschah eines dieser Wunder deutscher Bürokratie: Der Mann erhielt eine Duldung, eine Aufenthaltsgenehmigung und 1991 auch noch die Arbeitserlaubnis; B. begann bei der Hamburger Post im Briefzentrum. Im November 2000 wurde B. deutscher Staatsbürger, den Bundespersonalausweis Nummer 1297133503 stellte die Stadt Hamburg aus. Endlich konnte B. reisen, wohin er wollte. Auch er war in den USA. In der vergangenen Woche verhafteten die US-Behörden seinen Freund Agus Budiman, der B. falsche Dokumente beschafft hatte. Auch ein Indonesier. Auch ein Student aus Hamburg.
Dann gab es zwei, und das irritiert die Fahnder besonders, die als Musterbeispiele gelungener Integration galten. Said Bahaji, noch immer flüchtig, ist der Sohn einer deutschen Mutter und eines marokkanischen Vaters. Warum entdeckt einer wie er das Erbe seiner Vorvorfahren und zieht in den Kampf gegen den Westen?
So war es auch bei Mohammed Zammar, einem gebürtigen Syrer, der im Alter von zehn Jahren erstmals seinen in Deutschland lebenden Vater besuchte. Mit 21 Jahren wurde er eingebürgert; seine Frau und seine sechs Kinder leben in Hamburg.
Ausgerechnet dieser Zammar wird nun immer mehr zu einer zentralen Figur: Er war ein Vorbild für viele der radikalen Muslime in Hamburg, ein Krieger, einer, der alles schon erlebt hatte, was die anderen erst erleben wollten. So wie früher Glaubensbrüder stolz von der Pilgerfahrt nach Mekka berichteten, soll er damit geprahlt haben, dass er in Bosnien und Afghanistan gekämpft habe.
Und schließlich gab es da noch einen, der daheim in Ägypten wegen Mords und zweifachen versuchten Mords zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden war, ehe er als Asylbewerber in Deutschland anerkannt wurde. Der Mann war Mitglied des ägyptischen »Islamischen Dschihad« und soll Verbindungen zu »Heiligen Kriegern« in Italien und England haben. Aber er darf bleiben, weil ihn gerade seine radikale Vergangenheit vor der Abschiebung schützt. Und darum predigt er heute als Imam im Westfälischen.
Bei Leuten wie ihm ist nicht klar, ob sie eine Rolle bei der Vorbereitung der Anschläge gespielt haben. Es finden sich nur immer irgendwelche Verbindungen zur Hamburger Gruppe; ein Anhänger des Ägypters beispielsweise telefonierte des öfteren mit Todespilot Jarrah.
Klar ist, dass sich die späteren Mörder in Deutschland gleichsam aufgeladen haben; in Moscheen wird der Strom geliefert, wenn die Brüder unter sich sind.
Und irgendjemand, das gilt als gesicherte Erkenntnis, muss auch einen folgsamen Terroristen wie Mohammed Atta in den Selbstmord geführt haben.
Mohammed Atta trug Flanellhosen und Pullover. Er war klein, schmächtig, hatte schwarze, kurze Haare und einen festen, ruhigen Blick. »Klassische, fast griechische Gesichtszüge« hat sein einstiger Kommilitone Martin E. in Erinnerung.
Und dieser Atta war eine Art Offizier der Terroristen. Er hatte, das steht heute fest, eine zentrale Rolle, er war der Gruppenführer der Hamburger Mörder.
Die Gutachter, die sich nun in Amerika und in Europa mit dem Massenmörder Atta befassen, um das zu erklären, was kaum zu erklären ist, beschreiben ihn als rational, sprachbegabt, perfektionistisch und hochintelligent, als selbstbewusst und rganisatorisch geschickt. Atta muss, schreiben sie, im höchsten Maße belastbar gewesen sein, körperlich wie geistig; nur selten seien sein Fanatismus und sein Antiamerikanismus durchgebrochen. Wer so hasse und so wenig davon zeige, sagen die Fachleute, der sei nicht geistesgestört, der verfüge über eine geradezu bizarre Verhaltenskontrolle.
Der einstige Kumpel Martin E. beschreibt einen zurückhaltenden, ja verschlossenen Menschen: »Atta ließ mich deutlich merken, dass er sich übers Privatleben nicht unterhalten will.« Frauen gegenüber war Attas Verhalten schroff, er fühlte sich unbehaglich. Er gab ihnen nicht die Hand, wandte den Blick ab, antwortete mit Ja oder Nein.
Aber es gab auch eine andere Seite Attas, es muss sie gegeben haben. »Ein kulturelles Angstgefühl, die Furcht, an den Rand gedrängt zu werden«, hat Martin E. bei Atta ausgemacht. Die Gutachter nennen das »Frustrations- und Hilflosigkeitsgefühle«, die irgendwann in einen irrwitzigen Vergeltungsdrang gemündet haben.
Eine schizophrene Situation: Atta sprach perfekt Deutsch, er war angekommen, so wirkte es zumindest. Bei der Firma Plankontor in Hamburg-Altona, wo Atta 19 Stunden pro Woche als Zeichner arbeitete und 1700 Mark im Monat verdiente, hatte er einen Schlüssel; er betreute das Telefon, und Kollegen, die Rückenschmerzen hatten, brachte er Naturheilmittel mit. Er schien dazuzugehören, ein moderner Wanderer zwischen den Welten, zwischenzeitlich am Ziel. Zum einen. In Wahrheit aber, zum anderen, muss er sich all die Jahre über fremd gefühlt haben.
Selbst unter Glaubensbrüdern fiel er bisweilen durch Starrsinn auf. In der al-Kuds-Moschee am Hamburger Steindamm, wo sich die Hamburger Gruppe immer wieder traf, gründeten jüngere Besucher eine Arbeitsgruppe, und sie wollten gemeinsam ein Infoblatt herausgeben. Doch Atta mochte sich in der Gruppe nicht unterordnen. Er lieferte seine Texte nicht, kam unpünktlich und verweigerte dem Leiter der Gruppe die Gefolgschaft.
Atta trifft in Deutschland auf viele, die sich für ihn interessieren. Keine ignoranten Ungläubigen, sondern Menschen, die sich für die Bewahrung der Kultur seines Heimatlands stark machen. An der Universität begeistert er Studenten und Professoren mit seinen Erzählungen aus Kairo. Im Seminar »Planen und Bauen in Entwicklungsländern« hält er Vorträge aus dem Stegreif, er ist eloquent und gebildet. Atta will die islamische Identität wahren. Er hasst die westliche, amerikanisierte Kultur, die Ägypten übergestülpt wird, und er empört sich darüber, dass Hochhäuser das Wesen einer arabischen Altstadt zerstörten.
1994 bewirbt sich Atta für ein Stipendium der entwicklungspolitischen Carl-Duisberg-Gesellschaft. »Da ich in einem Entwicklungsland geboren und aufgewachsen bin, habe ich selbst mehrere Seiten der Problematik miterlebt«, schreibt er und: »Sozusagen als neue Generation haben wir Studenten uns mit Fragen über die Möglichkeiten, Chancen und Gefahren befasst und das Thema Entwicklung kritisch aber hoffnungsvoll diskutiert. Ohne bereits genau zu wissen, wie dies geschehen sollte, wollten wir doch in jedem Falle etwas für unser Land tun.«
Anders als die anderen, die sich mit technischen Fächern beschäftigen, ist Atta immer wieder mit dem Konflikt zwischen westlicher Welt und Entwicklungsländern konfrontiert. Hochhäuser werden für ihn zum Symbol der westlichen Kultur, welche die eigene verdrängt. Existierten jemals bedeutendere Hochhäuser, gewaltigere Symbole als die beiden Türme des World Trade Center von New York?
Es gibt bei Atta wie bei den meisten anderen zwei entscheidende Wendepunkte. Ende 1995 beginnt seine Radikalisierung; vier Jahre später, Ende 1999, wird er zum Terroristen. Reisen in die arabische Welt verändern ihn. Von der Pilgerfahrt nach Mekka kehrt er mit einem Bart zurück; Musik lehnt er ab; stundenlang hört er Koran-Rezitationen vom Band. An der Hochschule taucht er seltener auf. Für 1998 sind keine Leistungen mehr notiert; seinem Professor Dittmar Machule erzählt Atta von familiären Problemen in Kairo. Aber er wird häufig in den Moscheen gesehen, vor allem in der al-Kuds-Moschee am Steindamm.
Dort macht er 1996 sein Testament, das zwei seiner Kommilitonen unterzeichnen. Vielleicht hat er sich da schon für den Märtyrertod entschieden. Vom Notar lässt Atta eine Vollmacht für Béchir B., einen Tunesier, ausstellen. B. wird damit zum Vertreter Attas in allen rechtlichen Belangen. Und im November 1998 zieht Atta ins Haus der Unterstützer, die Marienstraße 54, zusammen mit Said Bahaji und Ramzi Binalshibh, jenen zwei mutmaßlichen Helfern, die heute weltweit gesucht werden. Atta gründet die Islam AG der TU Harburg. »Wenn ich nicht beten kann, kann ich auch nicht studieren«, sagt er dem Asta-Vertreter, der Religion und Studium trennen will.
Ein konspiratives Doppelleben beginnt.
In den USA nennt er sich Atta, in Deutschland Amir.
Als Atta 1999 seine Prüfung mit den Noten 1,7 und 1,0 besteht - Thema: »Khareg Baben-Nasr: Ein gefährdeter Altstadtteil in Aleppo. Stadtteilentwicklung in einer islamisch-orientalischen Stadt« -, weiß er wohl schon, dass er nie als Stadtplaner arbeiten wird. »Mein Gebet und meine Opferung und mein Leben und mein Tod gehören Allah, dem Herrn der Welten«, schreibt Atta über seine Arbeit.
Atta beginnt zu reisen. 1999 soll er in einer Unterkunft der Bin-Laden-Truppe al-Qaida in Kandahar gewohnt haben. Wie auch sein Helfer Shehhi. Kurz darauf melden Atta, Shehhi und Jarrah, die drei Todespiloten vom 11. September, ihre Pässe als verloren. Sie bekommen neue, und dadurch verschwinden die verdächtigen Stempel aus Pakistan und Afghanistan.
Es hat begonnen.
Das Netzwerk arbeitet.
Allein die Fluggesellschaften kostet der 11. September rund 20 Milliarden Mark; Versicherungen müssen mit 60 bis 100 Milliarden Belastungen rechnen. In der zynischen Welt des Terrorismus hat es nie ein besseres Ergebnis gegeben.
Es gab, das haben die Fahnder inzwischen entwirrt, zwei wesentliche Wege, auf denen die Terroristen zu Barem kamen. Die größeren Summen, das haben die Amerikaner herausgefunden, wurden per Überweisung oder per Boten aus Ländern wie den Emiraten geschickt. Dort und in Saudi-Arabien sitzen reiche Geschäftsleute, die einer seltsamen Doppelmoral folgen. Mit dem Westen machen sie Geschäfte, aber einen Teil ihrer Einnahmen spenden sie für den Kampf gegen die Ungläubigen.
Und dann gingen kleinere Beträge vom einen, der gerade etwas übrig hatte, zum nächsten, der etwas brauchte.
Vom Konto Shehhis, über das ein mutmaßliche Helfer eine Vollmacht hatte, wurden am 10. Mai 2000 exakt 2100 Mark auf Attas Konto bei der Dresdner Bank Hamburg überwiesen.
Atta und Shehhi richteten sich, als sie zum Training in Florida waren, das Konto Nummer 573 000 259 772 bei der Suntrust Bank ein. Am 19. Juli 2000 kamen dort, das hat die Kontoauswertung ergeben, 9985 Dollar von einem gewissen Isam Mansur aus den Emiraten an, zwei Wochen später noch mal 9485 Dollar. Am 30. August kamen 19 985 Dollar von Mr. Ali an und am 18. September 69 985 Dollar von Hani. Penibel wie er war, überwies Atta noch drei Tage vor dem Attentat, am 8. September, genau 7860 Dollar, die übrig geblieben waren, an Mustafa Ahmed zurück in die Emirate; auch Shehhi soll noch einen Tag vor den Anschlägen rund 5000 Dollar an Ahmed zurückgeschickt haben.
Diese Überweisungen gehören für die Amerikaner zu den stärksten Beweisen, dass Bin Ladens al-Qaida hinter dem Anschlag steckt. Mustafa Ahmed, ein 33-jähriger Saudi, der nur Stunden vor den Anschlägen Richtung Pakistan verschwunden sein soll, gilt den FBI-Ermittlern als »Finanzguru« der Organisation. Als Bankier des Anschlags. Nicht nur Zahlungen sollen da hin- und hergegangen sein, Atta und seine Kumpane sollen in den Tagen vor dem Anschlag auch immer wieder mit ihm telefoniert haben, zuletzt kurz bevor die Attentäter an Bord der Flugzeuge gingen.
Von Ahmed fehlt jede Spur, seit er am 13. September mit seiner Kreditkarte einen Bankautomaten in Karatschi leer geräumt hat.
Gern würde man Terroristen wie Atta und Co. krank nennen, geistesgestört, nicht normal eben.
Allesamt Psychopathen.
Es wäre bloß nicht richtig.
Für einen Psychopathen, sagen die Wissenschaftler, die sich mit dem 11. September befassen, wäre es denkbar, Menschen zu quälen, zu foltern, zu töten. Das Gleiche mit sich selbst zu machen, wäre für einen Psychopathen allerdings ein grotesker Gedanke.
Die meisten der 19 Mörder und ihre Helfer waren kluge Jungs, stabil und selbstbewusst. Was sie unterschied von Menschen, die nicht Dienstagmorgens um 9 Uhr ins World Trade Center fliegen, das war das, was Fachleute einen »isolierten religiösideologischen Wahn« nennen, ein verzerrtes, meist indoktriniertes Wirklichkeitsbild. Und da haben die angesetzt, die sie geschult haben.
Es war, so urteilt ein psychologisches Profil der Attentäter, eine Schulung in zwölf Schritten.
Der erste Schritt war die Entwicklung einer extremen religiösen und politischen Überzeugung, der zweite die Verstärkung des Feindbilds, die Definition des Westens als böses Gebilde. Der dritte Schritt war die Beschreibung der Gegenwart als Kriegszustand. Die Selbsttötung, die der Koran verbietet, wurde so, Schritt vier, zur militärischen Verteidigung deklariert.
Ziad Jarrah (Deutsch: der Chirurg) kam am 3. April 1996 aus dem Libanon nach Deutschland, machte in Greifswald einen Sprachkurs. Im September 1997 zog er nach Hamburg, begann an der Fachhochschule Flugzeugbau zu studieren. Schüchtern war er und fleißig. Und natürlich: unauffällig.
Im Sommer 1998 arbeitete Jarrah zusammen mit dem Marokkaner Zakariya Essabar als Werkstudent bei Volkswagen in Wolfsburg in der Lackiererei. Nachtschicht, Halle 15 b, Südseite.
Essabar lebte von Februar 1997 an in Deutschland; am 1. September 1999 zog er in die Marienstraße 54. Auch er galt als lieb, nett, fleißig und: unauffällig. Was er bei der Wohnungsbesichtigung sah, gefiel ihm wohl: Zwar waren ein paar Klingelschilder herausgebrochen, und eine Gegensprechanlage gab es nicht, aber Leute wie Essabar wollten kaum gefunden werden. Und oben war alles sauber. Drei Zimmer gab es, zwei zur Straße, eines zum Hof, und im Garten standen eine Tanne und zwei Krabbeltunnel für Kinder. Deutsches Kleinbürgertum, man kennt sich nicht, man interessiert sich nicht. Und zum Einkaufen mussten die Jungs aus der Terror-WG nur zu Lotto-Feinkost Haase um die Ecke.
Es war Herbst 1999, als Essabar in der Marienstraße und in den Moscheen seine Vormieter traf: Said Bahaji, Mohammed Atta und Ramzi Omar alias Ramzi Binalshibh. Und dann noch Marwan al-Shehhi, einen lustigen Kerl, der gleich nebenan in der Wilhelmstraße wohnte.
Shehhi hatte Geld, viel Geld für einen Studenten. Er war mit einem Militärstipendium der Vereinigten Arabischen Emirate nach Deutschland gekommen; 4000 Mark im Monat kamen über die HBSC Middle East Bank Dubai bei ihm an und einmal im Jahr eine Sonderzahlung von über 10 000 Mark. Shehhi, der sich auch Marwan Lekrab nannte, hatte im Frühjahr 1996 am Goethe-Institut in Bonn Deutsch gelernt; der damals 18-Jährige protzte nicht herum, er bezog ein kleines Zimmer.
Kein Eiferer sei er gewesen, sagt seine einstige Lehrerin, eher unreif und ziellos. Ein mittelmäßiger Schüler, der mit ins Kino ging und freitags mit Schlips und Sakko erschien, weil er hinterher beten wollte.
Danach besuchte Shehhi ein Studienkolleg in Bonn, und dann zog er weiter nach Hamburg. Dort aber fiel er durch und verschwand im Mai 1998 für ein halbes Jahr. Nach Afghanistan?
Erst im Januar 1999 kommt Shehhi zurück. Nach Bonn. Bei Shehhi ist vieles anders als bei den anderen.
Er diente beim Militär der Emirate, er absolvierte dort die Grundausbildung. Die Emirate, das gefällt keinem der Ermittler, sind auch so ein Brennpunkt, über den man nicht viel weiß. Es gibt die Theorie, dass Shehhi als Einziger von Anfang an Krieg führen wollte.
Shehhi lernte Atta in Hamburg kennen. Die zwei wurden Freunde, Genossen des Terrors. Weil sie so unterschiedlich waren? Shehhi, der Spaßvogel - und Atta, der ewig ernste Stratege? In der Wilhelmstraße ziehen sie erstmals zusammen, und zusammen werden sie bleiben, bis sie sich am Morgen des 11. September trennen und die beiden Flugzeuge besteigen, die sie dann in die zwei Türme des World Trade Center jagen.
Damals, 1999, hat sich die Gruppe geformt. Shehhi stößt auf Ramzi Binalshibh, und ziemlich schnell entscheidet er sich gegen das eine, das muntere Leben, und für das andere, die Vorbereitung des Massenmords.
Freunde vermissen Shehhi, denn zur Universität geht er nicht mehr; im Dezember 2000 wird er exmatrikuliert. Heute weiß man, warum: Er beginnt am 1. Juli 2000 den Flugunterricht in Oklahoma, zusammen mit Atta natürlich. Shehhi sitzt sogar hinten im Flugzeug, wenn Atta Unterricht bekommt. Misstrauischen Bekannten erzählen sie die Geschichte vom Königssohn Atta und dem Leibwächter Shehhi.
Die beiden haben sogar eine gemeinsame Visa-Karte; Shehhi ist der Finanzminister des Regenten Atta und verbucht die Unterstützung von den Brüdern aus Hamburg: Der Genosse Binalshibh überweist ihm im Juli 2000 genau 3853 Mark und im September noch einmal 9629 Mark an die Western Union in Amerika.
Am 5. November 2000, zwischen den beiden Flugschul-Lehrgängen, meldet die Botschaft der Emirate Shehhi bei der Hamburger Polizei als vermisst. Sein großer Bruder macht sich nach Hamburg auf, um ihn zu suchen - erfolglos. Dieser Bruder erzählt auch von Marwans Eltern: von seiner ägyptischen Mutter und seinem Vater, einem islamischen Prediger aus den Emiraten, der den Sohn mit in die Moschee gehen ließ; kam Papa einmal zu spät, durfte der kleine Marwan den Gebetsruf übernehmen. Staunend hören Shehhis einstige Freunde auch, dass ihr alter Kumpel Marwan verheiratet ist - seine Frau lebe und warte auf ihn.
Sie wartet noch heute.
Shehhi fliegt Anfang Januar von Florida nach Casablanca, am 18. Januar zurück nach New York. Und Mitte April fliegt er noch einmal nach Amsterdam. Wen er dort getroffen hat, ist bis heute unklar.
Der fünfte Schritt in der theoretischen Schulung der Selbstmordattentäter war die Beschreibung der Tat als Ehre, als von Allah vorherbestimmt. Daraus folgt, Schritt sechs, dass die Mörder Auserwählte waren und dass der Massenmord, Schritt sieben, die einzige wirkungsvolle Aktion gegen den übermächtigen Feind sein würde.
Zweifel? Der achte Schritt, von den geistigen Führern des Kommandounternehmens immer wieder ganz besonders hervorgehoben, war, dass die Täter lernten, dass sie als Märtyrer ohne jeden Zweifel ins Paradies einziehen würden; das war der individuelle Nutzen. Und der kollektive Nutzen, Schritt neun in den Predigten für die jungen Killer: Die Heldentat würde den Gegner da treffen, wo es wehtut; eine größere Symbolik könne es nicht geben.
Es ist erstaunlich, wie dreist die Terroristen manchmal agierten. Attas Überweisungen für das »Haus der Unterstützer«, seine Widmung - natürlich hätte irgendetwas irgendwann irgendwem auffallen können. Sie müssen sich sicher gefühlt haben.
Trotzdem pflegten sie alle ihre Legenden. Manche arbeiteten bei VW am Band, andere bei Siemens, am Hamburger Flughafen, beim abelkanal Premiere, bei der der kleinen Firma Hay Computing in Wentorf bei Hamburg. Islamisten, die mit allem unterstützt werden, was sie brauchen, packen Computer in Kisten, für 15 Mark die Stunde? Die meisten von ihnen hatten ja ursprünglich das westliche Leben führen wollen. Nun war dieses Leben das falsche, das es zu bekämpfen galt. Aber weil sie es beherrschten, diente es ihnen zur Tarnung.
Heute redet kaum einer der Verdächtigen, und auch viele aus ihrem Umfeld schweigen. In den Hamburger Gemeinden, in denen die Terroristen ein- und ausgingen, kommen immer wieder diese nichts sagenden Antworten: Ja, vom Sehen kenne man sich schon; nein, von einer besonders radikalen Einstellung habe man nichts, aber auch gar nichts bemerkt. Nur gute Muslime seien die Jungs gewesen.
Und wenn die Fahnder endlich etwas wissen, beginnt das nächste Spiel. Warum denn der angeblich nur flüchtige Bekannte hier gewohnt habe, fragen sie einen Verdächtigen. Das sei doch nur eine Gefälligkeit unter Brüdern, antwortet der. Und der in der Schublade gefundene Pass? Den habe ein Bekannter hinterlegt, der sich illegal in Hamburg aufhalte. Die vielen Anrufe in Italien und Spanien? Alles Bekannte, deren Namen gerade entfallen sind. Und ob die am Wochenende gemieteten Autos für einen klammen Studenten nicht etwas ungewöhnlich seien? Nein, das sei für einen Ausflug einfach bequemer.
Die wenigen, die geredet haben, legen nahe, dass in Hamburg einige, mehr als zunächst vermutet, das Geheimnis kannten: Die Gruppe des jungen Atta saß in den Moscheen oft abseits; wer ihre Einstellung nicht teilte, hatte in diesem Kreis nichts zu suchen. Spätestens 1999 hatten sie sich religiös derart aufgeputscht, dass ihnen der »Heilige Krieg« gegen die Ungläubigen wie eine Pflicht erschien. Aber von jenen Gruppen, die der Verfassungsschutz im Visier hat, hielten sie sich geschickterweise fern.
In Hamburger Moscheen, so berichten Zeugen dem SPIEGEL, hätten sie ihren Hass zur Schau gestellt: »Die Juden sollen verbrennen, und wir werden auf ihren Gräbern tanzen.«
Warum brüllt einer wie Said Bahaji so etwas? Gerade er. Mit seiner Geschichte. Andererseits: Said Bahaji, das war der, der das doppelte Leben von allen am besten beherrschte.
Er war damit aufgewachsen.
Bahaji, geboren am 15. Juli 1975 in Haselünne, wuchs in Haren im Emsland auf; bis 1984 betrieb die Familie dort die Gastwirtschaft »Zur Sonne«. 1984 zog die Familie nach Marokko, Said war acht und musste in der ersten Klasse wieder anfangen. »Natürlich war er für die Marokkaner ein Ausländer und für die Deutschen auch«, sagt seine deutsche Mutter, Anneliese Bahaji.
Sie vermutet, dass in der marokkanischen Schule die Wurzeln für alles liegen, was kam. Im Ramadan kontrollierten die Schüler gegenseitig ihre Zungen: War sie rot, galt das als Zeichen, dass die Kleinen gegessen hatten; sie straften sich gegenseitig mit Verachtung. Said passte sich an, doch dann, Mitte der Neunziger, schickt Saids Mutter ihn und seine Schwester zum Studium wieder nach Deutschland.
Als Said in Hamburg ankommt und Elektrotechnik zu studieren beginnt, ist er schon strenggläubig und doch noch ein wenig kindisch. Er fährt einen dunklen Golf, 90 PS, und liebt die Formel 1. »Dann ist Fieber angesagt«, schreibt er auf seiner Homepage. Und mit Computern kennt er sich aus, egal »ob Spiele, Programme oder Internet. Hauptsache, ich sitze vor dem Rechner«.
Bahaji ist einsam. »Leider sind die Harburger Studenten sehr langweilig - wenn sie nicht betrunken sind, können sie nicht mal den Mund aufmachen«, teilt er auf seiner Homepage mit. Und Trinken ist für ihn, natürlich, tabu.
Zunächst wohnt er im Studentenwohnheim in Harburg. Er trifft Atta und den inzwischen weltweit gesuchten Ramzi Binalshibh. Dann ziehen die drei in das Haus der Unterstützer in der Marienstraße 54.
Bahaji kümmert sich um die Formalitäten. Er unterschreibt den Vertrag; von seinem Konto geht die Miete ab. Die Ermittler vermuten, dass er der Logistiker der Terrorgruppe war.
Es war endlich eine Rolle, endlich ein Platz für einen, der sonst nirgendwo ankam. Bahaji, deutscher Staatsbürger, musste ja ogar zum Bund, zum Panzergrenadierbataillon 72 in Hamburg-Fischbek. Aber nach fünf Monaten schied er aus; er hatte Asthma und etliche Allergien.
Den Draht in seine zweite Heimat Marokko hatte er da längst verloren. Sein Vater hat den Jungen seit rund drei Jahren nicht mehr gesehen. Zur Hochzeit seines Sohnes mit der heute 21-jährigen Türkin Nese - das Brautgeld, 3000 Mark, zahlt Said Bahaji in zwei Raten - kann der Vater nicht nach Hamburg kommen, »weil ich nicht genug Geld hatte«. Immerhin kriegt der Papa, ziemlich stolz, mit, dass Said einen sechs Monate alten Sohn hat. Und dass er sich am 3. September für ein »Praktikum« nach Pakistan verabschiedet hat.
Der letzte Satz auf Bahajis Homepage heißt: »O.K., isch habe fertig!«
Manches nämlich war bei ihm so ähnlich wie bei Ziad Jarrah. Auch der wirkte auf Fremde wie ein Protagonist der Globalisierung, wie einer, der hier und dort glücklich werden kann; in Wahrheit aber war er nirgendwo aufgehoben und nirgendwo zu Hause.
Der zehnte Schritt in der psychologischen Schulung der Mörder war die Dehumanisierung der Opfer. Hunderte? Tausende? Frauen, Kinder, amerikanische Muslime gar? Osama Bin Laden selbst, das kursiert in Geheimdienstkreisen, sprach von »Kollateralschäden«.
Sie alle durften keine Menschen mehr sein, kein Mitgefühl wert, sie waren nichts mehr als eine Teilmenge des Feindes.
Ziad Jarrah hat den Westen nicht gehasst. Ursprünglich nicht. Er ist verliebt, er schreibt seiner Freundin Aysel, einer Medizinstudentin, noch vor dem Höhepunkt seines anderen, mörderischen Lebens aus Amerika ("Ich habe gemacht, was ich machen sollte. Du solltest ganz stolz darauf sein"), und er ruft sie, das wissen die Fahnder jetzt, am 11. September noch gegen 9 Uhr amerikanischer Zeit an. Aus dem Cockpit, direkt vor dem Aufprall?
Bis zuletzt muss Jarrah geschwankt haben. Er ist längst Pilot, als er von Heirat und einem Kind redet, das er haben will. Im Frühjahr reist er aus Amerika noch einmal zu Aysel - eher untypisch für einen, der mit der Welt und dem Leben abgeschlossen hat.
Es wäre nicht verwunderlich gewesen, so die Gutachter, die sich mit Jarrah befasst haben, wenn einer wie der nicht in der Verfassung gewesen wäre, den Auftrag durchzuführen. Viel zu labil, der Kerl. War es also wirklich Zufall, dass ausgerechnet Jarrahs Maschine als einzige in eine Wiese krachte und ihr Ziel nie erreichte?
Jarrah, im Libanon geboren, trank gern Alkohol, und genauso gern feierte er. »Einmal tranken wir so viel Bier, dass wir mit dem Fahrrad nicht mehr geradeaus fahren konnten«, sagt sein Cousin, der noch in Greifswald lebt. Ein »frischer, junger Mann sei das gewesen, völlig europäisch«, sagt seine ehemalige Vermieterin.
Wer also hat ihn umgedreht?
Ermittler vermuten, dass Abdulrahman al-M., ein Greifswalder Student der Zahnmedizin im 23. Semester, eine Rolle gespielt haben könnte. Der Mann, den Kommilitonen »Abu Mohammed«, Vater von Mohammed, nennen, ist ein Prediger und vielleicht noch mehr. Einer der Hamburger Beschuldigten hat ihm mal 6000 Mark zukommen lassen.
Jedenfalls wandelte sich Jarrah in Greifswald vom Disco-Gänger zum radikalen Muslim. Er wollte, dass seine Freundin ein Kopftuch trägt, und sogar ihre Hände sollte sie bedecken.
Der Student Jarrah bewirbt sich für Biochemie, wird zugelassen, aber da zieht es ihn schon nach Hamburg, wo er sich im Wintersemester 1997 als Flugzeugbauer einschreibt. Er studiert zügig. Dann aber verschwindet er mitten im Wintersemester 1999 von der Universität. Seinen Kommilitonen erzählt er, er wolle in Amerika weiterstudieren. Und auf einmal verschwindet Jarrah spurlos. Familienmitglieder vermuten, er sei in Pakistan oder Afghanistan.
Dann, im Juni 2000, reist er nach Amerika; in Venice (Florida) besucht er eine Flugschule. Und immer noch geht es hin und her: Jarrah legt sich ein Mobiltelefon zu, bestellt beim Pizza-Service, kauft sich einen roten Sportwagen - während er sich auf das Attentat gegen alles Gottlose, Dekadente, Westliche vorbereitet.
Vermutlich hat Ziad Jarrah immer wieder überlegt abzuspringen. Doch das Netz war dicht; es trug die Schwachen, und es hielt die Aufmüpfigen fest.
In Jarrahs Aufzeichnungen, die nach dem 11. September gefunden wurden, steht: »Ich bin zu euch gekommen mit Männern, die den Tod lieben, genauso wie ihr das Leben liebt. Aber die Ungläubigen, die werden getötet.«
Wer hatte Kontakte zu wem?
Wer wusste was?
Die 19 Täter sind tot. Es geht für die Fahnder heute auch darum, das Netzwerk des Terrors offen zu legen, um mögliche künftige Anschläge abwehren zu können. Darum beschlagnahmen sie bei ihren Durchsuchungen alles, was ihnen noch mehr Durchblick verschaffen könnte. Fingerabdrücke werden genommen, DNS-Spuren gesichert; Mobiltelefone, Computer, Akten stapeln sich in den Asservatenkammern der Polizei. Und in den Moscheen raunen sie sich zu: »Waren sie auch schon bei dir?« Der syrische Geschäftsmann Mamoun Darkazanli etwa ist Dokumente, Laptop und Mobiltelefon erst einmal los.
Die deutschen Fahnder wissen, dass jeder Erfolg, den sie haben, zugleich zum Misserfolg umgedeutet werden kann. Denn alles, was sie finden, könnte benutzt werden in dem seltsamen Spiel, das die Kollegen in Amerika spielen.
Die haben früh eine Art »Schwarzer Peter« begonnen. Wie es denn sein könne, fragten US-Offizielle, dass man in Deutschland überhaupt nichts bemerkt habe. Bis heute können die Amerikaner nicht begreifen, dass nach deutschem Recht Zeugen nicht einfach verhaftet werden dürfen. So heftig wurden die Sticheleien, dass die deutsche Botschaft in Washington eilig nach Berlin kabelte, man möge doch bitte mit den amerikanischen Journalisten reden, denn da braue sich etwas zusammen.
Doch als die Ermittlungen dann zu Mamoun Darkazanli führten, den die CIA schon lange als Statthalter Bin Ladens in Hamburg verdächtigt, wurde der Ton erst wirklich eisig.
Bedrohlich für die transatlantischen Beziehungen hätte beispielsweise eine Geschichte werden können, die CIA-Beamte mit verschwörerischer Miene unter die Leute brachten: Schon ein Jahr vor den Anschlägen habe man die Verfassungsschutzbehörden in Deutschland massiv gedrängt, sich der al-Qaida-Verbindungen in Hamburg anzunehmen. Es ging vor allem um Darkazanli.
Und dann war Innenminister Otto Schily zu Besuch bei dem amerikanischen Justizminister John Ashcroft und stand wie versteinert da, als Ashcroft Hamburg als »zentrale Basis« der Terroristen bezeichnete. Hamburg sei »nicht der einzige Punkt«, sagte Schily tapfer.
Wahr ist: Fehler und Schwächen hat es hier wie dort gegeben.
In Hamburg etwa lagen tatsächlich einzelne Hinweise auf Mitglieder der späteren Terroristengruppe vor. Bahaji war gleich mehrfach wegen seiner radikal-islamischen Einstellung aufgefallen. Auch Hinweise auf die Marienstraße in Harburg gab es. Aber es gibt halt auch in den Behörden Personalnot, und wenn wie damals im Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz eine einsame Auswerterin den Überblick über alle radikalen Ausländer der Stadt behalten soll, verschwinden auch die wirklich Gefährlichen schon mal im Nirwana der Festplatten. »Sehen, aber nicht erkennen«, nennen Verfassungsschützer dieses Phänomen.
Und dann, es war vier Tage nach dem Attentat, nahmen die Deutschen den Marokkaner Hassan R. fest, einen mutmaßlichen Kontaktmann einiger Terroristen, der am Hamburger Flughafen für die Firma Ground Stars Flugzeuge be- und entlud. Für einen Haftbefehl reichte es nicht, noch am selben Tag kam R. wieder frei.
Doch die Fahnder hatten bei ihren Durchsuchungen einen Stapel Videos übersehen, in denen zum »Heiligen Krieg« aufgerufen wird; und R.s Kontakte waren wohl auch nicht so harmlos, auch wenn er betont, »dass ich all die Leute nur flüchtig aus der Moschee kenne«. Jetzt läuft ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Andererseits: Die Amerikaner sind durchaus selbstgerecht. Es geht nicht nur um Polizeiarbeit, es geht auch um Politik. Zum ersten Mal in der Geschichte der Nato gilt der Bündnisfall; wer seine Partner so in die Pflicht nimmt, darf keine eigenen Fehler gemacht haben.
Doch nichts haben die Amerikaner, vorher, über die Attentäter in Erfahrung gebracht, obwohl die ein ganzes Jahr in den USA zubrachten. Dabei haben beispielsweise die Tricksereien mit Dokumenten auch in Amerika funktioniert.
In der vergangenen Woche gestand in einem Bezirksgericht in Virginia eine illegale Einwandererin aus El Salvador, einer der Attentäter habe ihr 100 Dollar dafür gezahlt, dass er sich bei ihr anmelden durfte. Die Adresse brauchte Ahmed Alghamdi, der mit Shehhi im United-Airlines-Flug 175 saß, um sich einen Führerschein zu beschaffen.
Aber das ist Kleinkram gegen das, was in Minnesota schief ging.
Am 16. August, 26 Tage vor dem Attentat, verhaftete die US-Polizei dort Zacarias Moussaoui, 33, wegen Verstoßes gegen die Einreisebestimmungen; ein Fluglehrer hatte den Mann aus London angeschwärzt.
Es gab FBI-Leute, die dringend darum baten, den Berg bei Moussaoui beschlagnahmter Papiere und den sichergestellten Computer eilig zu untersuchen. Doch die Chefs im Hauptquartier winkten ab; da hätten sie wirklich Wichtigeres zu tun.
Und natürlich sind da Leute wie FBI-Direktor Robert Mueller, die jetzt behaupten, Moussaoui habe »wenig, wenn überhaupt etwas« mit den Anschlägen zu tun. Doch das ist Taktik. Oder Scham. Denn allen Eingeweihten ist klar: So nah wie mit der Festnahme Moussaouis waren die Behörden einer Enttarnung des Terrornetzes nie gewesen.
Moussaoui, das zeigte sich nach dem 11. September schnell, war möglicherweise jener Mann, nach dem heute alle fieberhaft suchen. Dass drei Flugzeuge mit je fünf Terroristen besetzt wurden und eines nur mit vier, lässt darauf schließen, dass einer von 20 irgendwo hängen geblieben war.
Moussaoui? Weil er im Knast saß?
Er selbst schrieb aus dem Gefängnis an seine Mutter: »Mach dir um die amerikanische Angelegenheit keine Sorgen. Ich habe nichts gemacht, und das werde ich mit der Zeit auch beweisen, so Gott will.«
Aber dieser Mann, auch das steht nun fest, muss Kontakte zur Hamburger Gruppe gehabt haben. Eine der vier deutschen Telefonnummern, die er bei sich hatte, gehörte zu jener Wohnung, in der Ramzi Binalshibh gemeldet war. Und mindestens zweimal waren an Moussaoui große Summen von den Reisebanken in den Düsseldorfer und Hamburger Hauptbahnhöfen nach Norman in Oklahoma überwiesen worden: 23 571,59 Mark waren es am 1. August 2001, noch einmal 9487,80 Mark zwei Tage später.
Der Einzahler ist bis heute nicht identifiziert; sein Name war eine Erfindung, der Pass gefälscht. Aber für diesen Schattenmann, das ist sicher, waren jeweils Stunden vor den Überweisungen, große Dollarsummen aus den Emiraten eingegangen. Das waren, so vermuten die Fahnder, letzte Gelder für die Attentäter.
Die Todespiloten waren noch keine Krieger des Dschihad, als sie nach Deutschland kamen. Erst später, da sind sich die Ermittler sicher, hatten sie ihr »Erweckungserlebnis«.
Immer noch könnte es also irgendwo jenen Mister X geben, der die 19 Terroristen losschickte, gleichsam an Strippen in den Tod führte. Es könnte auch sein, dass es ein Geflecht von mehreren Männern gab.
Welche Rolle spielen also Leute wie Darkazanli und Zammar?
Darkazanli könnte, glauben Fahnder, im Bin-Laden-Netzwerk eine wichtige Aufgabe als Mann des Geldes gehabt haben - er ist ein intelligenter, anpassungsfähiger Typ.
Der Kaufmann ist im Umgang mit diversen Kulturen vertraut und wandlungsfähig. Darkazanli, 43, in Damaskus geboren, ist seit 1990 deutscher Staatsbürger und zugleich ein Vertrauter des Bin-Laden-Manns Mamduh Salim, der in Amerika im Gefängnis sitzt, weil er Attentate geplant haben soll.
Jedenfalls ist dieser Darkazanli, nach eigener Auskunft seit gemeinsamen Moscheebesuchen mit Atta und Kollegen einfach nur bekannt, ein Mann, der bei Bedarf mit Bart und Kaftan auftritt, dann wieder als westlicher Geschäftsmann, glatt rasiert, in Anzug oder Freizeitkleidung. Er spricht perfekt Deutsch, ist kontrolliert und hat schon Ermittlungsverfahren überstanden, ohne dass etwas haften geblieben wäre; der Frankfurter Generalstaatsanwalt scheiterte etwa bei dem Versuch, Darkazanli Geldwäsche nachzuweisen. Nun läuft gegen ihn, der noch immer in Hamburg ist, ein Verfahren wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Und Zammar, das war nach dem Stand der Ermittlungen der Dschihad-Krieger - einer, der in Afghanistan und anderswo gekämpft aben soll, 1,95 Meter groß, 140 Kilo schwer. Der Mann fürs Handwerk.
»Wer sind die größten Terroristen? Die so genannte zivilisierte Welt«, sagt dieser Krieger kurz nach den Anschlägen, türkischen Tee in einer Hamburger Moschee trinkend. »Wer hat die Atombombe erfunden? Die Amerikaner«, ruft er dann. Viele in der Moschee machen um ihn einen Bogen, denn der Rambo Allahs steht am Rand und spricht nur mit Auserwählten. Zwei junge Männer, die Jeans und modische Turnschuhe tragen, lässt er seine Befehle ausführen.
Wenn in den vergangenen Jahren irgendwo in Europa Mudschahidin-Kämpfer verhaftet wurden, führte die Spur immer mal wieder zu Zammar: Einige der jungen Krieger hatten seine Hamburger Anschrift und seine Telefonnummer dabei. In Said Bahajis Wohnung fanden sich Bücher über den Dschihad - mit einer Widmung Zammars. Und die ebenfalls beschlagnahmten 94 Kopien eines Aufrufs Bin Ladens zum Kampf gegen die Ungläubigen, das gestand Zammar gern ein, hat er fotokopiert.
Er könnte ein Vorbild, ein Held für die jungen Attentäter und ihre Freunde gewesen sein. War dieser Zammar, Trauzeuge des Helfers Said Bahaji, auch eine jener Figuren, welche die Hamburger für den »Heiligen Krieg« begeisterten?
Es waren ein paar Wochen bis zu den Anschlägen. Es wurde gefährlich. Da rief Osama Bin Laden seine Getreuen und all die Unterstützer zurück nach Afghanistan.
So jedenfalls steht es in einer streng geheimen Beweismittelsammlung, die das Weiße Haus den Regierungen der Nato-Staaten vorgelegt hat, um sie von der Schuld der al-Qaida-Organisation zu überzeugen. Die zentral gesteuerte Flucht vor dem großen Schlag gilt den US-Geheimdiensten als ein bedeutender Beleg.
Der Befehl zum Absetzen muss Ende August, Anfang September auch die Hamburger erreicht haben: Said Bahaji besteigt am 3. September am Hamburger Flughafen den Turkish-Airlines-Flug 1056 nach Istanbul und fliegt von dort weiter nach Pakistan. Die Nacht verbringt er im Embassy-Hotel in Karatschi, 50 Mark zahlen Bahaji und zwei Begleiter für die Nacht. Eine letzte Spur führt nach Quetta, 60 Kilometer von der afghanischen Grenze entfernt.
Dann ist Schluss. Bahaji ist untergetaucht. Und inzwischen scheint festzustehen, dass er sich Bin Ladens Kämpfern in Afghanistan angeschlossen hat; zwei Männer, die nach Hamburg zurückgekehrt sind, wollen ihn in einem Lager bei Kabul erkannt haben. Bahaji wird jetzt wie die anderen Bin-Laden-Getreuen um sein Leben kämpfen müssen.
Binalshibh nutzt noch einmal seinen alten Namen und bucht sich sechs Tage vor dem Anschlag als Ramzi Omar einen Lufthansa-Flug von Düsseldorf nach Madrid. Den für den 19. September geplanten Rückflug tritt er nicht an. In seiner letzten Wohnung liegt ein Brief von der GEZ; Binalshibh aber bleibt verschwunden.
So ist es auch mit Essabar. Der Marokkaner, heute 24, hatte am 12. Dezember 2000 und am 28. Januar 2001 versucht, ein Visum für die USA zu bekommen. Auch er könnte also als 20. Mann eingeplant gewesen sein. Doch ihn ließen die Amerikaner nicht ins Land. Auf der Liste der meist gesuchten Personen des Bundeskriminalamts steht Essabar ganz oben. Ende August soll er zuletzt in Hamburg gesehen worden sein. Spuren? Keine.
Als letzter verschwand Zammar. Er soll in Marokko sein, nicht geflohen, nur verreist. Er hat angekündigt, dass er zurückkommen will. Man wird sehen.
Unter Verdacht war Zammar schon öfter, aber nie ist etwas passiert. Hat er geahnt, dass es diesmal eng werden könnte?
Mohammed Atta bleibt bis zum 31. März an der Universität eingeschrieben, aber er besucht seit Sommer 1999 keine Veranstaltungen mehr. Ein Bekannter, ein türkischer Journalist, sieht ihn mehrfach in einem türkischen Café in Harburg, oft zusammen mit Shehhi. Häufig besucht Atta auch die al-Kuds-Moschee, oft zusammen mit Kommilitonen. Manchmal ist die Zeit zwischen den Gebeten so kurz, dass sie in der Nähe schnell einen Tee trinken.
Schon am 3. Juni fliegt Atta nach Florida, mit einem Besuchervisum, aber noch einige Male kehrt er nach Europa zurück. Am 9. Juli mietet er in Madrid ein Auto. Und gibt es acht Tage später in Barajas zurück: mit fast 2000 Kilometern auf dem Tacho. Ein Rätsel, bis vergangene Woche.
Denn in Spanien hoben Fahnder jetzt eine weitere mutmaßliche al-Qaida-Zelle aus und nahmen acht Leute fest. Einer von ihnen sagte in einem abgehörten Telefonat: »Im Unterricht sind wir in das Feld der Luftfahrt vorgedrungen und haben sogar dem Vogel den Hals abgeschnitten.« Und wieder gibt es Querverbindungen: In Hamburg fand sich die Telefonnummer des in Spanien festgenommenen Abu Dahda (Kampfname), den die dortigen Ermittler für den Anführer der spanischen Zelle halten. Die Fahnder sind überzeugt, dass Dahda auch mit dem Deutsch-Syrer Darkazanli Kontakt hatte, ebenso wie mit Said Bahaji und Ramzi Binalshibh.
Atta jedenfalls reiste damals weiter; zwischen dem 8. und dem 11. April 2000 soll er in Prag einen irakischen Agenten getroffen haben. Dieser Teil der Geschichte ist bis heute völlig ungeklärt.
Dann geht er endgültig nach Amerika.
Der vorletzte, der elfte Schritt in der psychologischen Schulung der Terroristen ist die Formation der Zelle, der Kleingruppe. Gruppendruck entsteht, Gruppenkontrolle, Gruppensolidarität.
Der zwölfte Schritt ist die Wiederholung alles Gelernten. »Erinnere dich an dein Gepäck, die Kleidung, das Messer und die Dinge, die du brauchst, an dein Ausweisdokument, deinen Reisepass, deine Papiere«, steht in dem Leitfaden, jener Anleitung zum Massenmord (SPIEGEL 40/2001), die in Attas Fluggepäck gefunden wurde. Und: »Binde deine Schuhe sehr eng zu und trage Socken, so dass die Schuhe eng an deinen Füßen sitzen. Dies versteht sich alles von selbst, und Gott wird dich schützen.«
Atta gehörte zur Kernmannschaft der al-Qaida Deutschland; er war derjenige, der die anderen beisammen hielt, der sie trieb. Bis zu jenem 11. September.
An dem Jarrah den United-Airlines-Flug 093 besteigt, der es nicht in sein Ziel schafft.
Und Shehhi, Sitzplatz 6 c, den United-Airlines-Flug 175, den er in den Nordturm des World Trade Center steuert.
Und Atta, Sitzplatz 8 d, den American-Airlines-Flug 011, der den Südturm einstürzen lässt.
Das alles haben die Fahnder zusammengetragen über die Terroristen aus Hamburg und ihren Anführer Atta, den Stadtplaner, der die Stadt aller Städte zerstören wollte. Sie haben begriffen, wie die Gruppe dachte und hasste, wie sie funktionierte und wer ihr half.
Und darum haben sie Angst bekommen.
Früher, das haben die Ermittler herausgefunden, war Europa für die Terroristen der Organisationen Osama Bin Ladens nur eine Ruhezone, ein Stützpunkt, von dem aus sie in den Krieg zogen. Heute ist auch Europa nicht mehr sicher.
Als die Ermittler begannen, gingen sie noch davon aus, dass es sich bei den Terroristen um eine kleine abgeschottete Zelle handelte, örtlich begrenzt und mit wenigen Unterstützern.
Auch das war früher.
Heute glauben die Fahnder an ein europaweites Netz, das in einem losen Verbund von Zellen arbeitet. Wer welcher islamistischen Organisation angehört, ist längst nicht mehr wichtig. Die Klammer ist nicht die Ideologie oder der Islam; die Klammer ist religiöser Wahn, verbunden mit dem Hass auf Amerika und Israel.
In Italien stießen Fahnder auf die »Varese-Gruppe«, die offenbar einen Giftgas-Anschlag plante. Sie war eng vernetzt mit der Frankfurter Meliani-Truppe, gegen die die Bundesanwaltschaft noch in diesem Jahr Anklage erheben wird, weil sie einen Bombenanschlag in Straßburg vorbereitet haben soll.
In Rotterdam wurden vier Männer verhaftet, die Anschläge auf amerikanische Einrichtungen in Paris geplant hatten.
Und in Großbritannien, Europas Hochburg der Extremisten, beginnt die Polizei erst jetzt damit, Fundamentalisten wie jenem Abu Qutada das Leben zu erschweren, der zum Kampf gegen die Ungläubigen aufruft.
Nach Erkenntnissen der CIA gibt es weltweit sechs bis sieben Millionen radikale Muslime, die mit den Ideen Osama Bin Ladens sympathisieren, darunter 120 000, die bereit sind zum Kampf. Dass es im Fall World Trade Center einen direkten Befehl Bin Ladens gegeben habe, bezweifeln inzwischen selbst die Amerikaner; Befehle des Meisters braucht es nicht. Viele der Terroristen waren bei Bin Laden im Trainingslager; sie wissen, was das Ziel ist. Was werden sie tun, wenn Bin Laden stirbt?
Tausende sind nach der Ausbildung nach Europa gekommen. In jedem neuen Land, das sie aufsuchen, können sie eine neue Identität annehmen.
Unterstützer?
Haben sie. Überall.
Angst?
Haben sie nicht. »Der Himmel lächelt, mein junger Sohn«, so stand es in Attas Leitfaden, »denn du marschierst zum Himmel.«
KLAUS BRINKBÄUMER, DOMINIK CZIESCHE, GEORG MASCOLO, CORDULA MEYER, ANDREAS ULRICH
Im nächsten Heft: DAS PROTOKOLL DES IRRSINNSWie die Attentäter in den USA fliegen lernen - Quartiersuche,Nahkampfausbildung, Tarnung - Warum das FBI nichts mitbekam - Dasletzte Treffen der Terroristen in Las Vegas - Das Minutenprotokolldes Attentats - Der Überlebenskampf in den Türmen des World TradeCenter