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MALEREI / MARC CHAGALL Die Kuh auf dem Dach

aus DER SPIEGEL 13/1959

Ein russischer Journalist, der mit den revolutionären Sozialdemokraten sympathisierte, besuchte im Jahre 1913 einen russischen Maler in dessen Pariser Atelier und fragte ihn, warum er die Kühe grün male und Menschen, die auf dem Kopf stehen. »Euer Marx weiß doch alles«, antwortete der Maler. »Laß ihn aus dem Grabe auferstehen, er wird es dir erklären.«

Trotz der abweisenden Antwort scheint sich in dem Kopf des Journalisten Lunatscharski die Überzeugung festgesetzt zu haben, daß ein Maler, der grüne Kühe darstellt, irgend etwas mit Revolution zu tun haben müsse. Als Lunatscharski vier Jahre nach dem Gespräch in Lenins erstem Kabinett im Ministerrang als Kulturkommissar fungierte, sorgte er dafür, daß auch der Maler grüner Kühe ein Ministerium bekam: So wurde Marc Chagall der erste Kommissar für Bildende Künste der Sowjet-Union.

Chagall tauschte den bedeutsamen Posten in weiser Selbstbeschränkung zwar sofort gegen den eines Kunstkommissars für seinen Heimatbezirk Witebsk ein, aber nun glaubte offenbar auch er an eine Beziehung zwischen seinen grünen Kühen und den Idealen der jungen russischen Sowjetmacht. Zum Jahrestag der, wie es heißt, glorreichen Oktoberrevolution ließ er die Fahnen und Transparente für den Festaufmarsch in Witebsk statt mit Sprüchen und Vorwärts-Parolen mit von ihm entworfenen grünen und blauen Kühen oder Pferden ausstatten, ein Anblick, über den - wie Chagall-Biograph Walter Erben mitteilt - die Arbeiter vergaßen, die Internationale zu singen.

Da die Sowjetmacht zu dieser Zeit noch kein festes Kulturprogramm besaß, an dessen Norm sich ein Künstler als »Abweichler« disqualifizieren konnte, blieb diese Episode ohne tödlichen Ausgang, den sie einige Jahre später zweifellos genommen hätte. In jenen späteren Jahren, als die radikalen Sowjetdoktrinen auch den Kulturbetrieb vereisten, der heute nur so langsam wieder auftauen will, war Lunatscharskis Irrtum den sowjetischen Kulturfunktionären ohnehin bewußt geworden. Der Kulturkommissar im ersten Kabinett Lenins hatte einen politischen Revolutionär in einem Maler vermutet, der nicht einmal künstlerisch revolutionär sein wollte, sondern unter dessen Pinsel sich die Welt in eine Märchenlandschaft verwandelte.

Inzwischen hatte nämlich Chagall ein Bild im Monstreformat von zwei mal drei Metern gemalt, dem er den Titel »Revolution« gab. Eine auf der linken Bildseite zusammengedrängte Menschenmenge, die rote Fahnen mit sich führt, sieht einem Manne zu, der Lenin ähnelt und auf einem Tisch Handstand macht. In seiner Nähe sitzt ein Ziegenbock auf einem Stuhl. Maler Chagall hat sich auf diesem Bilde gleich zweimal untergebracht. Er steht im Hintergrund an einer Staffelei, wobei seine Frau als Muse waltet. Im Vordergrund rechts ist das Paar noch einmal abgebildet; die jungen Eheleute haben sich zwischen Blumen und Putten auf dem schrägen Dach eines einstöckigen Hauses ein zärtliches Liebeslager eingerichtet. Das Ideengut der russischen Oktoberrevolution sieht Chagall auf diesem Bild durch den Handstand symbolisiert. Er soll besagen, daß was einst oben, nun unten, was einst unten, nun oben sei.

So viel Naivität hat den Maler Chagall vor allen weiteren Ministersessel-Angeboten von Revolutionsregierungen ein für allemal bewahrt. Allerdings hat sich Chagall von seinem Revolutionstableau später auf seine Weise distanziert. Er hat das Bild entweder vernichtet, oder er hat es übermalt - wie seinerzeit, nachdem er von seiner Mutter ertappt worden war, die Aktbilder von seiner vierzehnjährigen Freundin Bella Rosenfeld: Das Bild, mit dem er die Jungmädchenformen Bellas übertünchte, nannte er sinnig »Begräbnis«.

Eine ausführliche Ölskizze des vernichteten Revolutionsbildes aber blieb erhalten; sie ist in der Chagall-Ausstellung des Hamburger Kunstvereins zu sehen, die - dem Katalog zufolge - als bisher »umfassendste Darstellung des Lebenswerkes des großen russischen Malers« gelten darf. Vom 7. April bis zum 31. Mai soll die gleiche Ausstellung im Münchner »Haus der Kunst«, vom 14. Juni bis etwa Ende September im Pariser »Musée des Arts Décoratifs« gezeigt werden.

Um diesen bisher weitesten Überblick über Chagalls Produktion bieten zu können, haben die drei veranstaltenden. Museen Bilder aus nahezu allen bedeutenden Sammlungen moderner Kunst entleihen müssen, aus Moskau so gut wie aus New York und Tel Aviv; nicht weniger als neunzig private Sammler haben - sämtlich entschädigungslos - Bilder hergeliehen. Die sehr hohen Versicherungskosten - die Verträge gelten von »Nagel zu Nagel«, schützen also das Bild vom Augenblick, in dem es beim Leihgeber vom Nagel abgenommen wird, bis zur Rückkehr an den Nagel hoffen die Veranstalter durch die Eintrittsgelder zu decken, und diese Rechnung scheint aufzugehen. Bereits, in den ersten fünf Wochen haben sich sogar in dem wahrhaftig nicht eben kunstsinnigen Hamburg mehr als siebzigtausend Besucher vor den rund dreihundert Ausstellungsstücken* gestaut.

Die Besucher sahen sich Sälen voller Bilder konfrontiert, auf denen scheinbar immer die gleichen Elemente zu jeweils anderer Anordnung durcheinandergerüttelt sind, wie bei einem Kaleidoskop, in dem sich dieselben Perlen zu immer neuen Kombinationen schütteln lassen. Solche Elemente, die auf immer andere Weise zusammengefügt werden, sind bei Chagall etwa das Liebespaar, Geige, Uhr, Kuh, Pferd, Ziegenbock, Fisch, Vogel, die armselige Häuserreihe von Witebsk, der Gekreuzigte, der Rabbi, die Thorarollen, die Kerze, der drei-, fünf- oder siebenarmige Leuchter, seit einiger Zeit auch ein in leuchtenden Feuerwerksfarben zersprühender Blumenstrauß.

Diese Elemente sind nun allerdings in einer Art arrangiert, die den Maler vor den Anwürfen enragierter Theoretiker schützt, ein Realist zu sein. Das Liebespaar etwa schwebt auf einer Couch, die einen Vogelkopf hat, zum Fenster hinaus, während ein geflügelter Fisch auf der Violine die Begleitmusik zu der zärtlichen Szenerie spielt; ein Jüngling geht mit seinem Mädchen spazieren, das allerdings auf dem Kopf steht (und umgekehrt), oder er gibt ihr, wie ein Engel quer unter der Decke schwebend, den Geburtstagskuß und scheint sie mit den Lippen ebenfalls in die Schwebe zu ziehen; ein Dichter sitzt bei der Arbeit und hat den Kopf verkehrtherum auf den Schultern - seine Augen blicken gewissermaßen zu den Sternen; Kühe, geigespielende Männer oder Ziegen lagern auf den Dächern; auf einem andern Bild ("Irgendwo außerhalb der Welt") ist die nahezu obligatorische Häuserzeile von Witebsk von oben nach unten an den linken Rand des Bildes gemalt; bei anderer Gelegenheit ("Akt über Witebsk") hängt über dem nun wieder ordentlich horizontalen Panorama von Witebsk der Rückenakt eines schönen Mädchens wie eine rosige, appetitliche Wolke. Kühe tragen Schirme, Häuser haben Gesichter, Menschen spielen auf ihrem Körper Geige, der Eiffelturm blickt mit Mädchenaugen auf seine Umgebung.

Ähnlich ungeniert hat Chagall die Symbole von Konfessionen nebeneinander angeordnet, die außerhalb seiner Bilderwelt weniger miteinander harmonieren. Um den Gekreuzigten herum gruppiert er etwa den Rabbi und die Gerätschaften des jüdischen Gottesdienstes, Thorarolle und siebenarmigen Leuchter; ein Ziegenbock fliegt durch die Luft, ein russischer Bauer fiedelt, eine Mutter legt ihren Säugling an die - nach Art gotischer Madonnen - entblößte Brust.

Die. Gesetze der Schwerkraft sind bei Chagall ebenso aufgehoben wie die der Zentralperspektive oder der Kausalität; auf ein und demselben Bild dargestellte Menschen verhalten sich zueinander wie Riesen zu Zwergen, Tischplatten werden in die Bildebene geklappt, damit um so deutlicher zu sehen ist, was auf dem Tisch steht. Dagegen scheinen Chagalls Bilder in die Tiefe hinein unendlich zu sein: Wer nahe herantritt, kann etwa inmitten eines Blumenstraußes ein winziges Liebespaar entdekken oder neben der Vase eine Miniaturkatze oder im Wasser der Seine den Maler an seiner Staffelei.

Charakteristisch für Chagall sind zudem die Farben, die er verwendet; sie sind zwar nicht explosiv und gewalttätig, aber doch ungemein kräftig und entschieden: Kaum ein Maler sonst setzt so mutig Violett neben Grün und leuchtendes Krebsrot neben Blau. Guillaume -Apollinaire, der französische Lyriker, brachte in einem Widmungsgedicht für Chagalls erste Berliner Ausstellung im Jahre 1914 die Zeile unter: »Und du du zeigst mir ein entsetzliches Violett.« Der hochsensible Lyriker Rainer Maria Rilke erklärte, nachdem er zum ersten Male - 1917 - vor Chagall-Bilder geführt worden war, er sei »bestürzt von der Roheit der Farben«, räumte aber einige Zeit später ein, er habe dem Maler »sehr unrecht« getan.

Auffälligstes Merkmal bei dem Einzelgänger Chagall nämlich, der nie einer Richtung angehört, keine Lehrer und keine Nachfolger hat, sind die gutherzige Fröhlichkeit und Freundlichkeit der meisten seiner Bilder. Die Expressionisten - Kubisten, Surrealisten und Abstrakte - haben bittere und scharfe Proteste provoziert; den

Bildern Chagalls kann niemand lange böse sein - so wenig, wie auf andere Weise dem in melancholisch-groteske Filmschicksale verstrickten Charlie Chaplin.

Wie gering sonst die Gemeinsamkeit zwischen der bekümmert-freundlichen Kontur des Film-Stehaufmännchens Chaplin und den Kaleidoskop-Bildern Chagalls sein mag - in einer Sache stimmen deren Urheber auffällig überein: Beide haben in ihrer Kunst etwas spezifisch Jüdisches formuliert. Von allen jüdischen Malern der Moderne wie Pissarro, Modigliani oder Soutine sei keiner, so schrieb bereits vor dreißig Jahren ein belgischer Kritiker, »so vollständig, so vor aller Öffentlichkeit« Jude wie Marc Chagall.

Über die Hälfte der zu Chagalls Geburt, in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, etwa 60 000 Einwohner der Stadt Witebsk an der Düna waren Juden. Chagalls Vater, angestellt in einem Heringslager, begann seinen Tageslauf regelmäßig um sechs Uhr früh mit rituellem Gebet in der Synagoge, erst dann machte er Feuer im Ofen und entzündete die Petroleumflamme im Samowar. Sabbatruhe und jüdische Festtage wurden in Chagalls Elternhaus strikt eingehalten. Großvater Chagall war eine Art Religionslehrer - ohne den offiziellen Rang eines Rabbi -, der Großvater mütterlicherseits war Fleischer, verbrachte aber, wie Chagall-Biograph James Johnson Sweeney erfuhr, »den halben Tag in der Synagoge«.

Nach offizieller Lesart ist Marc - ältestes von zehn Geschwistern, er hat einen Bruder und acht Schwestern - am 7. Juli 1887 geboren worden; nach den Festlichkeiten zu Ehren seines 70. Geburtstages im Jahre 1957 vertraute Chagall einem Besucher allerdings an, was er bereits in seiner (original in Jiddisch verfaßten) Autobiographie Mein Leben« angedeutet hatte: Er bezweifelt, daß seine Eltern das Geburtsjahr korrekt angegeben haben; er hält es für möglich, daß er zwei Jahre jünger ist. Ein Indiz für diese These sieht er darin, daß er als Kind in seiner körperlichen wie geistigen Entwicklung stets schmerzlich hinter den - echten oder vermeintlichen - Altersgenossen zurückgeblieben sei, als Motiv- für eine Fälschung nennt er eine im Getto von Witebsk plausible Überlegung: »Ich war das älteste von vielen Kindern, und wenn damals meine Eltern beweisen konnten, daß ein Unterschied von vier Jahren zwischen mir und dem nach mir geborenen Bruder bestand, wurde ich im zaristischen Rußland vom Militärdienst befreit. Es ist durchaus möglich, daß man mir auf dem Geburtsschein zwei oder drei Jahre zugelegt hat, um geltend machen zu können, daß ich der älteste Sohn war und eine Stütze für die Familie bedeutete.«

Vor der Militärbehörde mag dieses Argument geltend gemacht worden sein, im Familienkreis wäre zunächst niemand auf den Gedanken gekommen, den Jüngling Marc als eine Stütze für den brotarmen und kinderreichen Haushalt anzusehen. Der hübsch gelockte Knabe, der sich heimlich im Wohnzimmer stundenlang vor dem Spiegel bewunderte und sich sogar die Lippen färbte, um den Mädchen auf der Straße zu gefallen (er gefiel ihnen), hielt sich von Anfang an für einen Beruf der Art, die sein Vater gewählt hatte, ungeeignet.

In der Schule, in die er erst mit dreizehn (oder elf) Jahren kam, war er zwar beim Zeichnen oder in der Geometrie mit Abstand der Beste, blieb aber nichtsdestoweniger bereits im ersten Schuljahr sitzen. Als er im nächsten Jahr bei dem ihm recht unsympathischen Primus eine Zeichnung entdeckte, die aus einer Zeitschrift kopiert worden war, besorgte er sich sogleich ebenfalls eine Ausgabe des Blattes und begann, die abgebildeten Porträts eines damals prominenten Malers nachzuzeichnen. Weil ihn ein Schulfreund daraufhin einen »Künstler« nannte - das Wort »Künstler« war bis dahin in seiner Familie nie gefallen, seine Bedeutung dem jungen Marc noch völlig unbekannt -, stand die Berufswahl fest. Der (offiziell) fünfzehnjährige Marc Chagall entschloß sich, ein Künstler zu werden.

Zunächst mußte noch ein Onkel befragt werden, der, weil er »ein großer Zeitungsleser war«, für welterfahren galt; dann schleppte Marc seine widerstrebende Mutter zu dem einzigen Maler, den er in Witebsk entdecken konnte, einem Manne namens Pen, dessen Hauptbeschäftigung freilich darin bestand, Ladenschilder herzustellen, wie »Bäckerei und Konditorei Gurewitsch«, »Tabak, alle Sorten von Tabak« oder »Pariser Moden« (die Beispiele stammen von Chagall). Von Zeit zu Zeit malte Pen aper auch Porträtbilder kapitalkräftiger Witebsker; er gab dem jungen Chagall, in dem er »Anlagen« entdeckte, einige Monate kostenlos Unterricht - und vermerkte es später übel, daß der Kulturkommissar für Witebsk, Chagall, ihm keine Professur in der Malakademie anbot, die der unfreiwillige Revolutionär 1917 in Witebsk gegründet hatte.

Bereits der Jüngling Chagall war vom ersten Tage an entschlossen, »anders« zu malen als Lehrer Pen; nach einigen Monaten brachten ihn aber die Eltern ohnehin in einem Brotberuf unter, den sie offenbar für einen gerechten Kompromiß zwischen seinen künstlerischen Neigungen und der Notwendigkeit hielten, daß er eines Tages Geld verdienen müsse: Marc wurde Lehrling bei einem Photographen. Nach Sitte der Zeit erhielten Lehrlinge keinerlei Bezahlung, immerhin fertigte der Lehrherr von Chagalls Eltern Porträtphotos an, die er für künstlerisch hielt; sie liegen heute unter Glas im Chagall-Saal des Pariser Musée d'Arts Modernes.

Der Photograph prophezeite seinem Lehrling zwar eine große Zukunft im Fach, wenn Marc nur noch einige Jahre - kostenlos - bei ihm arbeite, aber der Jüngling, durch die Stunden bei Pen einmal auf den Geschmack gekommen, war fest entschlossen, zum Malerberuf zurückzukehren. So weich, so vorsichtig und furchtsam er sonst immer war - in dieser Sache duldete er keine Widerstände.

Als ein reicherer Schulfreund an die Kunstakademie nach Petersburg durfte, wollte auch er dorthin - und bekam die Erlaubnis, sonst freilich so gut wie nichts. 27 Rubel, das gesamte Geld, das er in diesem Augenblick besaß, knallte ihm der Vater auf den Tisch. Chagall: »Ich bin ihm nicht böse deswegen. Es war seine Art, Geld herzugeben.«

In der Residenz gab es allerdings Schwierigkeiten: Jenes einzige Viertel der Stadt, in dem der Zar Juden den Aufenthalt gestattete, beherbergte nicht eben Kunstakademien, aber Chagall, zunächst als Einkäufer für seines Vaters Heringslager ausgewiesen, erhielt eine Sondergenehmigung, er erhielt auch ein Stipendium an der Freien Akademie, in der Klasse des Malers Bakst, der in Paris Bilder von Cézanne und van Gogh gesehen hatte und zur Prominenz unter der Künstlergarde in der Residenz zählte.

Wieder weiß Marc Chagall genau, daß er auf etwas anderes hinaus will als der akademische Maler Bakst, aber als er nun, 1908, nur ein Jahr nach seinem Aufbruch, nach Witebsk zurückkommt, besitzt er bereits so etwas wie Ruhm, vor allem, er hat einen mächtigen Gönner: den Petersburger Rechtsanwalt Vinaver, Mitglied des Parlaments - der Duma - und Fraktionsführer der konstitutionellen Demokraten. »Mein Vater hat mich in die Welt gesetzt«, sagt Chagall später, »Vinaver hat einen Maler aus mir gemacht.«

Zu Hause in Witebsk, zwischen 1908 und 1910, malte er die ersten Bilder, die heute jeder halbwegs interessierte Quiz-Teilnehmer auf Anhieb als Chagalls identifizieren würde; die sehr realistische Szene einer »Geburt«, das Bild »Meine Verlobte mit schwarzen Handschuhen« - es ist Bella, die Tochter des Juweliers Rosenfeld, die er 1915 heiratet und deren Tod, 1944 in New York, ihn auf lange Zeit arbeitsunfähig macht -, vor allem aber eines seiner bis heute berühmtesten Bilder, »Der Tote":

Im Morast einer Straße von Witebsk liegt, von brennenden Kerzen umstellt, mit wächsernem Gesicht ein Toter; auf dem Dach einer Hütte links hinter ihm, an deren Giebel ein Stiefel hängt, sitzt ein geigender Mann; auf der rechten Seite des Bildes stürzt eine schreiende Frau einem Manne nach, der eben in der Tür einer Hütte verschwindet; im Hintergrund der Straße arbeitet ein Mann mit einem Spaten.

»Der Tote« ist das erste Abbild jener charakteristischen und eigentümlichen Welt, die nur auf Chagalls Gemälden und Gouachen existiert und die sich in späteren Jahren noch mit geigenden Ziegenböcken, in ihre Nacktheit versunkenen Liebespaaren, geflügelten Fischen, auf Dächern lagernden Kühen füllen wird und mit den Symbolen der jüdischen wie christlichen Religion - wobei die beim »Toten« durch das Thema bedingte Trauer zudem einer melancholischen Fröhlichkeit, einer märchenartigen Heiterkeit, ja zuweilen einer überaus zärtlichen Verliebtheitsstimmung Platz macht.

Seit ihnen das Phänomen Chagall überhaupt interessant ist, haben Kunsttheoretiker versucht, hinter den Sinn dieser sonderbaren Bilderwelt zu kommen und deren immer wiederkehrende Bestandteile als Symbole zu deuten, die räumlich wie konfessionell aus der Herkunft des Malers erklärt werden müßten. Als die westliche Welt im Jahre 1929 - aus Anlaß einer mit Hilfe der Sowjetregierung in London veranstalteten Ausstellung - die bis dahin unbeachtete Kunst der Ikonenmalerei entdeckte, jener Heiligen-Darstellungen, die nach dem Glauben der russisch-orthodoxen Kirche Fenster des Himmels in diese Welt und daher nicht von Hand gemacht«, sondern unter göttlicher Eingebung entstanden sind, formulierte ein englischer Kritiker: »Der Begriff der Kausalität fehlt dem russischen Künstler, und was er darstellt, ist in der Tat eine wunderbare Welt, in der alles in jedem Augenblick möglich ist.«

Der Kritiker Lionello Venturi der im Genfer Skira - Verlag eine biographische Studie über Chagall veröffentlicht hat, findet, »diese Worte (über die Ikonen-Maler) können ohne weiteres auch auf die Bilder Chagalls angewendet werden«. Andere Kunsthistoriker glauben wiederum, Aufschluß über Chagalls Bildersprache in der religiösen Vorstellungswelt der Chassidim zu finden, aus der Chagall stammt, und in der Tat sind einige Parallelen zwischen dem Chassidismus und Chagalls Weltbild augenfällig.

Die Sekte der Chassidim ist wie die der Kabbalisten, der Schüler der Geheimlehre Kabbala, von der jüdischen Orthodoxie zuweilen befehdet worden, obgleich die Chassidim - das Wort bedeutet ursprünglich »die Frommen« - dem jüdischen Religionsgesetz, der Thora, unbedingte Treue halten. Ähnlich wie der Talmud nicht eine Kodifizierung des Gesetzes, sondern (für die Gläubigen freilich verbindliche) Kommentare, Dispute und Auslegungen des Gesetzes durch Rabbinen enthält, sind aber auch die Überlieferungen der Kabbala und des Chassidismus nicht kodifiziert, sondern werden von den Rabbinen (bei den Chassidim führen die anerkannten Gemeinde-Oberhäupter den Titel Zaddik) nach eigener Weisheit ausgelegt.

Gemeinsam ist den frommen Juden die Erwartung eines »Messias«. Während nun die Kabbala - stark vereinfacht formuliert - eine Art von Seelenwanderung lehrt, durch die der Eingeweihte, dessen Seele ja weiterwandern wird, sich bereits hier und heute seines seelischen Anteils an jener Generation sicher sein darf, die bei der Ankunft des Messias anwesend sein wird, erstreben die Chassidim eine sofortige Vereinigung von Himmel und Erde. Sie wollen den Himmel mit der Erde sogleich aussöhnen, indem sie durch ihre eigene Fröhlichkeit »Gott erfreuen«. Nach ihrem Glauben war die Seele ihres Sektenbegründers Baalschem (Rabbi Israel ben Eliezer, 1689 bis 1759) nicht - wie alle anderen Seelen sonst - in Adams Seele enthalten, als er Evas Apfel nahm, sondern war vorher entflohen. Für die Chassidim ist so die Chance gewahrt geblieben, die Erde in ein Paradies zurückzuverwandeln.

Einer der zweifellos besten Kenner des Chassidismus, der in Jerusalem lehrende, jetzt 80jährige Religionsforscher Professor Martin Buber, definierte: »Die chassidische Bewegung erregte sowohl in den geistigen wie in den einfachen Menschen, die ihr anhingen, eine Freude an der Welt, wie sie ist, am Leben, wie es ist, an jeder Stunde des Lebens in der Welt, wie diese Stunde ist. In begeisterter Freude trinken die Chassidim einander zu, singen und tanzen miteinander, erzählen sich abstruse und tröstliche Wundergeschichten.«

Der »Maggid«, ein Schüler des Baalschem und der eigentliche Organisator der Sekte, hat - so erzählen die Chassidim - die Fähigkeit erlernt und weitergegeben, sich mit Tieren und Pflanzen zu unterhalten; nach chassidischem Glauben ist Enthaltsamkeit, ist Askese »ein Köder, den der Satan auswirft«. Für die Chassidim, so berichtet Chagall - Biograph Erben, bedeute Licht soviel wie Gott, wobei das Licht notfalls durch Kerzen symbolisiert werde; Chagall identifiziert in seiner autobiographischen Schrift das Licht mit der Freiheit.

Der ursprünglich für Witebsk zuständige Zaddik, Rabbi Menachem Mendel, wanderte mit 300 Chassidim nach Palästina aus; von dem nach ihm für Witebsk zuständigen Zaddik, dem Rabbi Schneur Salman von Ljadi (gestorben 1813), wird noch heute der Spruch überliefert: »Im Hause meines Lehrers, des heiligen Maggid, schöpfte man den Heiligen Geist eimerweise, und die Wunder lagen unter den Bänken, ohne daß irgendwer Muße hatte, sie aufzuheben.« Chagall äußerte vor Jahresfrist: »Ich bemühe mich, eine Welt zu schaffen..., in der alles möglich ist, wo man keinen Grund hat, über irgend etwas zu erstaunen, aber auch keinen, aufzuhören über alles erstaunt zu sein, was man entdeckt.« Ein Kapitel in Chagalls Autobiographie beginnt mit den Worten: »Eines schönen Tages (aber jeder Tag ist schön)...«

Trotz solcher Ähnlichkeiten zwischen dem chassidischen Weltbild und Chagalls Bilderwelt, die sich vornehmlich im naiven Umgang mit dem Verwunderlichen und in einer entschlossenen Diesseitsfreude offenbaren, dementiert der Maler ausdrücklich, daß seine Bilder »im wesentlichen ein mystisches oder auch nur religiöses Glaubensbekenntnis« seien.

Dagegen räumt Chagall ein, daß sich in seinen Bildern Eindrücke aus seiner Kindheit manifestieren, in der freilich, wie er sagt, »Mystik und Religion eine große Rolle gespielt« haben: »Daß ich Kühe, Mägde, Hähne und die Häuser der russischen Provinz zu meinen Grundformen machte, erklärt sich daraus, daß sie zu dem Milieu gehören, dem ich entstamme, und daß sie zweifellos den nachhaltigsten Eindruck in meiner visuellen Erinnerung hinterlassen haben.«

Tatsächlich hat Chagall in seiner Lebensbeschreibung einige Kindheitserlebnisse aufgezeichnet, die er, wie es scheint, mit der gleichen Naivität auf die Leinwand gebracht hat, wie sie ihm als Kind erschienen waren. Zu ihnen zählt etwa seine erste Begegnung mit dem Tode: In den frühesten Morgenstunden hatte eine Frau, deren Mann auf der Straße zusammengebrochen war und im Sterben lag, schreiend alle Nachbarn alarmiert, die nun nach Kampfer und Alkohol rannten, um dem offenbar an einer Herzattacke erstickenden Mann zu helfen, während andere Juden bereits mit den rituellen Klagegesängen begannen.

Alle diese vom Kind beobachteten Einzelheiten hat Chagall auf seinem Bild »Der Tote« aus dem Jahre 1908 auf irgendeine Weise untergebracht oder angedeutet: den Toten auf der Straße, die schreiende Frau, den Nachbarn, der ins Haus stürzt. Die Kerzen, mit denen der Tote umstellt ist, und der Mann mit dem Spaten im Hintergrund stehen möglicherweise für den Teil der Straßennachbarn, die sogleich erkannt hatten, daß nicht mehr zu helfen war, und mit den rituellen Zeremonien begannen, einschließlich des Grabaushebens; der Spatenmann ist ein Totengräber.

Solcherart läßt sich auch das letzte Detail dieses Bildes noch auflösen: der Mann, der auf dem Dach sitzt und Geige spielt, und der Schuh, der am Dachfirst hängt. Chagall berichtet, daß bei einer religiösen Familienfeier eines Tages der Großvater vermißt wurde; man fand ihn endlich auf dem Dach, er genoß dort das schöne Wetter und verzehrte Mohrrüben. Eine bestimmende Figur im Leben des jungen Marc war der gute Onkel Neuch, der - von Beruf Fleischer - mit Leidenschaft und bei jeder Gelegenheit Violine spielte, nur spielte er sein Instrument wohl nicht eben meisterhaft, in der Familie hieß es scherzhaft, »er spielt wie ein Schuster«. Der auf dem »Toten«-Bild am Dachfirst baumelnde Schuh mag eine Anspielung auf die künstlerischen Qualitäten des Violinspielers auf dem Dach sein, in dessen Figur sich Großvater und Onkel Neuch auf mystische Weise vereinigen.

Daß schließlich der Fisch - sonst christliches Symbol für Jesus von Nazareth im Bilderrepertoire des Malers eine Rolle spielt, dessen Vater allabendlich den Ruch von der Tagesarbeit im Heringslager nach Hause brachte, ist kaum verwunderlich. Als Chagall im Jahre 1910 endlich nach Paris durfte - Gönner Vinaver hatte ihm ein bescheidenes Stipendium ausgesetzt -, dichtete er übermütig:

Witebsk, Ich verlasse dich,

bleib allein mit deinen Heringen.

Die Heringe zogen aber doch mit um, nicht nur auf den Bildern. »In meinem Atelier blieb ich allein mit meiner Petroleumlampe«, notiert Chagall in diesen letzten Friedensjahren vor der Zeit der großen Weltkriege. »Auf meinen Tischborden liegen nebeneinander Reproduktionen von Cézanne, von El Greco, die Reste eines Herings, den ich in zwei Hälften geteilt habe, den Kopf für heute und den Schwanz für morgen ... Keiner kauft meine Bilder, und ich glaube nicht, daß es überhaupt möglich ist.«

Zwar war dem jungen Russen vom fernen Petersburg aus bis nach Paris bereits so etwas wie ein Name vorangegangen, ein erster Anhauch von Berühmtheit oder mindestens von beachtenswerter Besonderheit, aber diese zarte Welle erreichte nur die Künstler und die in jenen Jahren besonders aktiven Kunstprogrammatiker, die Käufer erreichte sie nicht. Chagall mietete sich am Montparnasse im Hause »La Ruche« - zu deutsch: Bienenkorb - ein, einem achteckigen Atelierbau, in dem man, wie Chagall formuliert, »entweder krepiert, oder man verläßt ihn als berühmter Mann«.

Chagalls Zimmernachbarn, dem Maler Amedeo Modigliani, gelang es, von beiden Möglichkeiten zugleich Gebrauch zu machen; der junge Maler aus Perpignan, der heute im Bienenkorb Chagalls Atelier bewohnt, hat die Alternative noch vor sich, deutlich ist ihm jedenfalls, daß er das Zehnfache der Monatsmiete erlegen muß, die Chagall abverlangt wurde.

Chagall, der sich auch in Paris keinem Lehrer anvertraute und, trotz einiger kubistischer Experimente, jeden Anschluß an eine Richtung vermied, durfte zwar mehrmals im prominenten »Salon des Indépendants« ausstellen, einmal sogar im exklusiven »Salon d'Automne« - ein Käufer fand sich nicht. Im Jahre 1913 machte ihn der Lyriker Guillaume Apollinaire - er erfand für Chagalls Malweise die Bezeichnung »surnaturalisme«, aus der später der Begriff Surrealismus geworden sein soll - mit Herwarth Walden bekannt, einem Berliner Kunsthändler, der im Hof eines Hauses in der Potsdamer Straße eine zu dieser Zeit schon berühmte, avantgardistische Galerie, »Der Sturm«, unterhielt, dazu einen Verlag und eine Zeitschrift gleichen Namens.

Walden zeigte sich von Chagalls Bildern beeindruckt; im Jahre 1914 lieferte der Maler nicht weniger als 150 Bilder beim »Sturm« in Berlin ab, dann reiste er nach Witebsk weiter, zur Braut Bella. Sechs Wochen nach seiner Ankunft wurden die Grenzen geschlossen, der Weltkrieg fing an; Nach seiner Einberufung gelang es Chagall, einen Schreibstuben-Posten zu bekommen; er arbeitete bei einer Regierungsbehörde in Petersburg, durfte, malen und sich um die Familie kümmern. 1915 heiratete er Bella Rosenfeld, 1916 kam Tochter Ida zur Welt - sie heiratete später den Journalisten Gordey, der im Zweiten Weltkrieg die Frankreich-Sendungen der »Stimme Amerikas« leitete, heute ist sie mit Franz Meyer verehelicht, dem Leiter der Kunsthalle Bern.

Nach seiner Ernennung zum Kunstkommissar von Witebsk und Leiter einer Malakademie machte Chagall einige Zeit gutmütig den Versuch mit, die Kunst unters Volk zu tragen und aus der Kunst gewissermaßen eine Kollektivleistung der werktätigen Masse zu machen, dann gab er es auf. »Man arbeitete auf Kommando in Gemeinschaftsateliers«, erinnert er sich. »Man versuchte, die Kunst in das Leben zu tragen ... Man wollte etwas schaffen, man wollte aufbauen, man redete, man schrie und hat doch nichts verwirklicht.«

Nach der Heimkehr von einer Dienstreise fand sich Chagall als Akademiedirektor abgesetzt, nicht aus politischen, sondern aus künstlerischen Gründen. Eine Gruppe von Professoren hatte die Schule zur ausschließlich »Suprematistischen Akademie« ernannt - die Suprematisten huldigten einer abstrakten Malweise nach streng geometrischen Regeln. Mit Hilfe der Schüler wurde Chagall zwar in seine Rechte wiedereingesetzt, trat dann aber freiwillig zurück. Er ging nach Moskau, stattete das Staatliche jüdische Kammertheater aus, entwarf im Habimah-Theater für den Regisseur Wachtangow Bühnenbilder und erhielt endlich von einem Freunde, dem jüdischen Schriftsteller Rubiner, eine Postkarte aus Deutschland: »Lebst Du noch? Weißt Du, daß Du hier berühmt bist?«

Chagall - beide Eltern waren kurz nach Kriegsende gestorben - wollte zurück, über Berlin nach Paris, und der alte Gönner Lunatscharski - es ist der gleiche Mann, der während der Revolutionskämpfe aus Protest gegen die Beschießung des altehrwürdigen Kreml mit seinem Rücktritt drohte - verschaffte ihm die Erlaubnis: 1922 fuhr Chagall mit Frau Bella und Tochter Ida ab nach Berlin.

Die Ruhmesbotschaft, die ihm Rubiner hatte zukommen lassen, fand Chagall bestätigt, den materiellen Gewinn dieses Ruhmes hatten andere kassiert. Wiederum sah sich Chagall vom Schicksal und von Menschen geprellt, nun zum dritten und vierten Male: Er hat auf diese Weise fast die gesamte Produktion seiner früheren Malerjahre eingebüßt.

Zum ersten Male war Chagall noch in Petersburg vor seiner ersten Übersiedlung nach Paris um seinen Bildervorrat betrogen worden. Er hatte seine Gemälde zu einem Rahmenmacher gebracht, der zuweilen auch für Petersburger Maler Bilder an Laufkundschaft verkaufte, und war beschieden worden, in der nächsten Woche wiederzukommen. Es sei »wie in einem Roman von Kafka« gewesen, erinnert sich Chagall: Als er wiederkam - er besaß keine Quittung -, »stellte sich der Rahmenmacher, als ob er mich nie gesehen hätte, und fragte sogar: 'Wer sind Sie überhaupt?'«

Während seiner Pariser Vorkriegszeit konnte Chagall zwar in der französischen Hauptstadt nicht ein einziges Bild veräußern, für drei Gemälde aber, die er zum Amsterdamer »Salon des Indépendants« geschickt hatte, fand sich ein Käufer. Er zahlte den recht beträchtlichen Preis von 900 Francs - und der Amsterdamer Kassierer des Salons brannte mit dem Geld nach den Vereinigten Staaten durch.

Nun, 1922 in Berlin, hoffte Chagall den Erlös für die 150 Bilder zu kassieren, die er vor Kriegsbeginn dem »Sturm«-Verleger Herwarth Walden hinterlassen hatte, aber erst nach der Intervention durch einen Rechtsanwalt gelang es ihm, wenigstens drei Bilder zurückzubekommen. Eine Millionen-Summe, die Walden dem Maler zögernd als Erlös für die übrigen, angeblich verkauften Bilder ausfolgte, reichte an jenem Inflationstag, wie sich Chagall erinnert, eben aus, einen Straßenbahn-Fahrschein zu bezahlen.

Als im Jahre 1954 im Stuttgarter Auktionshaus Ketterer die Kunstsammlung der Walden-Witwe unter den Hammer kam

und innerhalb dieser Sammlung vierzehn Chagall-Bilder -, deutete Chagalls Tochter Ida zwar an, die Ersteigerer müßten »sich auf Einsprüche gefaßt machen, die sich vielleicht ergeben könnten«. Ein Nachweis, daß diese Versteigerungsbilder etwa von Herwarth Walden - er emigrierte 1931 nach Moskau und ist dort verschollen - unterschlagen worden seien, ist aber niemals erbracht worden.

Bei der Rückkehr nach Paris schließlich entdeckte Chagall den vierten Verlust: »Als ich in die 'Ruche' zurückkam, in der Erwartung, alles so vorzufinden, wie ich es verlassen hatte, und meine Bilder unter einer fast zehnjährigen Staubschicht wiederzusehen, wurde ich dort von einem neuen Mieter empfangen. Während meiner Abwesenheit war alles, was ich dort besaß, ausgeräumt worden, und nie habe ich das geringste davon wiederbekommen.«

Es tröstete Chagall wenig, daß ihm wie in Berlin so in Paris die Sammler stolz ihre neuesten Chagall-Erwerbungen vorführten; immerhin hatten aber tatsächlich die zurückgelassenen und für den Maler verlorenen Bilder inzwischen Chagalls Ruf ungemein gemehrt und gekräftigt. In Berlin gab der Kunsthändler (und Ehemann der Schauspielerin Tilla Durieux) Paul Cassirer dem Maler sofort den Auftrag für zwanzig Radierungen zu seiner in Moskau geschriebenen Autobiographie. »Mein Leben« - der Text erschien erst, von Ehefrau Bella ins Französische übersetzt, 1931 in Paris. In der französischen Hauptstadt hatte sich, entzückt von den überall auftauchenden, aus dem Atelier entwendeten Bildern, der Kunsthändler Vollard um Chagalls Anschrift bemüht.

Vollard, Schlüsselfigur in der französischen Kunstwelt jener Jahre, der die Elite der Pariser Maler - darunter Bonnard, Dufy und Picasso - zur Graphik bekehrte, zum Umgang mit Radiernadel, Kupferplatte und Druckstein, bestellte bei Chagall Illustrationen zu Gogols Erzählung »Die toten Seelen«, danach Graphiken zu La Fontaines Tierfabeln, später Illustrationen zur Bibel -, eine Arbeit, vor deren Beginn Chagall eine Palästinareise unternahm, um die Stimmung der biblischen Ländschaften kennenzulernen. Alle diese Graphik-Sammlungen sind erst nach Vollards Tod in Paris bei Tériade erschienen und haben heute bei Sammlern bedeutenden Kurswert. Allein ein Zeitschriftenheft, in dem Chagalls Bibel-Illustrationen maschinell gedruckt reproduziert sind, wird heute zum Preise von mehreren hundert Mark angeboten. Chagall-Gemälde, vor zehn Jahren noch mit vier- bis zehntausend Mark im Handel, erzielen heute Preise von 40 000, ja 70 000 Mark.

In den Jahren nach der Rückkehr malte Chagall seine fröhlichsten Bilder voller Ziegenböcke und zärtlicher Paare in zuweilen delikaten Situationen - Chagall: »Ich für meinen Teil bin bisher ganz gut ohne (den Psychoanalytiker) Freud ausgekommen« -, er entwarf Ballett-Dekorationen, reiste nach Spanien (1934), nach Polen (1935), nach Italien (1937). Erst auf die immer lauteren Nachrichten von den Judenverfolgungen in Deutschland hin erscheint auf seinen Bildern immer häufiger auch der Gekreuzigte. Chagall sieht in dieser Figur, der er zuweilen eine grüne Soldatenmütze aufsetzt, ein Symbol für die Leiden des jüdischen Volkes.

Während des Zweiten Weltkriegs lockte ihn der, amerikanische Botschafter mit einem Auftrag des Museum of Modern Arts in New York aus dem zunächst noch nicht von den Deutschen besetzten Teil Frankreichs in die Vereinigten Staaten, 1947 kommt er abermals zurück. Gegenwärtig wohnt Marc Chagall - er lebte zwischendurch mit einer Engländerin, Virginia MacNeil, zusammen, aus dieser Verbindung stammt der heute neunjährige Sohn David - mit der 55jährigen Russin Valentine Brodsky, die er 1952 heiratete, auf seiner hübschen Besitzung »Les Collines« (zu deutsch: Hügel) in Vence, einem malerischen Ort in der Nähe von Nizza, der seit je Künstler angelockt hat: Henri Matisse wohnte hier und baute dem Ort seine berühmte Kirche, die »Chapelle des Rosaires«, Raoul Dufy war in Vence ansässig, der englische Romancier David Herbert Lawrence ("Lady Chatterleys Liebhaber") ist in Vence gestorben. Seit einiger Zeit haben die Chagalls auch eine Stadtwohnung in Paris, am eleganten Quai Bourbon.

»Wenn Chagall auch den Eiffelturm malt«, erklärte die Ehefrau des Malers Fernand Léger, »er mag so pariserisch sein, wie er will, auf Chagalls Bild steht er jedenfalls wie auf Witebsker Boden.« Tatsächlich sind auch auf den jüngsten Bildern Chagalls die Violine des Onkels Neuch, die Kühe der heimatlichen Straße, die - mehr oder minder selbstkritisch gemeinten - Ziegenböcke und Esel immer noch enthalten, schwebend oder in Stücke geteilt oder ihrem voranfliegenden Kopf nachjagend. Wie Picasso beschäftigt sich Chagall neuerdings auch mit Bildhauerei und dem Brennen von Keramiken.

Manche Kunsthistoriker haben derweilen den Versuch aufgegeben, hinter Chagalls Kaleidoskop-Bildern nach einem in Symbolen versteckten Sinn zu suchen, und das entspricht genau dem, was Chagall sich von den Betrachtern seiner Bilder wünscht.

»In meinen Kompositionen gibt es weder Phantastisches noch Symbolisches«, sagt er einmal, und ein andermal, nicht eben ganz konsequent: »Ich mußte eine der Logik zuwiderlaufende Wirklichkeit aufbauen, um das Phantastische zu einem konstruktiven Element umzuformen.«

Chagall vertritt zwar die These: »Unsere ganze innere Welt ist Wirklichkeit, mehr vielleicht als die sichtbare Welt. Wenn wir alles, was uns unlogisch zu sein scheint, als phantastisch, als Märchen ansehen, geben wir damit nur zu, daß wir die Natur nicht verstehen.« Das Phantastische und Märchenhafte auf seinen Bildern möchte Chagall aber weniger als eine Darstellung der »inneren Welt« verstanden wissen, sondern als formal begründet, als ein kompositorisches Problem.

Chagall sieht seine Bilder als »Kompositionen« an, zusammengesetzt aus farbigen Gegenständen. »Ich bitte Sie«, so bat er den Direktor des New Yorker Guggenheim-Museums, Sweeney, »stehen Sie mir gegen die Leute bei, die Anekdotisches und Märchenhaftes in meinen Arbeiten sehen wollen. Eine Kuh oder eine Frau bedeuten für mich ein und dasselbe - für das Bild sind beide lediglich kompositorische Bestandteile ... Die Frau mit dem Milcheimer zum Beispiel (auf dem Ölbild »Rußland, den Eseln und den anderen«, 1911) mußte ich lediglich deshalb enthaupten, weil ich an der Stelle des Bildes, wo ihr Kopf gewesen wäre, einen leeren Platz brauchte.«

Den Mädchenakt, so erklärte Chagall bei anderer Gelegenheit, habe er (auf dem Bild »Akt über Witebsk") nur deshalb über die Häuserzeile der Stadt in den Himmel gemalt, »um den leeren Platz zu füllen«. »Wenn ich eine Kuh auf ein Dach setze«, sagte Chagall zu dem Essayisten Edouard Roditi, »oder wenn ich eine ganz kleine Frau in den Körper einer viel größeren hineinmale, so ist das ... die Logik des Unlogischen, ein Formalismus ..., eine Art von Komposition, die den Regeln des Impressionismus und des Kubismus eine seelische Dimension hinzufügt.«

Chagall rät aber auch: »Man sollte einen Maler immer nur nach seinen Bildern beurteilen. Seine Worte, fürchte ich, werden den Blick nur trüben.« Und er erinnert sich, lachend, daß bereits in Moskau der Dichter Wladimir Majakowski zu ihm gesagt habe: »Mein lieber Chagall, du bist ein guter Junge, aber du redest zuviel.« Chagall fügt hinzu: »Ich stelle fest, daß ich mich im Alter nicht gebessert habe.«

* Die Ausstellung umfaßt 291 Stücke, davon 176

Ölgemälde, 96 Gouachen - bei dieser Technik werden Aquarellfarben, die sonst Ineinander zerlaufen, durch Zusätze so präpariert, daß sie als Deckfarben wirken -, 5 Plastiken und 14 Keramiken. Eine Turiner Chagall-Ausstellung im Jahre 1953 bot zwar fast 400 Stücke, enthielt jedoch zum größten Teil graphische Arbeiten.

Chagalls Geburtshaus in Witebsk: Zu jeder Zeit ist ...

... alles möglich: Chagall-Gemälde »Der Tote« (1908)

Maler Chagall: »Den Eseln und anderen«

Eltern Chagall: Lebt wohl, Heringe

Volksbildungskommissar Lunatscharski

Grüne Kühe sind revolutionär

Chagall-Gemälde »Akt über Witebsk« (1933): Eine Mädchenwolke, um den leeren Platz zu füllen

Chagall, erste Ehefrau Bella: »Eine Kuh und eine Frau ...

Tochter Ida Meyer-Chagall

... sind für mich dasselbe«

Lyriker Apollinaire

Und du du zeigst mir ...

Kunsthändler Walden

... ein entsetzliches Violett

Chagall, Ehefrau Valentine: Wunder eimerweise

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