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»Die Lage ist ernst«

aus DER SPIEGEL 22/1990

SPIEGEL: Herr Späth, machen Sie sich Sorgen über die Lage Ihrer Partei?

SPÄTH: Die Lage ist für uns schwierig, ja ernst. Daß jetzt nach dem Verlust von Niedersachsen im Norden SPD-Regierungen dran sind und sich die Union im südlichen Bereich konzentriert, das ist sicher nicht gut. Wenn man in einer ganzen Fläche nicht mehr präsent ist, bietet sich den anderen die Chance der Machtstabilisierung im Verbund von Regierungen.

SPIEGEL: Sehen Sie Gefahr für den Machterhalt der Union im Bund?

SPÄTH: Daß die Union akut gefährdet wäre, halte ich nicht für richtig. Die Umfragen signalisieren eine Mehrheit für die Koalition. Wir haben eine typische Umbruchsituation, in der es für eine Regierungspartei schwer ist, mit ruhigem Kurs die Leute vertrauensmäßig an sich zu binden.

SPIEGEL: Hans-Dietrich Genscher sprach vor einiger Zeit schon vom »Gezeitenwechsel«. Jetzt gibt es eine SPD-Mehrheit im Bundesrat.

SPÄTH: Das ist das Schwierigste. Ich will nichts dramatisieren. Helmut Schmidt hat Jahre erfolgreich, trotz aller Kompromisse bei Gesetzen, gegen eine Mehrheit der CDU/CSU-Opposition im Bundesrat regiert. Aber ich warne zugleich davor, den Verlust unserer Bundesratsmehrheit auf die leichte Schulter zu nehmen.

SPIEGEL: Warum kommt die CDU nicht hoch? Den Bundesbürgern geht es gut wie selten, Kohl wird als Kanzler der Einheit gefeiert.

SPÄTH: Die Begeisterung für die deutsche Einheit ist zwar groß, die Unsicherheit aber auch, was in den nächsten Jahren auf uns zukommt. Deshalb ist es wichtig, bald den Leuten zu erklären, daß bei einem Anstieg der Arbeitnehmer-Nettoeinkommen zwischen sieben und neun Prozent in diesem Jahr der Wohlstand überhaupt nicht angetastet wird.

SPIEGEL: Sie selber haben die Einheits-Kampagne Ihrer Partei durch Warnungen vor einer »Sturzgeburt« gestört und sich gegen schnelle gesamtdeutsche Wahlen, für eine Frist bis zu drei Jahren ausgesprochen.

SPÄTH: Ich ziehe mir den Schuh des Parteistörenfrieds nicht an. Ich halte es nach wie vor für besser, den Prozeß der Wiedervereinigung in Stufen zu bewältigen. Die Einführung der D-Mark, die erste Stufe, muß aber ganz schnell kommen. Nur so ist der Übersiedlerstrom zu stoppen.

SPIEGEL: Die Koalition will gesamtdeutsche Wahlen schon im Winter.

SPÄTH: Ich hätte das lieber langsamer. Der Bundeskanzler selber hat ja noch vor kurzer Zeit die Position vertreten, wir machen erst die Währungs- und Wirtschaftsunion, dann wählt die DDR ihre Ländervertretungen, im Laufe des Jahres 1991 haben wir den KSZE-Prozeß und die »Zwei plus Vier«-Verhandlungen abgeschlossen. Dann erst sind alle Voraussetzungen gegeben, und das Vereinigungsgesetz ist formuliert. Da muß man Übergangsbestimmungen beachten. Das gibt ein großes Gesetzespaket. Gesamtdeutsche Wahlen könnten dann im Laufe des Jahres 1991 folgen.

SPIEGEL: Und vorher Bundestagswahlen am 2. Dezember?

SPÄTH: Ja. Es ist verfassungsrechtlich nicht möglich, die laufende Legislaturperiode um irgendeinen Zeitraum zu verlängern, selbst um einige Wochen nicht. Kohls Vorstellung war weiter, zusammen mit der Bundestagswahl am 2. Dezember Landtagswahlen in der DDR abzuhalten. Dann hätte man die ganzen organisatorischen strukturellen Elemente gehabt, um den deutschen Einigungsprozeß zusammenzuführen.

SPIEGEL: Oder man macht Augen zu und durch. Ist die Vereinigung erst mal mit der Dezember-Wahl geschafft, regeln sich die restlichen Probleme schon irgendwie.

SPÄTH: Dann müßten DDR-Landtagswahlen schon im September sein. Solche Überlegungen gibt es drüben. Nur so ließen sich die Voraussetzungen für eine wirksame Infrastrukturpolitik für den Aufbau von Länderverwaltungen schaffen, erst dann käme der Aufbauprozeß voran.

SPIEGEL: Ist zwischen September und Dezember alles zu schaffen?

SPÄTH: Nach meinem Eindruck sind die demokratischen Kräfte in der DDR, die jetzt die Verantwortung übernommen haben, weder personell noch organisatorisch - und das wird zunehmend sichtbar - in der Lage, diesen ganzen Strukturprozeß zu bewältigen. Das könnte dazu führen, daß sie einfach zu dem Ergebnis kommen: Macht die Vereinigung ganz rasch, dann regeln wir das gemeinsam. Das hieße dann gesamtdeutsche Wahlen eher zum Jahresende 1990 als weit im Jahr 1991.

SPIEGEL: Und wenn die Sowjetunion wegen der Nato-Zugehörigkeit des vereinten Deutschland dagegen ist?

SPÄTH: Die UdSSR hat gesagt, der Schlüssel für die Wiedervereinigung liege bei den Deutschen. Sie muß daran interessiert sein, daß es in der DDR keine dramatischen Probleme gibt. Sonst würde auch die Lieferung von wichtigen Gütern gefährdet, die in der UdSSR dringend gebraucht werden und deren Export wir garantieren wollen. Die Sowjetunion will klar ihre Sicherheitsinteressen gewährleistet haben. Das wird geschehen. Aber sie sagt auch, es muß eine Lösung gefunden werden.

SPIEGEL: Für welche Übergangszeit sollte die Sowjetarmee noch auf deutschem Boden stehen?

SPÄTH: Ich bin dagegen, einen exakten Zeitraum festzulegen. Vernünftiger ist es, die Präsenz der Roten Armee in Abhängigkeit von weiteren Schritten beim Aufbau eines europäischen Sicherheitssystems zu bringen. Und das verlangt so lange die Präsenz auch sowjetischer Militärs in Deutschland.

SPIEGEL: Wieviel müssen wir erst einmal für die Stationierung sowjetischer Kampftruppen auf dem Gebiet eines vereinten Deutschland zahlen?

SPÄTH: Daß Steuerzahler Truppen der Sowjetunion auf deutschem Boden finanzieren, regt sicher viele Stammtische auf. Die Gegenrechnung: Die bisherigen Steigerungsraten des Verteidigungshaushalts sind teurer. Wenn wir bei der Abrüstung vorankommen, wird der Unterhalt der Sowjettruppen schnell aus dem, was wir an Verteidigungskosten einsparen, zu finanzieren sein.

SPIEGEL: Was kostet es?

SPÄTH: Rechnen Sie in D-Mark 700 bis 800 pro Monat pro Rotarmist. Dann kommen Sie auf 10 000 Mark im Jahr, nehmen Sie 350 000 Mann, dann sind Sie bei 3,5 Milliarden. Der Verzicht auf die Aufrüstung mit atomaren Kurzstreckenwaffen spart uns größere Milliardenbeträge. Der Gedanke, daß 350 000 Sowjetsoldaten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stehen, wo sie schon immer standen, aber nicht mehr im feindlichen Lager, läßt mich viel ruhiger schlafen als der Gedanke, daß atomare Sprengköpfe mit kurzen Reichweiten in Deutschland gelagert sind.

SPIEGEL: Vor einer Vereinigung sollte das Problem des Paragraphen 218 geklärt sein. In der DDR gilt die Fristenlösung, im Westen ist sie verboten. Ist ein Kompromiß denkbar?

SPÄTH: Ich sehe von unserer Seite keine Kompromißmöglichkeit.

SPIEGEL: Wird der DDR eine Übergangsfrist gewährt?

SPÄTH: Die DDR will gemäß Artikel 23 beitreten und sich in den Geltungsbereich des Grundgesetzes begeben. Bei allen strittigen Fragen muß man dann anhand des Grundgesetzes prüfen, in welchen Bereichen wir Übergangsfristen brauchen oder wo eine Korrektur von Gesetzen nötig ist. Deshalb wünsche ich mir ja, daß wir genügend Zeit haben.

SPIEGEL: Aber Sie sperren sich gegen eine Übergangsfrist beim Paragraphen 218?

SPÄTH: Wenn die DDR nach Artikel 23 beitritt, dann gilt das Grundgesetz für alle.

SPIEGEL: Bei Ihren Prognosen über die wirtschaftlichen Folgen der Währungsunion reden Sie wie Oskar Lafontaine. Sie rechnen mit zwei bis drei Millionen Arbeitslosen in der DDR.

SPÄTH: Ich habe von zwei bis drei Millionen Leuten geredet, die ihren Arbeitsplatz wechseln müssen. Ich unterscheide da. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir diese Leute nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen. Wir können sie aber auch nicht in den Firmen lassen, sonst schaffen wir den Strukturierungsprozeß nicht. Im Bau- und Dienstleistungsbereich wird es sehr schnell viele neue Arbeitsplätze geben. Mieter von Siedlungswohnungen sollten ganz preiswert ihre eigenen Wohnungen kaufen können. Wenn den Leuten die Wohnung gehört, wollen sie die Einbauküche, den Teppichboden, die besseren Fenster, die bessere Isolierung haben. Das gibt eine Riesennachfrage nach Baudienstleistungen.

SPIEGEL: Einer, der bisher beim Trabi die Schrauben festgezogen hat, kann nicht von heute auf morgen als Installateur arbeiten.

SPÄTH: Aber ich kann ihn über kommunale Beschäftigungsgesellschaften in Krankenhäusern, im Städtebau, im Umweltschutz einsetzen und parallel dazu umschulen. Wenn die Betriebe umgestellt sind auf neue Produkte - die Umstellung schafft ja die große Arbeitslosigkeit - und sie bilden innerhalb von zwei, drei Jahren die Leute für neue Aufgaben aus, dann kriegen wir das in den Griff.

SPIEGEL: Dann haben Sie also nichts dagegen, wenn die SPD jetzt mehr Schutz für DDR-Bürger vor sozialen Härten der Währungsunion verlangt?

SPÄTH: Dem Anliegen der SPD, einfallsreich die sozialen Gefährdungen abzusichern, stehe ich absolut positiv gegenüber. Nur, wie will man das im Staatsvertrag festschreiben? Es geht uns darum, den unaufhaltsamen Strukturwandel in der DDR vernünftig abzufedern. Dieses Anliegen der SPD ist auch meins.

SPIEGEL: Um so leichter müßte es Ihnen fallen, dem Wunsch der SPD zu entsprechen und dies in Anhängen zum Staatsvertrag festzuschreiben.

SPÄTH: Wenn die SPD ein paar klärende Dinge haben will, ist da sicher von der DDR-Seite manches zu sagen. Da kann auch die Bundesregierung Erläuterungen zu Protokoll geben. Aber die Gretchenfrage ist, ob die SPD ganze Strukturen, die langfristig nicht wettbewerbsfähig sind, aus Arbeitsmarktgründen so hoch subventionieren will, daß sie erhalten bleiben. Wir dürfen die Strategie der SPD nicht aufgehen lassen, daß sie drüben sagt, wir wollen für eure soziale Sicherheit sorgen, und hier den Leuten sagt, guckt mal, wie die CDU mit eurem Geld umgeht.

SPIEGEL: Die SPD verlangt auch Präzisierungen zum Umweltschutz im Staatsvertrag.

SPÄTH: Wenn die DDR-Regierung erklärt, sie wird bis zu einem bestimmten Zeitpunkt diese und jene Gesichtspunkte zum Umweltschutz im Rahmen eines Grundlagengesetzes regeln, müßte die SPD eigentlich zufrieden sein. Wir brauchen beim Umweltschutz Übergangsfristen. Würden zum Beispiel alle unsere Vorschriften über Altlasten drüben sofort angewandt, dann gingen die Unternehmer alle auf die grüne Wiese.

SPIEGEL: Soll der Staat das Risiko der Altlasten übernehmen?

SPÄTH: Das wird wie bei uns zum Teil der Staat übernehmen müssen, zum Teil die Industrie. Die Altlasten müssen beseitigt werden im Rahmen des Restrukturierungsprozesses der Industrie. Da werden wir komplizierte Regelungen brauchen, auch großzügige Abschreibungsregelungen für Unternehmer, die drüben Altlasten beseitigen.

SPIEGEL: Und wie teuer wird das?

SPÄTH: Beim Umweltschutz ist vieles unklar: Wie groß ist die Verseuchung von Luft, Boden, Wasser? Geht es hierbei um Privatbesitz, Kombinatsbesitz, Staatsbesitz? Es gibt keine Übersicht über die Struktur der Altlasten. Aber natürlich: Dies alles kostet Geld. Sollen wir denn in den Staatsvertrag schreiben: Für die Folgen kommen wir nicht auf? In einem Jahr gehört die DDR zu uns, und dann bestätigen wir uns selber, daß wir für unsere Folgen nicht aufkommen.

SPIEGEL: Steuererhöhungen können Sie deshalb nicht ausschließen?

SPÄTH: Ich werde in meiner eigenen Partei kritisiert, weil ich Steuererhöhungen nicht ausschließe. Aber ich muß jetzt sagen, es gibt zur Zeit überhaupt keinen Anlaß für Steuererhöhungen, weil wir allein in diesem Jahr zweistellige Milliarden-Steuermehreinnahmen haben. Wir können die Kosten der deutschen Einigung jetzt in der Phase der Hochkonjunktur schlicht verkraften, ohne Steuererhöhung.

SPIEGEL: Und die versprochene Senkung der Unternehmensteuern soll es auch noch geben?

SPÄTH: Wenn wir die Unternehmensteuerreform nicht voll finanzieren können, dann gibt's auch die Möglichkeit, aufkommensneutrale Teile der Reform gerade im Hinblick auf die Investitionsnotwendigkeiten etwa des Mittelstandes zu verwirklichen.

SPIEGEL: Herr Späth, kandidieren Sie beim nächsten Wahlparteitag wieder für das CDU-Präsidium?

SPÄTH: Ja.

SPIEGEL: Aber Kanzler wollen Sie nicht mehr werden?

SPÄTH: Nein.

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