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MUSEEN / VORGESCHICHTE Die Lanze von Lehringen

aus DER SPIEGEL 7/1955

In diesen Tagen geht der Streit zu Ende. Ein Beauftragter des niedersächsischen Kultusministeriums wird sich zusammen mit dem Leiter des hannoverschen Landesmuseums nach Verden an der Aller begeben. Die beiden Herren werden mit dem Rektor im Ruhestand Alexander Rosenbrock vereinbaren, wie der älteste Speer der Welt im Vorgeschichtsmuseum zu Verden würdig, wohltemperiert und diebstahlssicher untergebracht werden kann.

Damit ist der alte Heimatkundler Rosenbrock als Sieger aus einem jahrelangen erbitterten Streit hervorgegangen, wie er zwischen Wissenschaftlern und Bürokraten in einem deutschen Bundesland wohl noch nie ausgetragen worden ist: Mehrere Gerichtsverfahren verliefen ergebnislos. Die Verdener Bevölkerung erbitterte sich heimatkundlich. Archäologisch gebildete Professoren arbeiteten Gutachten aus. In Verden fanden mehrere außerordentliche Ratssitzungen statt. Archäologen schrieben schürfende Honorar-Artikel. Für Niedersachsens Kultusminister Richard Voigt wurde die vertrakte Lanze schließlich so etwas wie ein kulturelles Politikum.

Noch hängt die kulturell ungeheuer aufschlußreiche »Lanze von Lehringen«, in zehn Teile zerbrochen, in einer Art Standuhrgehäuse im Landesmuseum. Professor Dr. Karl Hermann Jacob-Friesen, der vormalige Museumsdirektor, hatte seinerzeit ein Kolossalgemälde daneben anbringen lassen, um Kindern und bildungsbeflissenen Erwachsenen den rechten Eindruck zu vermitteln. Die handlungsstarke, wenn auch

künstlerisch schlichte Darstellung zeigt, wie kräftige Männer mit langen Bärten und Bärenfellschurzen einen riesigen Alt-Elefanten mit eben jener Lanze jagen, die nebenan im Uhrgehäuse hängt.

Die bärtigen Muskelprotze sind sozusagen die Ururaltvordern der Verdener. Vielleicht waren sie auf einer Staatsjagd, wie sie in Niedersachsen noch heute gern von Regierenden veranstaltet wird.

Nach dem Gemälde und nach den heimatkundlichen Darlegungen des Rektors Rosenbrock wurde der 2,40 Meter lange Eibenholzspeer dem Alt-Elefanten zwischen die Rippen gestoßen. Der Elephas antiquus, 5 Meter hoch, brüllte auf und eilte in den nahegelegenen Sumpf, wo er gemächlich versank. Die Ur-Verdener stimmten ein Triumphgeheul an, setzten ihm auf Flößen nach, ließen sich auf seinem Rükken nieder und wetzten die Feuersteinmesser, von denen 150 000 Jahre später ebenfalls 28 Stück gefunden wurden.

Am 1. April 1948 ließ der Besitzer des Mergelwerkes Lehringen bei Verden, Franz Werner, wieder einmal in der Grube baggern. Die Zähne des Baggers fraßen sich in großen Klumpen fest. Der heimatkundlich interessierte Mergelgruben-Besitzer bat den Rektor herbei, der vor Jahren dort gebuddelt und manchen Knochen gefunden hatte. Rosenbrock begann eifrig zu schürfen und förderte tatsächlich einen riesigen Backenzahn zutage.

Erregt schaufelte er weiter und machte den Fund seines Lebens. Zwischen zwei mächtigen Rippen lag der Speer, der Beweis, daß vor 150 000 Jahren Menschen in der Gegend von Verden gelebt hatten. Nicht weit davon fand Rosenbrock die Feuersteinmesser. Mit dem Blick des erfahrenen

Heimatkundlers stellte er fest, daß Backenzahn und Rippen dem Elephas antiquus gehörten.

Rektor Rosenbrock beachtete das Ausgrabungsgesetz vom 26. März 1914 und rief das Landesmuseum an. Den skeptisch lauschenden Wissenschaftlern teilte er den Fund des Backenzahnes, der Rippen und der Feuersteinmesser mit. Von der Lanze sagte er noch nichts. Die Koryphäen in Hannover lächelten und sprachen von »Karl-May-Geschichten«.

Trotzdem sandte Museumsdirektor Jacob-Friesen am nächsten Tage zwei archäologisch erfahrene Herren nach Verden. Sie begutachteten die Backenzähne und die Rippen. Im kleinen Studierzimmer zeigte der Rektor dann stolz den Speer. Die Herren waren erschüttert: Das war ein Fund von weltweiter Bedeutung. Nach langem Hin und Her war Rosenbrock bereit, den Speer auszuhändigen. Beide Herren versicherten dem Rektor mit Handschlag, das kostbare Stück nur dem Präparator der Technischen Hochschule zu geben, es jedoch nicht im Landesmuseum verschwinden zu lassen*).

In jener Stunde begann der siebenjährige Kampf des Rektors um den Speer. Nach einem Monat ungeduldigen Wartens erfuhr Rosenbrock vom Mergelgrubenbesitzer Werner, Professor Jacob-Friesen habe einen Brief geschrieben: »Als Eigentümer der Mergelgrube haben Sie das erste Verfügungsrecht, doch nach dem Ausgrabungsgesetz hat das Land Niedersachsen

*) Die Lanze lag leicht gebogen zwischen den Rippen. Unbeschädigt konnte sie nicht geborgen werden. Sieben einzelne Teile wurden nach Hannover gebracht. Dort wurden einige Stücke - angeblich aus konservatorischen Gründen - nochmals gebrochen, so daß der Speer jetzt in zehn Stücken aneinandergefügt präsentiert wird. in erster Linie die Befugnis, die Ablieferung der Funde zu verlangen.«

Rektor Rosenbrock war empört; der Verdener Stadtrat forderte den Speer unverzüglich zurück. Da keine Antwort eintraf, wurde das Bezirksverwaltungsgericht angerufen. Die Juristen gaben den Vorgang an den Kultusminister weiter. Dort ruhte die Akte ein Jahr. Der zivilcouragierte Rosenbrock verklagte schließlich den höchsten Kulturchef des Landes, den Kultusminister Voigt. Der Minister gab sofort einen Erlaß heraus, das Land sei an erster Stelle erwerbsberechtigt.

Die Verdener wandten sich darauf an die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät in Göttingen, die ein vieldeutiges Gutachten verfaßte. Es besagt, ein Kultusminister dürfe einen Erlaß erlassen; dabei sei allerdings nicht entschieden, ob der Speer nach Hannover oder nach Verden gehöre. Rechtsanwälte verhandelten mit dem Landeskonservator; und die Verdener Ratsherren berieten sich in Sondersitzungen. Der Rechtsstreit entwickelte sich zu einem kulturpolitischen Problem.

Der Landeskonservator, Professor Oskar Karpa, sah die tiefergehende Problematik: Vor hundert Jahren, als es noch keine Heimatmuseen gab, wurde in der Landeshauptstadt eine Zentralstelle, später Landesmuseum genannt, eingerichtet, die alle Funde im Lande konservierte, wissenschaftlich bearbeitete und der Nachwelt erhielt. Auf dieses Verdienst kann sich das Landesmuseum stets berufen.

Andererseits wurde der Sinn für heimatliche Kulturgeschichte in den ländlichen Bezirken wach. Es entstanden gute Heimatmuseen. Der Eifer dieser Institutionen und der Spender würde erlahmen, so sagte man sich im hannoverschen Ministerium, wenn die wichtigsten Funde automatisch nach Hannover kämen.

Rektor Rosenbrock zögerte nicht, mit zunehmender Verärgerung den Hannoveranern »Jagd nach Schauobjekten« vorzuwerfen. Verden wies auf seine pferdesportlichen Veranstaltungen hin. Die Pferdeliebhaber würden für den alten Speer großes Interesse zeigen.

Von vielen Seiten bedrängt, entschied der Kultusminister schließlich nach siebenjährigem Hin und Her, der Speer solle den Verdenern zurückgegeben werden. Landeskonservator Professor Karpa, Professor Nippold von der Universität Göttingen und Professor Wegewitz von der Universität Hamburg legten in einem Gutachten fest, wie die Verdener ihre Lanze künftig zu behandeln hätten. Die Professoren meinten, im Heimatmuseum müsse eine Panzertür angebracht und eine Nische ausgehauen werden. Die Nische sei gut zu beleuchten und noch besser zu ventilieren. Die Lanze müsse ständig eine Temperatur von 12 bis 14 Grad genießen. Sie sei mit einem schlagsicheren Glas zu schützen und hinter Stahlplatten mit einbruchssicherem Schloß aufzubewahren.

Die Verdener streben einen Kompromiß an. Sie wollen den kostbaren Speer in eine Vitrine hängen, den Eingang zum Ausstellungsraum mit einer Eisentür versehen und die Fenster vergittern.

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