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Die letzte Reise

In einer abgelegenen Bucht vor Panama erforschen Unterwasserarchäologen das wohl älteste Wrack, das je in der Neuen Welt gefunden wurde. Es gibt Indizien, dass dies die »Vizcaína« des Christoph Columbus gewesen sein könnte. Sie sank auf seiner vierten Reise, bei der er seine Ehre retten wollte - und die in einer Tragödie endete. Von Klaus Brinkbäumer und Clemens Höges
aus DER SPIEGEL 25/2004

AM LETZTEN TAG DES APRIL 1503 VERLIESSEN WIR VERAGUA MIT DREI SCHIFFEN, UNSER ZIEL WAR ES, DIE RÜCKREISE NACH KASTILIEN ZU SCHAFFEN. UND DA DIE SCHIFFE VOLLKOMMEN DURCHLÖCHERT UND ZERFRESSEN VOM SCHIFFSBOHRWURM WAREN, KONNTEN WIR SIE NICHT ÜBER WASSER HALTEN. NACH 20 MEILEN LIESSEN WIR EINES ZURÜCK, DIE ANDEREN BEIDEN BLIEBEN UNS, WAREN ABER BALD IN EINEM SCHLIMMEREN ZUSTAND ALS DAS AUFGEGEBENE, SO DASS DIE MANNSCHAFTEN MIT DEN PUMPEN UND KESSELN UND GEFÄSSEN ES NICHT SCHAFFTEN, DAS WASSER, DAS DURCH DIE WURMLÖCHER EINDRANG, HERAUSZUHALTEN.

AUS EINEM BERICHT DES COLUMBUS-GETREUEN DIEGO MÉNDEZ

James Norris fährt die wilde Küste Panamas entlang, immer weiter nach Osten, auf der Suche nach seiner Zukunft. Norris ist ein braun gebrannter Kerl mit langen blonden Haaren, 50 Jahre alt, er trägt eine Reebok-Mütze und einen Ohrring und auf dem Oberarm eine Tätowierung: Meerjungfrau vor Sonnenaufgang. Er kommt aus Alabama, er war früher Animateur in Ferienclubs. Panama, das heißt in diesem Sommer 1996 Freiheit für ihn - und die schönsten Riffe der Welt.

Der Amerikaner will eine Tauchbasis aufmachen, und es gibt großartige Buchten hier, es ist nur alles so verdammt weit weg von der Zivilisation. Wie sollen die Taucher hierher kommen, die Touristen, ohne die eine Tauchbasis leider nicht funktioniert? Von Panama City braucht man mit dem Auto anderthalb Stunden bis nach Portobelo. Von Portobelo braucht man etwa eine Stunde, bis man in Nombre de Dios ist und damit in der Dritten Welt.

Andererseits: Das Land ist billig hier. Als James Norris anfängt mit seiner Tauchbasis bei Nombre de Dios, macht er das, was jeder Gründer einer Tauchbasis macht: Er fragt die Fischer der Gegend, wo die meisten Fische sind. Es ist eine dieser klassischen Taucherregeln: Fische sammeln sich an Riffen und Wracks, also dort, wohin auch die Taucher wollen. Die Fischer nennen James Norris fünf, sechs Stellen in der Bucht, Norris nimmt Schnorchel und Flossen und erkundet die Gegend.

Er sieht es, als er direkt darüber ist: Das Wrack ist sehr alt, das sieht er sofort. Es ist überwachsen, es gibt Kanonen, es ist ein Haufen in seichtem Wasser, mehr will James Norris aber nicht wissen, er will tauchen und nicht forschen.

Doch dann erzählt James Norris seinem Sohn Johnny, was er gesehen hat. Und

Johnny plaudert die Geschichte aus, er erzählt sie auch einer Geschäftsfrau aus Portobelo, Nilda Vázquez, und einem amerikanischen Schatztaucher, Warren White. Sie suchen die Küste nach lohnenden Wracks ab. Johnny erzählt den beiden, dass sein Vater in der Bucht von Nombre de Dios ein Schiff gefunden habe.

Es ist ein verdammt altes Schiff, sagt Johnny.

Dies ist die erste Version der Entdeckung des Wracks. Die Nachricht spricht sich etwas später herum, landet auf obskuren Internet-Seiten, Agenturen transportieren sie weiter - aber dann gerät sie wieder in Vergessenheit. Weil Nombre de Dios am Ende der Welt liegt, weil Panama ein Entwicklungsland ist und andere Sorgen hat, weil also niemand hergeht und dieses Wrack wissenschaftlich erforscht.

Doch seit Anfang vergangenen Jahres untersuchen Experten, zusammengebracht von SPIEGEL und SPIEGEL TV, den Fund in der Bucht von Nombre de Dios. Die weltweit renommiertesten Unterwasserarchäologen, von der Texas A&M University, sind dabei, Columbus-Experten der Universität Sevilla, ein Spezialist für Altersbestimmungen der Universität Kiel, der Chef-Archäologe der Regierung von Panama. Und es gibt Indizien dafür, dass dieses Wrack die Karavelle »Vizcaína« sein könnte - ein Schiff von Christoph Columbus.

Die »Vizcaína« sank auf der vierten Expedition des Entdeckers der Neuen Welt, auf seiner letzten Reise, bei der Christoph Columbus verzweifelt versuchte, seine Ehre zu retten, und die in einer Tragödie endete. Bei der er mit Indianern kämpfte und Meuterern und an deren Ende er sich nur noch zum Sterben nach Spanien retten konnte.

Damals muss er sich gefühlt haben wie von Gott verlassen, von seinem Gott, denn es waren höllische Zeiten für ihn: Columbus war krank, fast blind, seine Matrosen, junge, billige Burschen, hassten ihn, und seine Schiffe zerfielen ihm unter den Füßen, Tausende Meilen von Spanien entfernt.

Der Fall Christoph Columbus ist eine wilde, eine verwegene, eine grausame Geschichte, die von Phantasie handelt und zugleich von Kleingeistigkeit und grotesken Fehlern, vom größten vorstellbaren Triumph und von den Erniedrigungen und Niederlagen danach, von Liebe und zugleich vom Völkermord an den Indianern. Sie ist nicht zu Ende erzählt. Bis heute mussten ein Logbuch, das im Original nicht erhalten ist, Briefe und Gerichtsunterlagen diese Geschichte erzählen. Eine Menge Rätsel sind geblieben, ein Wrack zum Beispiel gab es nicht.

PANAMA, JUNI 1998

Die zweite Geschichte von der Entdeckung des Wracks handelt von Warren White, dem amerikanischen Schatztaucher, und in dieser Geschichte spielt James Norris nicht mit.

»James wer?«, fragt Warren White, dessen Version ganz anders geht: Es ist Sommer 1998, es ist einer dieser sonnigen Nachmittage vor der Küste Panamas, die vor Jahren dazu geführt hatten, dass der Schatzsucher Warren White sesshaft wurde und hier blieb. Es ist schon ziemlich spät, kurz vor vier, das Wasser ist nicht mehr klar, sie haben nur noch zwei Stunden Licht auf der »Golden Venture«, dem Schnellboot mit dem Kran, der Kanonen aus dem Wasser heben kann. Und Anker. Und Gold. Was man so findet in den Meeren der Welt.

Es ist also zu spät, um heute noch nach einem Wrack zu suchen. Es ist aber ein bisschen zu früh für das erste Bier. Die »Golden Venture« liegt in der Bucht von Playa Damas, vor dem Strand von Nombre de Dios. »Dort hinten ist ein Riff«, sagt Wesley, Warren Whites Sohn, 22 Jahre alt an diesem Sommertag. Wesley sagt: »Lass uns gucken, ob wir ein paar Hummer finden.«

Warum nicht? »Okay«, sagt Warren White. Badehose, Maske, Schnorchel,

Flossen, mehr brauchen Vater und Sohn nicht. Und dann suchen sie den Grund nach Hummern ab, sie lassen sich treiben, hin und wieder machen sie einen Schlag mit den Flossen, das Wasser ist 20 Grad warm.

Warren White sieht den Haufen im Sand. Er sieht zwei kleine Kanonen dort unten im Sand. Er sieht die Anker. Er sieht die wuchtige Bombarde, diese Kanone, mit der Ende des 15. Jahrhunderts fette, 20 Kilogramm wiegende Steinkugeln verschossen wurden.

Warren White ist ein schwerer Mann mit sehr vielen Sommersprossen auf Armen und Beinen. Er trägt eine beigefarbene kurze Hose und eine mächtige Goldkette mit einem Anker und eine Brille, er trinkt Diet Coke, er schwitzt.

Warren White, Jahrgang 1947, kommt aus Miami, Florida. Sein Vater war Kapitän auf Segelschiffen, sein Großvater war Schiffbauer. Warren White ist ein Typ, der an der See und mit der See groß wurde. Seine ersten Wracks half Warren White zu heben, als er 13 Jahre alt war, 1960 war das, der Hurrikan »Donna« hatte die Florida Keys verwüstet und mehr als 150 Boote und Schiffe versenkt. »Kein schlechtes Geschäft«, sagt Warren White.

Später zog er auf seine Yacht, die »Makado«, 18 Meter lang, ein Haus auf dem Meer.

Christoph Columbus, sagt Warren White, habe ihn schon fasziniert, als er ein kleiner Junge war. Er sagt: »Viermal ist er losgefahren und viermal zurückgekehrt, fast ohne Instrumente, was für ein Seemann!« Und wenn White mit seinem Bruder Jack beim Whiskey saß, sagten sie oft: »Eines seiner Schiffe müsste man finden.«

Columbus schrieb, die »Vizcaína« habe er in oder bei Portobelo zurückgelassen, und Hunderte Taucher waren dort.

Nichts.

Warren White glaubt, dass Columbus eben gerade nicht verraten wollte, wo die Wracks lagen. Er sagt: »Columbus war sehr misstrauisch; ein Mann, der seine eigene Mannschaft im Unklaren darüber ließ, wo sie sich gerade befand, der Karten und Aufzeichnungen einsammelte, damit er die Kontrolle behielt, der will auch das Wissen über Wrackstellen für sich allein behalten. Die 'Vizcaína' gehörte nicht der Krone, sie gehörte Columbus, an Bord waren Kanonen. Warum sollte irgendeiner

der vielen Kapitäne, die Geld aus seiner Entdeckung machen wollten, auch noch auf die zurückgelassene 'Vizcaína' stoßen?«

Das ist ein neuer Ansatz. All die Expeditionen, die 1992, zum 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas, ausgerüstet wurden, um endlich ein Wrack des Columbus zu finden, bauten auf Textanalysen. Was hat Columbus geschrieben, was schrieb sein Sohn Fernando, was steht in den Akten der Gerichte?

Warren White ist Seemann und Praktiker, er kennt die Küste Panamas. Also? »Columbus kannte die Bucht von Nombre de Dios, er wusste, dass dort Platz für schwierige Manöver ist«, sagt Warren White, »Seeleute kehren gern dahin zurück, wo sie schon einmal waren.«

An jenem Junitag schnorcheln Warren und Wesley White noch ein wenig über dem Wrack herum, und sie übernachten in der Bucht von Nombre de Dios. Er sei von Anfang an sicher gewesen, dass dieses Wrack die »Vizcaína« des Christoph Columbus sei, sagt Warren White, denn alles passe zur Geschichte der letzten Tage der »Vizcaína": Da sind viele Kanonen, viel zu viele für ein Schiff dieser Größe - aber die »Vizcaína« hatte Kanonen anderer Schiffe geladen. Da sind die Anker, die noch so liegen wie damals, quer über Deck, dieses Schiff lief nicht auf ein Riff, es sank langsam.

Er hat keinen eindeutigen Beweis, sagt Warren White, eine Schiffsglocke oder ein Namensschild gebe es nicht. Aber er weiß, dass dieses Wrack alt ist, das sieht einer wie er, ungefähr 500 Jahre alt, das erkennt man an den Kanonen. Und er weiß, dass im Umkreis von 75 Kilometern vor ungefähr 500 Jahren kein zweites Schiff gesunken ist, zumindest wurde niemals ein anderes gemeldet.

Nur die »Vizcaína«, die Columbus im April 1503 zurücklassen musste.

Neun Schiffe verlor Columbus auf seinen vier Reisen in die Neue Welt, keines wurde bisher gefunden.

Historiker wissen, dass die »Santa María«, das Flaggschiff der ersten Reise, zerstört wurde: In einer ruhigen Nacht, als die Mannschaft und der Admiral der Meere schliefen, stand ein Schiffsjunge am Ruder, und die »Santa María« trieb vor der Insel Hispaniola, auf der heute die Staaten Haiti und die Dominikanische Republik liegen, sanft dahin. Und dann lief sie auf eine Sandbank; aus ihren Planken ließ Columbus die erste Festung in der Neuen Welt bauen, La Navidad, auf Deutsch: Weihnachten. Von dem Fort fanden sich Spuren, von dem Rumpf der »Santa María« fand sich nichts mehr.

Und die Archäologen wissen, dass Columbus auf seiner letzten Reise die »Gallega« im Kampf mit Indianern am Río Belén verlor, im Norden des heutigen Panama, etwa 200 Kilometer westlich von Nombre de Dios. Monatelang suchten die Forscher der Texas A&M University dort nach der »Gallega«, sie gruben den Fluss um und irgendwann die halbe Bucht von Belén, aber sie fanden nichts.

Weil kein Columbus-Wrack bisher gefunden wurde, weiß die Fachwelt wenig darüber, wie diese Schiffe aussahen. Gemälde gibt es, aber die entstanden Jahrzehnte später, und die Schiffe auf diesen Gemälden entstanden deshalb nach der Phantasie der Künstler. Nachbauten gibt es, aber die sind so, wie sich Seeleute im 20. Jahrhundert Schiffe aus dem 15. Jahrhundert vorstellen. Es gibt keine historischen Baupläne, keine verlässlichen Beschreibungen, nur das, was sich Wissenschaftler aus versprengten Informationen zusammenreimten.

Bekannt ist, dass die »Santa María« ein schwerfälliger Pott war, Typ »Nao«, wenig geeignet für Reisen ins Unbekannte mit wechselnden Winden. Bekannt ist, dass Columbus ansonsten Karavellen segelte, Schiffe waren das mit einem Großmast und zwei oder drei weiteren kleineren Masten, Schiffe, die an Bug und Heck scharf hochgezogen waren, klein, wendig, flink.

Eng war es auf diesen Karavellen. Es wurde verdammt eng, wenn 30 bis 50 Männer ein Jahr lang auf einem ungefähr 20 Meter langen Kahn hausten, ohne Klo und ohne Küche. Und selbst der Admiral der Meere hatte oft keine eigene Kajüte - der Admiral der Meere schlief hinten unterm Achterdeck mit den anderen.

Dies also weiß man, ansonsten ist die Seefahrt der Entdeckerzeit ein großes Rätsel. »Wir wissen mehr über griechische oder römische Schiffe als über die Schiffe der Entdecker«, sagt Filipe Castro, Unterwasserarchäologe der Texas A&M University. Wie waren diese Schiffe gebaut? Wie waren sie bewaffnet? Wie waren sie beladen, wie wohnte, wie aß, wie schlief die Mannschaft? Wie also lebte Christoph Columbus, während er unterwegs war, um den Seeweg nach Indien zu finden?

Wracks sind Zeitkapseln. Wracks konservieren Lebensweisen, Bräuche, Epochen, und manchmal frieren sie Katastrophen gleichsam ein. Und nun gibt es dieses Wrack. Die »Vizcaína«? Das weiß noch keiner, das kann erst nach einer Bergung nachgewiesen werden. Eine Karavelle aus der Entdeckerzeit? Sehr wahrscheinlich. Eine Sensation? Unbedingt.

Dieses Wrack wird die Wissenschaftler in das Jahrhundert der großen Entdeckungen transportieren, in jenes Jahrhundert, in dem die Welt zu werden begann, wie sie heute ist, in dem die Europäer die mittelalterliche Angst vor unbekannten Schrecken verloren, in dem sie anfingen, Wissen, Erfahrungen und Technik mehr zu trauen als dem Weltbild der Kirche.

Warren White hat die »Vizcaína« sogar gemalt, sie ist leer und verlassen auf dem

Bild, ohne Segel, ohne Männer, zwei Anker liegen vorn am Bug, gewaltige Anker, von Reling zu Reling. Drei Masten ragen in den Himmel. Klein ist das Schiff, das Wasser kommt von unten durch die Ritzen. Man sieht die Inseln vor der Bucht, die »Vizcaína« sinkt, war es so wie auf diesem Bild?

»Natürlich war es so, ich habe es ja so gemalt, wie das Wrack dort unten liegt«, sagt Warren White. Dies ist die zweite Geschichte von der Entdeckung.

Am Abend jenes Sommertags 1998 isst Warren White Hummer. Die Viecher saßen auf den Ankern des Wracks, sie saßen da wie Trophäen.

SEVILLA, 1502

Columbus nennt die vierte Reise »El Alto Viaje«, die »Hohe Reise«. Es soll seine letzte Reise werden.

Dreimal war er zuvor in Amerika.

1492 hat er die Neue Welt entdeckt, angefangen mit einer kleinen Insel der Bahamas. Nur drei Schiffe hatten die Spanier ihm damals anvertraut, aber nach seiner Heimkehr feierten sie ihn. Es war der Moment seines größten Sieges, Columbus wurde reich, denn er war nun Vizekönig und Gouverneur, und ihm wurden riesige Anteile aller Reichtümer aus den entdeckten Ländern versprochen. Aber er wollte nicht seinen Triumph genießen, er wollte erneut aufbrechen, und er versprach seiner Königin und seinem König Gold. Viel Gold. Aus jenen Ländern, die er für Indien hielt.

Zur zweiten Reise brach er 1493 auf mit einer Flotte von 17 Schiffen und mit über 1500 Leuten. Die zweite Reise, da war Christoph Columbus auf dem Zenit seines Ruhms und seines Könnens - aber er scheiterte, denn seine Leute meuterten, und die Indianer, die er nach Spanien bringen wollte, starben im Bauch seiner Schiffe, und das Gold, das er finden wollte, gab es nicht, jedenfalls nicht dort, wo er danach suchte. Marco Polo hatte von einem Indien erzählt, das wie aus Gold gemacht schien, doch alles, was Columbus diesmal fand, waren Kokosnüsse, Fische und Sand.

Er brach ein drittes Mal auf und kehrte in Ketten zurück: Der neue Gouverneur von Hispaniola ließ den Mann, der diese Insel als erster Europäer angelaufen hatte, gefangen nehmen und nach Spanien zurückbringen. Und dort saß der Entdecker Amerikas dann auf dem Trockenen, entrechtet und entehrt.

Deshalb will er nun, 1502, diese vierte Reise, die Hohe Reise. Sie soll seine Ehre retten und den Beweis erbringen für alles, was ihm wichtig ist. Dafür, dass er, Christoph Columbus, ein Visionär, ein großer Admiral, ein Staatsmann ist. Dafür, dass er tatsächlich Indien gefunden hat und dass es dort Gold gibt; und einen Durchbruch zwischen Pazifik und Atlantik will er finden, von Kuba geradewegs nach China, wie Columbus hofft, ein wenig desorientiert fährt er durch die Gegend.

Am 26. Februar 1502 bittet er Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien um eine Flotte, bereits am 14. März genehmigt das Königshaus die Expedition. Im Hafen von Sevilla erhält er vier Karavellen. Er ist jetzt 50 Jahre alt.

Columbus und sein kleiner Sohn Fernando, damals 13 und zum ersten Mal dabei, segeln auf dem größten, dem 70 Tonnen schweren Flaggschiff, das der Admiral »La Capitana« nennt. Zur Flotte gehören noch die »Gallega« und die »Santiago de Palos«, von Columbus »Bermuda« genannt. Und zur Flotte gehört die »Vizcaína«.

Die »Vizcaína« soll drei Masten haben und eine Kapazität von rund 50 Tonnen; die »Vizcaína« gehört Juan de Orquiva, einem so genannten Vollbürger von Guetaria, der sie später an Columbus verkauft. Die »Vizcaína« kostet im Monat 42 000 Maravedís Charter (umgerechnet heute etwa 5600 US-Dollar), und sie wird von Bartolomeo Fiesci befehligt, einem Freund des Admirals, denn Fiesci stammt aus Genua, wie Columbus wahrscheinlich auch. An Bord der »Vizcaína« sind ein Bootsmann, acht Seeleute, zehn Schiffsjungen, der Kaplan Fray Alejandro und drei Privatleute. Bootsführer ist Juan Pérez, hin und wieder wird der Admiral von der »Capitana« herüberkommen und den Zustand der »Vizcaína« kontrollieren.

Dann brechen sie auf. Es ist der 3. April 1502. Sie halten noch einmal im Hafen von Casa de Viejo und streichen alle vier Schiffe zum Schutz mit Pech an. Es wird ihnen nichts nützen.

Keines der vier Schiffe wird jemals nach Spanien zurückkehren.

NOMBRE DE DIOS, JANUAR 2003

Es leben nicht viele Menschen in Nombre de Dios, 3500 vielleicht, die genaue Zahl kennt niemand. Eine weiße Kirche gibt es in Nombre de Dios, Symbol und Relikt des Zeitalters der Kolonialmächte, und es gibt acht Bars, aber keine Gäste. Die Plastikstühle stehen herum, die Besitzer trinken ihre Biere selbst.

Nombre de Dios ist ein Dorf am Ende der Dritten Welt, an der Karibikseite Panamas, 15 Meilen östlich von Portobelo. Es ist neun Uhr am Freitag, dem 24. Januar 2003, als sich ein weißes Motorboot dem Dorf

nähert, das in dieser lang gezogenen Bucht namens Playa Damas liegt. »Wo ist es?«, fragt einer der Männer an Bord.

»Hier ist es«, sagt der Taucher Jesse Allan und stoppt die Motoren. Jesse Allan, Jahrgang 1952, hat blonde Haare, einen Schnauzbart und einen gewaltigen Körper, gewaltige Oberarme vor allem, weil Jesse 24 Jahre lang bei der U. S. Army war, sein Spezialgebiet war die Befreiung von Geiseln. Er war zweimal in Vietnam, er war in Beirut, in Iran, und als Jesse Allan dann weitergeschickt werden sollte, diesmal nach Afrika, da sagte er seinen Vorgesetzten, er habe genug. Genug vom Fallschirmspringen, vom Nahkampf, genug von den Leichen, genug Geld für ein Leben in Panama. »Amerika war ein fremdes Land für mich«, sagt er, »Panama war Heimat geworden.«

Panama, Verbindung zwischen Süd- und Nordamerika, hat 2,9 Millionen Einwohner, ist 77 000 Quadratkilometer groß, etwa so groß wie Österreich. Panama hat 2000 Kilometer Küste, das Karibische Meer an der einen und den Pazifischen Ozean an der anderen Seite. In früheren Jahrhunderten galt der Río Chagres als Verbindung zwischen den Meeren, aber da mussten die Mannschaften immer noch viele Kilometer zu Fuß durch den Dschungel. 1914 wurde der 81 Kilometer lange Panamakanal eröffnet. Am 31. Dezember 1999 übergaben die Amerikaner den Kanal an den Staat Panama, die amerikanischen Soldaten zogen ab. Und Jesse Allan eröffnete eine Tauchbasis in der Nähe von Portobelo, das »Twin Oceans Dive Center«.

Und nun soll die »Vizcaína« des Christoph Columbus vor seiner Haustür liegen? Jesse Allan hat die Gerüchte gehört, aber er glaubt nicht daran. Er weiß, dass Columbus 1504 in seinem Brief an das Königshaus schrieb, er habe die »Vizcaína« in oder bei Portobelo zurückgelassen. Columbus schrieb:

Ich brach in der Osternacht auf, im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit, mit Schiffen, die verrottet waren, von Würmern zerfressen, voller Löcher. Dort in Belén musste ich eines mit vielen Gegenständen zurücklassen; in Portobelo tat ich das Gleiche mit einem anderen.

»Nombre de Dios ist heute eine Stunde von Portobelo entfernt«, sagt Jesse Allan, »aber damals war es eine Tagesreise. Man schrieb nicht 'bei Portobelo', wenn es um eine Bucht ging, die 15 Meilen entfernt ist.«

Auch dann nicht, wenn jene Bucht damals noch keinen Namen hatte, jedenfalls keinen, mit dem Königin Isabella von Spanien etwas hätte anfangen können? Wenn man das Schiff und die Bucht nicht mehr wichtig fand, weil man gerade auf Jamaika

hockte, ohne Schiff und mit ganz anderen Sorgen? Wenn man Fieber und Malaria hatte? Oder wenn man die Lage des Schiffes nicht verraten wollte? Auch nicht, obwohl die Historikerin Consuelo Varela, Columbus-Expertin aus Sevilla, sagt, dass Portobelo damals der Begriff für die ganze Region gewesen sein dürfte?

Jesse Allan und die anderen Taucher reiben in der Bucht von Nombre de Dios ihre Masken mit einem Tropfen Shampoo ein, um sie vor dem Beschlagen zu schützen, und dann ziehen sie ihre Anzüge an und die Handschuhe, die Bleigurte und die Westen, am Schluss die Masken und die Flossen. Sie sehen sich an und geben sich das Okay-Zeichen, mit Daumen und Zeigefinger formen sie einen Kreis.

Der deutsche Bergungsunternehmer Klaus Keppler ist dabei. Keppler verdient sein Geld, indem er gesunkene Schwimmkräne oder Yachten hebt, aber seine Leidenschaft sind diese großen Geschichten: die gesunkenen Schiffe des Piraten Henry Morgan etwa. Keppler ist einer dieser modernen Abenteurer, die viel Zeit und viel Geld in aberwitzig klingende Unternehmungen stecken.

Und dann steigen die Taucher ins Wasser. Es ist eher ruhig, die Wellen brechen weit draußen, aber die Strömung ist stark. Es ist nicht besonders klar, das liegt an der Strömung und am sandigen Untergrund. Es ist dennoch eine leichte Übung, denn kaum hat man die Luft aus der Tarierweste gelassen, kaum sinkt man hinab, ist man schon angekommen: Das Wrack liegt etwa sechs Meter unter der Oberfläche. Es liegt im Sand, unscheinbar. Es ist ein Haufen, grün überwuchert. Etwa zehn Meter lang und drei Meter breit ist der Haufen.

Wer an Wracks denkt, denkt meist an Gänge und Decks, durch die man tauchen kann, an Wände, an denen man entlanggleitet, zusammen mit Schwärmen von Fischen. Nun, das hier ist anders, auf den ersten Blick. Doch Tauchen ist kein Hochgeschwindigkeitssport, der erste Blick bedeutet nichts in dieser Welt.

Die Taucher beginnen diesen seltsamen grünen Haufen zu umkreisen. Sie nähern sich und entfernen sich wieder. Sie untersuchen, wie der Haufen liegt. Sie lassen die Hände über das Geröll gleiten, ganz langsam verstehen sie, was sie hier sehen.

Die oberste Schicht, die grüne Schicht, das sind die Ablagerungen, die es nun einmal gibt, die es geben muss, wenn ein Schiff seit 500 Jahren im Salzwasser liegt. Vorn, am Bug, sind die Anker, ineinander verhakt, große Anker sind das, für eine kleine Karavelle wären sie erstaunlich groß. Der Bug ist auf den Strand gerichtet, Richtung Südwest. Vermutlich bedeutet das, dass dieses Schiff damals, vor rund 500 Jahren, mit dem Bug in Richtung Strand verankert wurde und dann sank - es lief jedenfalls nicht auf eine Sandbank und nicht auf ein Riff, es hatte ja nur etwa zwei Meter Tiefgang.

Taucht man dann langsam von den Ankern in Richtung Heck, dann entdeckt man die Kanonen. Sie ragen aus dem grünen Haufen heraus, sie zeigen in alle Richtungen, 13 Falkonettas und 3 Mörser zählen die Taucher erst mal. Es sind unterschiedliche Kanonen, schwere und deutlich kleinere, und die Art, wie sie durcheinander liegen, könnte bedeuten, dass ein Teil von ihnen zur Ladung gehörte.

Es ist überliefert, dass Columbus zuerst die »Gallega« in Belén verlor und dass er vieles von der »Gallega« auf seine verbliebenen Schiffe verteilte.

Taucht man von den Kanonen aus weiter hinab, liegt man also flach auf dem Meeresboden, so sieht man unzählige Tonscherben, da liegen Kanonenkugeln aus Stein, große und kleine, da liegen Steine, wie sie damals als Ballast verwendet wurden.

Und wenn man dann mit der Hand über den Boden wedelt und den Sand aufwirbelt, dann sieht man die Bretter. Man sieht die langen Planken und, im 90-Grad-Winkel und mit runden Nägeln aus Holz angebracht, die schmalen Spanten, und sofort sieht man diese Kanäle und diese Löcher, die der Teredo navalis, der berüchtigte Schiffsbohrwurm, in den Rumpf gefressen hat.

Die Taucher bleiben zwei Stunden unten, dann tauchen sie auf und beginnen noch im Wasser zu diskutieren. »Das Ding ist alt, richtig alt«, sagt Klaus Keppler. Wie alt? »Das Holz ist nicht beschlagen, es gibt kein Metall da unten am Rumpf«, sagt Keppler.

Was das bedeuten kann, wissen alle hier oben auf dem Motorboot: Holzwürmer waren eines der größten Probleme der Spanier in der Karibik, denn Holzwürmer zerfraßen die Schiffe. Wegen der Würmer gab es 1508 einen Erlass des spanischen Königshauses, und nach diesem Erlass musste der Rumpf jedes Schiffes, das sich auf den Weg in die Neue Welt machte, von außen mit Metall beschlagen sein.

Ist dieses Wrack also älter, wurde dieses Schiff vor 1508 gebaut?

Am letzten Tag dieser ersten Expedition schnallt sich Klaus Keppler die Pressluftflasche auf den Rücken, er zieht sich die Handschuhe, die Maske, am Schluss die Flossen an, er greift sich sein Messer.

Keppler schneidet drei Stücke Holz aus dem Wrack und bringt sie nach oben, dann sammelt er noch ein paar Ballaststeine und Scherben ein. Und oben verpacken Keppler und das Team die Sachen in Zellophanfolie und dann in eine Kühlbox.

Die Kühlbox fahren sie zur Deutschen Botschaft in Panama City. Und nun gehen drei Holzstücke aus dem Wrack von Nombre de Dios auf eine Reise in die Alte Welt.

KIEL, SOMMER 2003

Das Wunderwerk steht in Raum 6, es hat 2,1 Millionen Euro gekostet. Die Wände von Raum 6 sind grau, er ist ungefähr 10 mal 25 Meter groß. Das Wunderwerk füllt den Raum zur Hälfte aus. Die Luftfeuchtigkeit hier drinnen muss 50 Prozent betragen und die Temperatur 21 Grad Celsius. Es gibt drei Notausgänge.

Das Wunderwerk ist grau wie Raum 6, es sieht aus wie ein Öltank mit seltsamen Rundungen. Überall auf dem Wunderwerk kleben kleine Blitze, es gibt Schilder: »Bei Alarm auf OFF drehen«. Drei Millionen Volt wirken in dem Wunderwerk, Teilchen fliegen anfangs mit 600 Kilometer pro Sekunde um die Kurve und am Ende mit 6000 Kilometer pro Sekunde.

Diese Maschine soll nun helfen, ein Geheimnis im Fall Christoph Columbus zu entschlüsseln; ein Stückchen Holz von dem Wrack vor Panama soll durch all die Apparate und am Ende vor allem durch den Teilchenbeschleuniger des Leibniz-Labors der Christian-Albrechts-Universität Kiel gejagt werden.

Hier regiert Professor Pieter Meiert Grootes, Jahrgang 1944, ein Physiker in Sandalen und blauen Socken, ein Mann mit weißem Haar und blauen Augen, eine Koryphäe. »Wir machen Altersbestimmungen, zum Beispiel von Holz, wir messen

pro Jahr 3000 Proben, und dazu kommen noch rund 2000 Qualitätskontrollen«, sagt Grootes.

Er findet das alles ganz einfach: »Man nennt das C14-Datierung«, sagt Grootes, es geht um radioaktiven Kohlenstoff, der in der Atmosphäre enthalten ist. Kohlenstoff hat normalerweise zwölf atomare Masseeinheiten, sechs Neutronen und sechs Protonen, aber es gibt auch Kerne, die haben acht Neutronen, die sind instabil, die zerfallen - C14. Das Ganze ist ein kernphysikalischer Prozess, alle 5730 Jahre verschwindet die Hälfte des C14 durch Zerfall.

Grootes sagt: »Wenn man also Vergleichswerte hat, Daten, Tabellen, dann kann man bei dieser Materialbestimmung vergleichen, wie viel C14 es noch gibt und wie viel C14 es ursprünglich einmal gegeben haben muss, und so kann man berechnen, wie viel Zeit vergangen ist.« Das alles klingt schon theoretisch kompliziert, im wirklichen Leben ist es allerdings noch viel komplizierter. Holz wird im Labor in Grafit verwandelt, und das Grafit wird in einen kleinen Tragebehälter gepresst und kommt in das Wunderwerk in Raum 6, den Teilchenbeschleuniger, das Massenspektrometer. Das Material wird mit Cäsiumionen bombardiert. Dadurch werden negative Kohlenstoffionen gebildet, dieser Ionen-Strahl wird durch Magnetfelder geschickt und beschleunigt.

Grootes' Leute haben zwei Holzproben aus Panama Namen gegeben: »KIA 20 151« und »KIA 20 152«. Und die Ergebnisse nach fünf Wochen angewandter Chemie und Physik lauten: KIA 20 151 stammt aus der Zeit von 1445 bis 1472. Und KIA 20 152 aus der Zeit von 1449 bis 1489.

Die jüngere Probe, so Grootes, deute logischerweise eher auf das Jahr hin, in dem der Baum gefällt worden sei, und dann folgert er, mit einer Wahrscheinlichkeit von 68,3 Prozent: »Das Holz kommt aus dem Zeitraum zwischen 1469 und 1486.«

Die »Vizcaína« sank 1503.

Grootes sagt: »Es ist ein Hinweis darauf, dass das Schiff Columbus gehört haben kann. Es beweist jedenfalls nicht, dass es ihm nicht gehört haben kann.«

SANTO DOMINGO, FRÜHSOMMER 1502

In Cádiz sind Vater und Sohn an Bord gegangen, auch Columbus' Bruder Bartolomeo ist dabei, doch sie mussten drei Wochen lang warten, der Wind war schwach, und wenn er mal blies, dann von vorn.

Aber dann kam der Nordwind. Am 11. Mai ging es los, zunächst nach Las Palmas, am 25. Mai waren sie vor Gran Canaria, und dann stellten sie einen Rekord auf: über den Ozean in 21 Tagen. Am 15. Juni ließen sie die Anker vor Martinique fallen, luden Wasser und Vorräte, die Einheimischen sahen zu, wachsam, abwartend, tatenlos.

Und jetzt, im Juni 1502, ist er wieder hier, wieder daheim, Santo Domingo auf Hispaniola ist ja beinahe so etwas wie Heimat für den heimatlosen Christoph Columbus. Es gibt eine Kirche in Santo Domingo, es gibt die Galgen, die man immer gebrauchen kann als Gouverneur, es gibt das Gefängnis, in dem Columbus selbst schon mal saß, es gibt ein paar Holzhütten. Santo Domingo wird eine Stadt, das ist keine Frage mehr, und diese hier wird halten, sie wird blühen.

Es gibt allerdings ein Problem.

Andere wollen ebenfalls reich werden in der Neuen Welt, und sie wollen reich werden, ohne die Prozente an Columbus abgeben zu müssen, die ihm in einem Vertrag mit der Königin einst garantiert wurden. Sie hassen den Entdecker, spotten über ihn, intrigieren gegen ihn.

Ein Gegner ist nun Herrscher dieser Stadt: Gouverneur Nicolás de Ovando, eingesetzt von der Krone.

Columbus darf die Mündung des Río Ozama, den neuen Hafen, nicht anlaufen, de Ovando verbietet es. Columbus ahnt jedoch, dass ein Hurrikan kommt. Er weiß, dass de Ovando eine Flotte nach Spanien schicken will, 30 stolze Schiffe. Eines der Schiffe soll Columbus' gesamtes Privatvermögen aus der Neuen in die Alte Welt bringen. Wenig Gold ist das nicht.

Darum schickt er Pedro de Terreros an Land, den Kapitän der »Gallega«, einen seiner Haudegen, einen Mann, der alle vier Reisen mitgemacht hat. De Terreros warnt de Ovando: Colu mbus glaube, ein Hurrikan sei auf dem Weg.

Doch de Ovando ignoriert die Warnung, verspottet Columbus als »Wahrsager«. Die 30 Schiffe laufen aus, mit vollen Segeln, der Wind ist satt und kräftig, die Flaggen Kastiliens wehen vor Hispaniola.

Columbus schreibt:

Welcher Mensch ... wäre nicht an Verzweiflung gestorben? Denn in solch einem Wetter, auf der Suche nach Zuflucht für mich selbst, den Sohn, den Bruder und meine Freunde, wurden mir das Land und der Hafen verboten, die ich selbst, Gottes Wille gehorchend und Blut schwitzend, für Spanien gewonnen habe.

Dann kommt der Hurrikan. Columbus schreibt:

Der Sturm war schrecklich, und in jener Nacht wurden die Schiffe von mir getrennt. Jedes einzelne wurde schlimm zugerichtet und erwartete nichts als den sicheren Tod; jedes einzelne war sicher, dass die anderen verloren waren.

Es sinken 20 Sch iffe der Flotte des Gouverneurs mit Mann und Maus, über 500 Spanier ertrinken. Und nur ein Schiff kommt nach Spanien durch, es ist die »Aguja«, die den Schatz des Christoph Columbus an Bord hat, 4000 Pesos in Gold, ein Vermögen.

KARIBIK, AUGUST 1502

Wer einmal einen Sturm auf See erlebt hat, will keinen zweiten erleben. Und jetzt, im August 1502, ist jeder Mann über Bord automatisch ein toter Mann. Man geht leicht über Bord in dieser Zeit. Es gibt keine

griffigen Spezialschuhe, keine Suchscheinwerfer und keine Relingsdrähte, sondern nur glitschige Decksplanken. Und die Schiffe rollen.

Während seine Schätze auf dem Weg nach Spanien sind, will Columbus nun weiter nach Westen, von Hispaniola aus dahin, wo er Indien und China vermutet, aber es folgt Sturm auf Sturm. Er schreibt:

Es waren ein endloser Regen, endloses Blitzen und Donnern. Es schien das Ende der Welt zu sein ... 88 Tage lang sah ich weder die Sonne noch die Sterne ... Die Schiffe waren dem Wetter ausgeliefert und gebeutelt, mit zerfetzten Segeln, Anker, Rigg, Kabel, Boote und große Teile der Ladung waren verloren; die Leute, erschöpft und niedergeschlagen, schworen ständig, gut zu sein, auf Pilgerfahrten zu gehen; sie hörten einander die Beichte ab ... Die Leiden meines Sohnes quälten meine Seele; ich sah ihn, im zarten Alter von 13 Jahren, so verzweifelt, und das für lange Zeit. Ich selbst war krank und war so viele Male dem Tode nahe, aber ich kommandierte von einer kleinen Hütte aus, die die Leute für mich auf dem Achterdeck aufgebaut hatten.

Es gibt keine trockene Ecke auf diesen Schiffen, es gibt keine Kajüten für die Mannschaft. Die Seeleute schlafen in jenen Ecken, die sie finden können, auf Taurollen, zwischen den Vorräten, überall. Sie schlafen in Wasserlachen.

Aber dann: Land, ein Kap. Blauer Himmel. Sie haben es überlebt, die vier Schiffe haben es ausgehalten.

Gracias Dios, Gott sei Dank - so nennt Columbus das Kap. Und er nimmt Kurs auf jenes Gebiet, das lange Veragua und 500 Jahre später Panama heißen wird.

PORTOBELO, NOVEMBER 1502

Am 2. November laufen die vier Schiffe in eine tiefe, an drei Seiten von Bergen und Regenwäldern geschützte Bucht ein. Weit geschwungen ist dieser Ort, »sehr groß, wunderschön, reich bevölkert und umgeben von kultiviertem Land«, wird später Fernando schreiben, »hübsch wie ein Gemälde«. Eine schöne Bucht, »Puerto Bello«, sagt Columbus.

Eine Woche später erreichen sie eine andere Bucht, die Columbus »Puerto de Bastimentos« nennt, »Hafen der Vorräte«. Kleine Inseln liegen draußen vor der Bucht, der Sandstrand hat die Form einer riesigen Sichel, dahinter liegt ein schmaler, mit Feldern bebauter Küstenstreifen.

Es ist die Bucht.

Jene Bucht, die ein anderer Entdecker namens Diego de Nicueza Jahre später »Nombre de Dios« taufen wird.

Aber jetzt, beim ersten Besuch, »fuhren wir nicht nach meinem freien Willen hinein«, wie Columbus notiert, »der Sturm und eine starke Strömung hielten uns für 14 Tage dort fest«. Dringende Reparaturen sind fällig. Die Karavellen leiden hier in der Karibik, das Holz wird morsch, Columbus sieht nach, lässt sich berichten: Die Schiffsbohrwürmer sind da, nichts hält sie auf. Sein Getreuer Diego Méndez schreibt:

Holzwürmer, groß und dick wie die Finger eines Mannes, hatten die dicksten Balken und Bohlen durchbohrt und morsch und brüchig gemacht. Am ärgsten war die »Vizcaína« mitgenommen. Ihre Planken glichen einem Sieb, und es war ein Wunder, dass sie nicht schon längst auf dem Meeresgrund lag.

Es rumort in der Mannschaft. Die Männer haben Angst. Columbus' Bruder Bartolomeo und Diego Méndez rechnen inzwischen mit einer Meuterei.

In dem Text »Ophir - Nach dem Bericht des Diego Méndez«, einer alten, aber doch heftig bearbeiteten Version, gibt es eine Stelle, wo Bartolomeo mit Méndez redet und gleichsam das Scheitern des Columbus prophezeit. So also könnte Bartolomeo gesprochen haben:

Wisst Ihr, was mein Bruder vor Antritt der ersten Fahrt versprochen hat? Schiffe voll Gold, Schiffe voll Perlen, Schiffe voll Spezereien. Was hat er gebracht? Wisst Ihr, was er vor Antritt der zweiten Fahrt versprach? Länder, die von Gold und Edelsteinen überfließen. Was hat er gefunden? Vor Antritt der dritten Fahrt hat er gelobt, das Festland, das reiche Indien zu entdecken. Das Festland? Auch das Festland fand Cristoforo nicht. Der Westweg? Kann man mit dem Westweg leere Kassen füllen? »Euer Dank muss Gold heißen.« Das waren die letzten Worte Ferdinands. Bezweifelt Ihr, dass der christlichste aller Könige die Schlinge zuziehen wird, die schon um den Hals meines Bruders liegt, wenn wir wieder ohne Gold heimkehren? ... Nur auf die vollen Bäuche der Schiffe, nur auf sie kommt es an.

Am 7. Dezember geraten sie in einen Orkan. Die Matrosen nehmen einander die Beichte ab, sie wollen nicht mehr überleben, sie wollen nur noch, dass es schnell zu Ende geht. »Die Schiffe waren nicht seetauglich und die Mannschaften tot oder krank«, schreibt Columbus. Donner und Blitz seien derart grausam gewesen, schreibt Fernando, »dass die Männer sich nicht mehr trauten, die Augen zu öffnen, denn es schien so, als würden die Schiffe sinken und die Himmel herunterkommen ... Niemals hatten die Männer eine halbe Stunde Pause, sie waren tagelang nass«.

Drei Tage später rast gar ein Tornado, eine Wassersäule, auf die vier Karavellen zu. Columbus zitiert das Johannesevangelium, die Mahnung im Sturm bei Kapernaum: »Ich bin's, fürchtet euch nicht!« Mit der Heiligen Schrift in der linken Hand und dem Schwert in der rechten steht er da, oben auf der »Capitana«, und mit dem Schwert malt er wie wahnsinnig ein Kreuz in den Himmel und einen Kreis um seine kleine Flotte; er muss aussehen wie eine Mischung aus Jesus Christus und Kapitän

Ahab, aber die Wassersäule verfehlt sie.

Schließlich erreicht er am 22. Dezember die Mündung des Río Chagres. Und endlich gibt es wieder mal Obst und frisches Wasser. 500 Jahre später werden hier die Schiffe liegen, die vom Atlantik zum Pazifik wollen, 500 Jahre später wird hier der Panamakanal beginnen.

Jetzt, in dieser Flussmündung, ist Columbus seinem Ziel tragisch nahe, und er ahnt es offenbar, denn einmal schreibt er sogar, dass das Ziel, die andere Seite, so liegen müsse »wie Pisa im Vergleich zu Venedig«, was beinahe passt. Aber er lässt auch diese Gelegenheit verstreichen.

Später macht sich sein Sohn Gedanken, warum der Vater scheitert. Er schreibt:

(Mein Vater) glaubte, dass die Straße da sein müsste, und sie war da. Sein Fehler war, dass er davon ausging, dass sie ein Kanal von See zu See sein müsse, und nicht davon, dass sie ein Landrücken oder ein Isthmus sein könnte, denn obwohl das Wort »Straße« ja entweder eine Land- oder eine Wasserstraße bedeuten kann, ging er fest von Letzterem aus.

Sie bleiben also einfach unten in der Bucht. Wären sie losmarschiert, hätten sie diesen anderen unbekannten Ozean gesehen, der 500 Jahre später Pazifik heißt.

BELÉN, JANUAR 1503

Die Spanier kommen von Osten, erreichen eine Stelle, an der sich eine weitere Flussmündung auftut. Am 9. Januar rutschen zuerst die »Capitana« und die »Vizcaína« über die Sandbank vor der Mündung, einen Tag später folgen die anderen beiden Schiffe. Und nun sehen die Spanier rechts die Hügel und den Dschungel, der Dschungel reicht bis hinunter zum Wasser. Und links sehen sie eine sehr große Fläche, Maisfelder, und 30 Hütten.

Die Einheimischen nennen diesen Fluss »Yebra«, Columbus nennt ihn »Río Belén«, »Belén« ist spanisch für »Bethlehem«. Seite an Seite liegen die vier Schiffe dann hinter der Sandbank in der Mündung; sehr sanft ist die Strömung, und der Himmel reißt auf, die Gewitter hören auf, und die Seeleute, so beschreibt es Diego Méndez, begrüßen die Sonne »wie eine totgeglaubte geliebte schöne Frau«. Wird also alles gut? Finden sie ihren Frieden in der Ferne?

Die Katastrophe von Belén beginnt mit einem Pfeilhagel beim ersten Landgang. Und in den folgenden Wochen gibt es Gemetzel und Goldsuche und eine gescheiterte Entführung: Die Spanier versuchen, den Indianerhäuptling Quibian gefangen zu nehmen, aber der entwischt und rächt sich. Die Trommeln dröhnen, die Indianer greifen immer wieder an, und Columbus hat einen Fehler gemacht. Er hat nicht an den Rückweg gedacht.

Denn der Regen lässt nach, der Wasserspiegel sinkt, und da ist diese Sandbank vor der Flussmündung: »Wir waren gefangen und ohne Hoffnung«, so Fernando. Der Río Belen wird zur Falle.

Sie kommen nicht raus hier, sie stecken fest mit Schiffen, die »aussehen wie Bienenwaben, durchsiebt vom Schiffsbohrwurm«, wie Fernando schreibt, sie werden »festgehalten durch die Gewalt des Meeres und des Windes, die den Sand in solcher Menge vor sich hertrieben und aufhäuften, dass davon die Mündung des Flusses versperrt wurde«, so Diego Méndez im Original seines Berichts.

Nach und nach können die Spanier drei Schiffe, deren Ballast sie herausgeräumt haben, über die Sandbank in Sicherheit ziehen. Die »Gallega« aber liegt noch in der Flussmündung, sie soll den Männern, die hier eine spanische Kolonie aufbauen sollen, als Festung dienen.

Ein schöner Plan, aber nun ist die Flotte auseinander gerissen, und die Indianer greifen die »Gallega« mit Speeren, Fackeln und Pfeilen an. Méndez gibt erst jene Hütten auf, die sie schnell gebaut hatten, das war es also mit der Kolonie, Méndez verliert sieben Männer, der Kampf dauert drei Stunden, »und unser Herr schenkte uns einen wunderbaren Sieg, uns, die wir so wenige gegen so viele waren«.

Und draußen vor der Bucht steht Columbus auf der »Capitana«, und es kommt zu einer der besonders seltsamen Szenen dieser Reise. Ist es schon der Beweis von Wahnvorstellungen? Von Schizophrenie? Oder einfach nur von Malaria? Columbus schreibt:

Ich schleppte mich zum höchsten Punkt des Schiffs und rief mit zitternder Stimme, mit schnell laufenden Tränen die Kriegsgötter Eurer Majestäten an ... Erschöpft und stöhnend schlief ich ein. Da hörte ich eine leidenschaftliche Stimme, und sie rief: »O wie dumm und wie langsam bist du, deinem Gott zu glauben und zu dienen, dem Gott aller Götter! Hat Er mehr für Mose und Seinen Diener David getan als für dich? Seit du geboren wurdest, hat Er dich in Seiner aufmerksamen Obhut gehabt ... Die Indien, die ein so reicher Teil der Welt sind, machte Er dir zu Eigen... Hat Er mehr für die Menschen Israels getan, als Er sie aus Ägypten holte?

Diese Stimme - ist es ein Engel, Gott höchstselbst? Sie endet mit den Worten:

Fürchte dich nicht; habe Vertrauen; all diese Kümmernisse sind auf Marmor und niemals ohne Grund geschrieben.

Nun ja, seine Männer, das ist überliefert, wundern sich. Und natürlich hört kein anderer die Stimme. Diego Méndez und die Seinen retten sich in einem Kanu an Bord der drei anderen Schiffe. Die »Gallega« bleibt zurück in der Bucht von Belén.

BELÉN, JANUAR 2003

Das Problem mit diesem verdammten Telefon ist, dass die Leute von Cable and Wireless immer einen Hubschrauber schicken müssen, wenn es kaputt ist. Es kommt vor, dass sich Kinder an die Satellitenschüssel hängen, es kommt allerdings öfter vor, dass Stürme das Telefon lahm legen. Darum ist es jetzt wieder kaputt. Seit zwei Jahren warten die Menschen von Belén schon auf den Mann von Cable and Wireless.

Der kommt nicht. Weil es zu weit ist.

Zum Arzt sind es acht Stunden. Per Boot. Im vorangegangenen Jahr ist wieder einer an einem Schlangenbiss gestorben, weil kein Arzt da war.

Belén, das sind heute: 45 Holzhütten auf Stelzen, die Stelzen schützen die

Hütten in der Regenzeit; eine Kirche; 300 Menschen; ein Kiosk, wo es gefrorene Mirinda gibt und Kartoffelchips, sonst nichts. Vielleicht wird es bald wieder Cola geben, aber dafür müsste das nächste Schiff natürlich Cola geladen haben. Belén ist ein Weg mit sehr vielen Schlaglöchern, ein Weg aus Steinen und Sand. Belén ist ein Schulgebäude, 59 Kinder sind es zurzeit, es gibt drei Fächer: Lesen, Rechnen und Geschichte. Belén ist Fischfang. Belén, das sind Kokosnüsse, es ist bloß nicht leicht, in einem Land Geld mit Kokosnüssen zu verdienen, in dem an jeder Straßenecke eine Kokospalme steht.

Vor 16 Jahren waren die Archäologen aus den USA hier. Der Wissenschaftler Donald Keith war dabei, ein dunkelhaariger Typ mit Vollbart, seine Nase ist sehr groß, er trägt gern offene Hemden und Halstücher und Sonnenbrille. Donald Keith weiß über die Schiffe der Entdecker, was man wissen kann, Bewunderer nennen ihn »The Commander«. Donald Keith ist einer dieser Männer, die seit Jahrzehnten davon träumen, ein Wrack des Columbus zu finden.

Aber er scheiterte. Es war ein langsames, ein quälendes Scheitern, so wie eine Niederlage durch Elfmeterschießen nach Verlängerung im Wiederholungsspiel.

Keith unterzeichnete in Panama City einen wunderbaren Vertrag, er durfte exklusiv graben und konservieren und analysieren, sieben Jahre lang. Er brachte die besten Kollegen her, die es gibt in dieser Branche. Keith holte auch seine Studenten her, sie zelteten und schliefen in Hütten, sie tauchten sechs Stunden am Tag. Keith bat Antonio Tourino hinzu, Geomorphologe an der University of Panama, und von Tourino wollte Keith wissen, ob sich das Flussbett des Río Belén möglicherweise verschoben habe; nein, Fels und Sand waren seit Jahrtausenden unverändert.

Sie muss hier irgendwo sein, aber Keith fand die »Gallega« nicht.

»Es gibt immer ganz wunderbare Theorien«, sagt Donald Keith, »und dann sieht die Praxis ganz anders aus.«

NOMBRE DE DIOS, APRIL 1503

Es regnet und stürmt, und die Männer pumpen tagsüber, und sie pumpen nachts; der Kommandeur, Christoph Columbus, versinkt im Fieber, in Halluzinationen.

Ein guter Seemann allerdings bleibt er.

Sie wollen alle nach Hause, und Columbus' Plan ist, so lange nach Osten die Küste entlangzurutschen, bis sie südlich von Santo Domingo sind, und erst dann will er nach Norden, anders geht es nicht.

Columbus hat Strömung und Wind gekonnt berechnet, besser kann man nicht navigieren. Aber seine Leute rufen: »Nach Norden! Nach Hause! Jetzt!« Sie stehen kurz vor einer Meuterei. Sie hassen den Admiral, sie wissen es nicht besser.

Aber er setzt sich zunächst noch durch, und dann, es ist kurz nach Ostern, folgt der Katastrophe zweiter Teil.

Die »Vizcaína« schafft es nicht mehr.

Sie ist löchrig, sie zerfällt. Das Wasser steigt, bald steht fest, dass die »Vizcaína« nicht mehr über die offene See nach Hispaniola segeln kann. Und darum fahren sie in eine Bucht hinein, vermutlich ankern sie, Schiff neben Schiff, und dann holen sie von der »Vizcaína« herunter, was sie brauchen und was sie transportieren können mit den beiden anderen, nicht viel weniger löchrigen Schiffen.

Die Besatzung natürlich. Das Gold natürlich. Die Segel natürlich.

Die Kanonen allerdings sind zu schwer. Kanonen sind ein Schatz im Jahr 1503, aber mit ihnen an Bord lägen

auch die beiden übrigen Schiffe viel zu tief im Wasser.

Und dann geben sie das Schiff auf, sie lassen es sinken. Columbus hatte die »Vizcaína« gerade erst ihrem Eigentümer abgekauft, am 15. Februar war das. Juan de Orquiva bekam 40 000 Maravedís für die Karavelle, gerade zwei Monate lang war Columbus also nun Besitzer der »Vizcaína«. Diego Méndez schreibt:

In Santa María de Belén hatten wir nie richtig Zeit gehabt, die Schiffe zu überholen, zu verpichen und zu kalfatern. Das rächte sich nun, als wir Puerto Bello erreicht hatten. Dort mussten wir auch die »Vizcaína« zurücklassen - die Holzwürmer hatten schon den Schiffsboden zerstört. Auf zwei Schiffen wurde nun die ganze Mannschaft zusammengepfercht, sie mussten die Vorräte aufnehmen, die wir noch besaßen, und - das Gold.

Bei Fernando liest sich das Ende der »Vizcaína« so:

Wir hielten unseren Kurs, bis wir Puerto Bello erreichten; dort mussten wir die »Vizcaína« aufgeben, denn sie nahm zu viel Wasser auf, und ihre Planken waren vollkommen zersiebt vom Schiffswurm. Der Küste folgend, segelten wir weiter bis hinter Retrete.

NOMBRE DE DIOS, SEPTEMBER 2003

Zehn Jahre lang hat Professor Donny Hamilton in Jamaika gegraben und gewühlt, unter Wasser natürlich, bis er wichtige Teile des versunkenen Port Royal freigelegt hatte, jener Metropole aus dem goldenen Zeitalter der Piraten, jener letzten Heimat von Henry Morgan; Donny Hamilton hat sich freistellen lassen von der Texas A&M University, eigentlich, weil er sein Buch schreiben will über Port Royal.

Aber jetzt ist er hier, in Shorts und T-Shirt. Hamilton ist einer der vielleicht fünf bekanntesten Unterwasserarchäologen der Welt, aber er hasst Tauchanzüge.

Neben ihm steht Filipe Castro, ein gebürtiger Portugiese, der Mann hinter Hamilton beim Institut für Unterwasserarchäologie der Texas A&M University, und reinigt seine Tauchermaske. Worum geht es heute?

»Es geht ja langfristig um zwei Dinge«, sagt Filipe Castro, »das eine ist die künftige Arbeit mit dem Wrack. Wir überprüfen deshalb sofort, wie die Sicht unter Wasser ist, die Strömung, der Untergrund, wie wir hier später arbeiten können. Man redet ja über ein Projekt, das fünf Jahre dauern wird: ein Jahr für die Bergung, vier Jahre für die Konservierung. Man redet über ein Team von etwa 16 Menschen, mindestens 1,5 Millionen Dollar Kosten und über Kräne, Schiffe, Container.« Und das andere?

»Das andere ist natürlich eine erste Bewertung des Wracks«, sagt Castro, »wir wollen die Wichtigkeit dieses Wracks einschätzen und sehen, was noch da ist, wie viele Artefakte, wie viel Holz.«

Und jetzt steigen die beiden ins Wasser, Donny Hamilton, geboren in Levelland, Texas, im Oktober 1942, und Filipe Castro, geboren im November 1960, aufgewachsen in Santarém bei Lissabon; es gibt keine größeren Experten als diese beiden, wenn es um Schiffe der Entdecker geht, ihr Urteil wird Gewicht haben.

Sie bleiben zwei Stunden dort unten. Und als sie wieder auftauchen, sehen sie aus wie zwei Tauchschüler, die ihren ersten Hai gesehen haben. Oder wie zwei Hippies nach einem guten Joint. Sie schwimmen an der Oberfläche, liegen auf dem Rücken und lassen sich treiben und lachen und erzählen.

»Das ist ein phantastische Stelle«, ruft Donny Hamilton, »es gibt große Holzbalken, diese Anker, fette Bombarden.«

Die erste Diagnose also: Das Schiff ist sehr alt und spanisch, das sehen die beiden am Holz, an den Scherben, an den Waffen. Das Schiff ist gut erhalten, Teile von drei Wracks aus der Zeit der Entdecker wurden bisher gefunden in der Neuen Welt, dieses hier ist das beste Wrack, bei weitem.

»Eine Sensation«, sagt Filipe Castro, der jetzt wieder sein rotes Lacoste-Hemd trägt, Jeans, Segelschuhe, der ein spitzes Kinn hat und graue, zurückgekämmte Haare, der sehr breit lachen kann und dann ganz kleine Augen hat.

»Ein Schiff, das man unbedingt mit aller Sorgfalt untersuchen, bergen und konservieren sollte, ohne einen Fehler zu machen«, sagt Donny Hamilton.

Castro sagt: »Ich lege mich auf ein Zeitfenster von 50 Jahren fest. Dieses Schiff sank in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, eher im ersten als im zweiten Viertel. Es sieht danach aus, als sei dieses Schiff das älteste, das jemals vor Amerikas Küsten gefunden wurde. Wir wissen noch nicht genug, um zu sagen, dass es wahrscheinlich das Schiff des Columbus ist. Wir wissen genug, um zu sagen, dass es möglich ist. Und schlüssig.«

»Wir sind Wissenschaftler. Wir möchten lieber beweisen, dass es sein Schiff ist, als behaupten, dass es sein Schiff ist«, sagt Donny Hamilton.

Höges Clemens
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