Und sehen wir uns nicht in dieser Welt, dann sehen wir uns in Bitterfeld.
Das Kreisamt in Bitterfeld hat auch schon mal bessere Tage gesehen. Die einstmals roten Backsteinfassaden sind schwarz vom Ruß aus den Kraftwerkschloten, der gründerzeitliche Zierat ist von den ätzenden Abgasen der Chemieindustrie ausgefressen.
Drinnen haben es die Putzfrauen längst aufgegeben, aus dem Kunststoffboden die Asche herauszuschrubben, die mit den Schuhsohlen der Beamten täglich von den immer schmutzigen Straßen hereingetragen wird. Im Flur vor dem Zimmer des Umweltbeauftragten, wo wuchtige Marmorsäulen noch an alte Pracht erinnern, lassen die Topfblumen ihre Blätter fallen.
Rainer Frommann, 41, sitzt in seiner winzigen Amtsstube, umgeben von fünf Aquarien, in denen sich Barsche und Fadenfische tummeln. Auf seinem Schreibtisch hat der Mann, der seit sieben Jahren beim Rat des Kreises Bitterfeld für »Umweltschutz, Wasserwirtschaft und Erholungswesen« zuständig ist, eine kleine Nachbildung der drei berühmten Affen stehen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Den Rat der klugen Affen hat Frommann bis vor vier Wochen immer brav befolgt - noch heute ist ihm anzumerken, welch harte Arbeit das gewesen sein muß: Die sterbenden Bäume, die rotbraunen Flüsse und das vom Braunkohletagebau umgepflügte Niemandsland hatte der Umweltpolitiker stets als »stadtnahe Landschaft mit den ihr eigenen Erlebnisbereichen« ausgegeben. Der Christdemokrat wirkt regelrecht erleichtert, da er jetzt vom »ökologischen Katastrophengebiet« sprechen darf.
Und das ist der Bitterfelder Raum gewiß: Ob Fuhne, Leine oder Mulde - nur noch der Industrieschlamm bewegt sich in den Flüssen fort, ansonsten ist alles kilometerweit tot. Versaut ist die Luft, vergiftet das Grundwasser, weiträumig verseucht auch der Boden. Schier unglaubliche Umweltschäden zeichnen sich ab, seit Aufsichtsbeamte und Mitarbeiter der volkseigenen Kombinate beginnen, die bisher geheimgehaltenen Öko-Daten auszuplaudern.
Welch ein Giftcocktail sich eigentlich in Flüssen und Grundwasserbeständen zusammengebraut hat - »kein Mensch weiß das hier«, sagt der Bitterfelder Umweltschützer Hans Zimmermann. Was an gefährlichen Altlasten in den zahlreichen »Restlöchern« lagert, die der Braunkohletagebau hinterlassen hat und in die, seit nunmehr beinahe 100 Jahren, die Chemieindustrie ihre Abfälle kippt - niemand kann das derzeit absehen.
Als kürzlich auf dem Gelände des Chemiekombinats Bitterfeld (CKB), dem mit 18 000 Mitarbeitern größten Staatsbetrieb in der Region, ein Fundament ausgehoben wurde, mußten die Bauarbeiter Atemschutzmasken aufsetzen, so sehr stank das Sickerwasser in der Grube nach gefährlichen Lösemitteln. Als Bagger westlich von Bitterfeld nahe dem Dorf Heideloh den Boden für eine neue Straße zusammenschieben sollten und dabei eine alte Industriehalde anschnitten, stiegen giftige Dämpfe auf - ein Straßenarbeiter soll gleich umgekippt sein.
»Wir sitzen auf einer Zeitbombe«, sagt der Bitterfelder Kreisratsvorsitzende August Pietsch, 45. Wenn nicht schnell Hilfe komme, »von der Regierung« (Pietsch) oder sonstwoher, werde es »sehr kritisch für die Gesundheit unserer Bevölkerung«. Daß die zwischen Leipzig und Dessau gelegene Industriegemeinde kein Luftkurort ist, war schon seit langem klar: Aus vielen hundert Schloten raucht und qualmt es unablässig in dieser »dreckigsten Stadt Europas«, wie die vor Jahren schon in den Westen übergesiedelte DDR-Schriftstellerin Monika Maron das 20 000-Einwohner-Nest in ihrem Roman »Flugasche« charakterisierte. Jetzt bestätigt es selbst der Kreishygienearzt vor Ort: »Vom Nichtstun«, sagt Jürgen Schmidt, 61, »macht man sich hier schon die Hände schmutzig.«
Film- und Farbenfabriken, Pestizidbetriebe und Aluminiumhütten, dazu bald ein Dutzend Kohlekraftwerke und gleich vor der Haustür ein sechs Kilometer langes, offenes Tagebauloch, aus dem, nachdem die Kohle abgeräumt wurde, heute mit enormer Staubentwicklung Bernstein gewonnen wird - die Gegend erstickt in Asche, Gift und Müll.
Schon Mitte des vorigen Jahrhunderts waren die ersten Bergleute in den Tagebau eingerückt. Ganze Dörfer sind seither ausradiert worden, Bäche und Flüsse verloren ihr natürliches Bett - beinah die Hälfte der 454 Quadratkilometer großen Fläche des Landkreises Bitterfeld ist inzwischen umgegraben.
Im Jahr 1893 siedelte sich der erste Chemiebetrieb an: Der später ermordete Außenminister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, seinerzeit noch Juniorchef der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) in Berlin, ließ einen Chlorproduktionsbetrieb in Bitterfeld errichten. Farben- und Filmfabriken der Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation (Agfa) folgten. Die Investoren fühlten sich angezogen, weil es, so heute der Generaldirektor des CKB, Adolf Eser, 53, in der einstmals schmucken Auenlandschaft die Grundstoffe für die Synthese gab: »Salz, Wasser und Kohle«.
Mittlerweile erstreckt sich vom Vorort Holzweißig im Süden bis zur Nachbarstadt Wolfen im Norden ein Meer von Industrieanlagen und Kohlegruben (siehe Schaubild). Wie wellenumspülte Inseln sind die Wohngebiete darin eingeschlossen: Häuser zumeist, von denen der Putz abbröckelt, oder Wohnsilos mit verblichenen Fassadenplatten. Rund 60 000 Menschen leben im Großraum Bitterfeld/Wolfen, oftmals nur einen Steinwurf von den Kraftwerken und Chloranlagen entfernt.
Der Ruß hat die Dächer schwarz gemacht, auf einige Wohnquartiere rieselt jeden Monat ein ganzes Pfund Staub pro Quadratmeter herab. Rostige Rohrleitungen der Chemieindustrie, die das Gebiet kreuz und quer durchziehen, gasen immer mal wieder undefinierbare Dämpfe aus. Selbst aus den Gullys in der düsteren Bitterfelder Innenstadt steigen ständig graue Wolken auf.
Im Gästehaus des Chemiekombinats, an dem in etwa 100 Meter Entfernung eine Chlorleitung vorbeiführt, hängen Gasmasken (DDR-Begriff: »Fluchtfilter") in der Rezeption. Die »Straße der Neuen Zeit« liegt im Windschatten einer Chlorelektrolyse, die »nur« 15 Jahre alt ist. Die dort wohnenden polnischen Gastarbeiter haben im Ernstfall wenig Zukunft.
Täglich heulen in der Stadt die Brandsirenen auf, weil irgendwo ein Feuer ausgebrochen ist. »Drei- bis viermal im Jahr«, sagt der Kreishygienearzt, ist bei der Chemie »Havariealarm": Mal läuft eine Chlorleitung leck, mal wird ein ganzer Stadtteil mit Phosphaten überschwemmt.
Trotzdem sind bisher kaum Beschwerden laut geworden. Zu den Demonstrationen vor dem alten Rathaus, wo Einschußlöcher noch an den Aufstand der Arbeiter nach dem Kapp-Putsch 1920 erinnern, brachten die Oppositionsgruppen im November gerade mal ein paar tausend Leute auf die Beine. Schnell war der Elan erloschen.
»Die Leute sind zu bequem«, sagt der evangelische Pastor Matthias Spenn, »sie verdienen zu gut.« Für Monatslöhne von 2000 bis 3000 Mark werde das Desaster eben in Kauf genommen.
»Was soll ich mich beschweren?« fragt die alte Dame, die in der »Straße der Chemiearbeiter« für 20,70 Mark Monatsmiete eine »Zweiraumwohnung« mit Küche bewohnt. Vor ihrer Haustür, gleich gegenüber vom Kraftwerk Süd, das zum Chemiekombinat gehört, fegt sie jeden Samstag einen Eimer Ruß zusammen. Ein Fortschritt: Vor Jahren hatte die alte Dame immerhin sechs Rußeimer pro Woche zu kehren.
Sauber auch das kleine Häuschen von Bodo Berger, 38, im Ortsteil Wachtendorf. Der Schlossermeister hat die »goldene Hausnummer« dafür bekommen. Ein paar hundert Meter weiter giftet die Grube Johannes vor sich hin, die im Volksmund »Silbersee« heißt - denn dorthin läßt das Fotochemische Kombinat in Wolfen seine Giftabwässer aus der Zellstoff- und Filmproduktion (Markenname: »Orwo") sprudeln.
Was im Garten von Meister Berger wächst, ist nur bedingt eßbar. 400 Mark Gartengeld bekommt er jedes Jahr von der Chemie, damit er sich Obst im Laden kaufen kann. Manchmal schreckt ein beißender Gestank den Arbeiter nachts auf. »Dann«, sagt Berger, »hat die Chemie wieder was abgelassen.« Kann sein, daß er anderntags feststellen muß, daß die Rosen im Vorgarten wieder mal eingegangen sind.
Beinahe 40 000 Tonnen Staub und 90 000 Tonnen Schwefeldioxid, knapp dreimal soviel wie im 46mal größeren westdeutschen Bundesland Hessen, blasen die Schornsteine nach den bisher geheimgehaltenen Akten des Umweltpolitikers Frommann im Raum Bitterfeld derzeit Jahr für Jahr in die Luft; dazu kommen 13 000 Tonnen Stickoxide und ebensoviel Kohlenmonoxid.
Giftige Chlorgase, ätzende Salzsäure (zusammen 1800 Tonnen) sowie die kampfgasfähige Flußsäure (700 Tonnen), die Skelettverformungen hervorrufen kann, und etwa 15 000 Tonnen gefährlicher Lösemittel komplettieren das Aero-Gebräu. Der Dreck stammt zumeist aus wenigen Großbetrieben.
Allein das CKB - ein chemischer Gemischtwarenladen, der, vom Totalherbizid bis zum Kunstedelstein, rund 4500 »Finalerzeugnisse« (DDR-Jargon) produziert - bläst 40 000 Tonnen Schwefeldioxid in die Luft. Das restliche SO2 stammt überwiegend von dem Braunkohlekombinat »Karl Liebknecht«, das in Bitterfeld eine museumsreife, 80 Jahre alte Brikettfabrik mit beigeschlossenem Kraftwerk unterhält, von den drei Kraftwerken des Orwo-Kombinats oder von dem Reichsbahnkraftwerk Muldenstein (Jahrgang 1915), das zwar mit jeder produzierten Megawattstunde 120 Ost-Mark Minus macht, dafür aber Jahr für Jahr allein 16 000 Tonnen Flugasche über die Landschaft streut.
Daß die ätzenden Abgase nicht ohne Wirkung bleiben, war selbst zur Zeit der Datensperre nicht ganz zu verheimlichen. Schauermärchen gehen um von Gartenzwergen, denen die Nasen abgefallen sind, von Kochgeschirr, das, im Herbst versehentlich draußen stehengeblieben, im Frühjahr in der Hand zerbröselt. Und manch ein Pfarrer in der Region mußte schon neue Kirchenfenster bestellen, weil die Bleiverglasung in der ätzenden Luft schlicht zerfallen war.
Die Bäume in Bitterfeld, berichtet auch eine Schautafel im Kreismuseum, »bekommen bereits im Juni braune Blätter« - der Herbst setzt schon im Sommer ein.
Viele Pflanzen erleben den Frühling nicht mehr. Reihenweise sterben an Bitterfelder Ausfallstraßen die Alleebäume ab. In der Dübener Heide, einem »Naherholungsgebiet« 20 Kilometer östlich von Bitterfeld, das im Schußfeld der Dreckschleuder Muldenstein liegt, müssen die Forstleute Jahr für Jahr auf jedem Hektar Waldboden 1000 Festmeter Eichenholz abschreiben sowie je 600 Meter Kiefern- und Fichtenstämme.
Am »Wanderweg Hermann Fahlke« zwischen Bitterfeld und Wolfen, so benannt nach einem altgedienten Kommunisten, hat sich die Natur ganz abgemeldet. Hier kam das todbringende Gift allerdings von unten.
Wie Mahnmale für kapitale Umweltverbrechen ragen entlang des Weges, den die Kreisverwaltung noch als »Naturlehrpfad« auswies, die abgestorbenen Stämme 10, 20 Meter hoch in den diesigen Himmel. Ein Sturzbach rauscht durch das Nirwana, die Abfallbrühe vom Wolfener Foto-Kombinat. Und rotbraun glitzert der Silbersee.
Nach einiger Verweilzeit in dem Kloakeloch fließt die Orwo-Schmutzflut dem Flüßchen Fuhne zu, das fortan Spittelwasser heißt. Mit dem Abwasser »Original Wolfen« rauschen allein aus zwei maroden Zellstoffbetrieben des Foto-Kombinats täglich 300 Kilogramm Phenole, die beim Menschen Nieren- und Leberschäden hervorrufen können, 200 Tonnen Salze und 180 Tonnen Lignine, stinkige Abfallstoffe aus der Zellulose-Gewinnung, den Bach herunter in Richtung Elbe.
Östlich von Wolfen mischt sich die Orwo-Brühe mit einer gewaltigen Dreckfracht, die, vom Bitterfelder Chemiekombinat kommend, das Muldetal heruntersprudelt. Jetzt braut sich ein Giftcocktail zusammen, den nicht einmal die VEB-Chemiker zu analysieren in der Lage sind.
Mehr als 70 Millionen Kubikmeter Abwasser, genug für einen Tankwagenzug, der von Hamburg bis Melbourne reicht, leitet das CKB Jahr für Jahr aus seinen Reaktionsöfen und Rührmaschinen in Bitterfeld und Wolfen ab - der größte Teil läuft dem Spittelwasser zu, ein kleinerer fließt in die Mulde. Darin sind unter anderem 176 000 Tonnen Salze, 250 Tonnen Phenole und 1200 Tonnen direkt toxische Stoffe enthalten.
Außerdem schwimmen 42 Tonnen reine Schwefelsäure, 8 Tonnen Quecksilber, mehrere tausend Tonnen der gefährlichen Chlorierten Kohlenwasserstoffe und Riesenmengen von aromatischen Kohlenstoffverbindungen, zum Beispiel Mercaptane, jedes Jahr in der Giftbrühe mit - das Kombinat mit seinen 80 Einzelbetrieben hat keine ordentliche Kläranlage.
Weil ihre Schmutzfrachten alle Grenzwerte sprengen, überweisen die beiden Kombinate jedes Jahr mehr als 20 Millionen Ost-Mark als pauschalen Schadensersatz an die Bezirksaufsicht in Halle. Die Kontrolleure der dortigen Gewässerbehörde sind gar nicht in der Lage, die Giftflut zu untersuchen - nicht allein mangels Meßtechnik, auch wegen fehlender Fortbewegungsmöglichkeiten.
Denn den 15 Beamten, die 531 Flußkilometer in dem 8771 Quadratkilometer großen Bezirk Halle überwachen sollen, stehen gerade zwei Dienstwagen zur Verfügung - und 400 Liter Benzingemisch im Monat.
Zu welch einem Teufelszeug sich die Gifte aus der Wolfen-Bitterfelder Schmutzflut summieren, weiß nicht einmal Karl Enders, 49, der Umweltbeauftragte vom CKB. Der »Meßknecht« (Enders über Enders) kann nur die konventionellen Stoffe im Abwasser analysieren, Chlorverbindungen beispielsweise nicht. So zuckt er denn bei der Frage, ob gefährliche Dioxine drin sein könnten, nur hilflos mit den Schultern: »Woher soll ich das wissen?«
Die schlammige Brühe stinkt bestialisch. Im Städtchen Raguhn beispielsweise, das fünf Kilometer flußabwärts von Wolfen liegt, wäre es häufiger angebracht, einen »Fluchtfilter« über die Nase zu ziehen, weil die Schwaden, die von Mulde und Spittelwasser aufsteigen, die ganze Stadt umwehen und sogar in die Wohnzimmer dringen. Auf einer Bürgerversammlung im Klubhaus am Muldeufer versucht sich Enders ungeschickt auf eine »unangenehme Geruchsbelästigung« herauszureden - »akut toxisch« sei das Zeug jedenfalls nicht.
Doch zuvor war er auf der Spittelwasserbrücke selbst erschrocken aus seinem Wartburg gestiegen. Wer länger in die Brühe schaut, dem tränen die Augen, und die Zunge wird seltsam trocken.
»Wir haben nur ein Leben, wir möchten noch was davon haben«, sagt der Chemiker Günter Krieg in der Versammlung. Doch Bodo Schulze, 38, ein Manager aus dem Wolfener Foto-Kombinat, beschwichtigt, selbst am Silbersee bestehe »keine akute Lebensgefahr«. Die dort aufgestellten Warnschilder, die bei den Bürgern Mißtrauen geweckt hatten, seien - wie beruhigend - »nur aus baulichen Gründen da«.
So wird es wohl auch bei den anderen Restlöchern und Gruben sein, die mit dem Hinweis »Vorsicht Lebensgefahr« ausgeschildert sind. Wie Pickel in einem Pockengesicht liegen die wilden Müllkippen und Abfalldeponien in der Bitterfelder Restlandschaft verstreut - eine womöglich gefährlicher als die andere.
In der Grube Antonie beispielsweise, nicht weit von der wegen diverser Lecks im Chemiekombinat so genannten »Straße der tausend Düfte«, lagern etwa 50 000 Tonnen hochgefährliche Chlorabfälle. Und was die Giftmüllkippe »Freiheit III«, an der Straße nach Halle gelegen, alles intus hat, weiß keiner so genau.
Schon seit den sechziger Jahren schütten die Laster vom CKB, in dem noch immer das Ultragift E 605 produziert wird, an die 120 000 Tonnen Chemieabfälle im Jahr auf die Halde, vornehmlich Giftmüll. Oftmals reagieren die Stoffe miteinander und entzünden sich, es »brutzelt und schwelt« auf der Kippe, berichtet Umweltschützer Zimmermann. Die Grube hat keinerlei Abdichtung nach unten, Sickerwässer werden nur zum Teil aufgefangen, der Rest fließt ungeklärt dem Flüßchen Leine zu.
Bei der Gartenkolonie »Vergißmeinnicht« dort an der Leine hat auch CKB-Generaldirektor Eser ein kleines Stück Land. Das Obst und Gemüse, das darauf wächst, ißt er unbekümmert, »solange über die Geschmacksschwelle nichts spürbar ist«. Ein Glas mit grünen Bohnen hat Eser allerdings mal stehenlassen - die waren, sagt er, irgendwie »anrüchig«.
Im dunklen Nadelstreifen sitzt Eser in seinem recht weitläufigen Amtszimmer: 3500 Mark brutto pro Monat verdient der Generaldirektor, der Chef eines Chemieimperiums mit Außenfilialen von Bernburg bis Karl-Marx-Stadt ist. »Wir haben«, sagt der SED-Mann nachdenklich, »keinen Garten Eden aus Bitterfeld gemacht.« Doch er kenne Zeiten, »wo es schlimmer war«.
Auf einem Gemälde, das hinter seinem Rücken hängt, sind, schön bunt, die rostigen Türme dargestellt, in denen auf CKB-Gelände die Salpetersäure hergestellt wird. Die Anlage, Jahrgang 1917, arbeitet immer noch.
Auch die beiden Aluminiumschmelzwerke im CKB sind nicht mehr taufrisch. Das eine ist Anfang Dezember dichtgemacht worden - unter anderem wegen Einsturzgefahr. In dem anderen Betrieb wird gerade eine Absauganlage eingebaut, die, so ein CKB-Mitarbeiter, die Arbeitsbedingungen dort auch kaum bessern werde. In der Halle herrscht drückende Hitze, grauer Staub hüllt alles in Düsternis. Dicht an dicht sind in langen Reihen flache Stahlkessel installiert, jeder gerade so groß wie ein Grab. Eine silbrige Flüssigkeit, Aluminium, köchelt darin, angeheizt von einem Kohlefeuer, dessen Flammen immer mal aufflackern.
Die Arbeiter, die mit Brechstangen an den Kesseln hantieren, atmen giftige Fluorgase ein. Das Zeug kann sich in ihren Knochen einlagern und bis zur Lähmung führen - eine Berufskrankheit namens Fluorose, die in Bitterfeld durchaus üblich ist.
Nicht nur die »Alubude«, wie das Werk unter den Arbeitern heißt, macht krank im CKB. Ob bei der Polyvinylchlorid-Herstellung oder im Pharmabau, in den beiden alten Chlorelektrolyse-Betrieben oder bei der Produktion von Ionenaustauschern (Markenname: »Wofatit") - »41 Prozent der Werktätigen« im CKB sind, wie der Generaldirektor kürzlich kundgetan hat, am Arbeitsplatz »über Gebühr« gesundheitlich belastet. Und das liegt zumeist an den »schrottreifen Anlagen« (Frommann).
Hier wie auch anderswo in der DDR hatten die Einheitssozialisten nach dem Krieg die Maschinen aus Nazizeit und Kaiserreich, sofern sie nicht demontiert worden waren, wieder angeworfen - um, nun unter sozialistischer Flagge, weiterzuproduzieren.
Und so wurden denn die Chemiebetriebe in Bitterfeld und Wolfen, die in den zwanziger Jahren dem IG-Farben-Imperium einverleibt worden waren, in zwei Kombinate aufgeteilt. Statt zu sanieren und zu erneuern, wurde nur geflickt und repariert - und alles darangesetzt, aus den vorhandenen Maschinen soviel wie möglich herauszuholen. Jetzt aber, sagt der CKB-Bereichsdirektor Horst Wilhelm bitter, »steht man auf einem Trümmerhaufen«.
6 von 80 Betrieben im Bitterfelder CKB arbeiten mit Ausnahmegenehmigung, weil sie auch aus Sicht der Einheitssozialisten seit Jahren so gesundheitsschädlich produzieren, daß keine Dauererlaubnis mehr erteilt wird. In zehn weiteren Produktionsstätten werden ständig Überschreitungen der maximal erlaubten Schadstoffmenge am Arbeitsplatz (MAK-Wert) in Kauf genommen. Nach den Statistiken der Arbeitshygiene arbeiten im Chemiekombinat rund 4300 Leute unter so schlimmen Bedingungen, daß bei ihnen »Gesundheitsschäden zu erwarten« sind.
Da passiert es schon mal, daß, wie im vergangenen September, ein 18jähriger durchtrainierter Sportstudent wegen Gelbsuchtverdachts im Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht wird, nachdem er nur ein paar Tage im CKB-Betrieb »P 5« gearbeitet hatte, wo mit Chlorbenzol hantiert wird. Und der Betriebsarzt ist nicht mal verwundert darüber: »Havarie auf P 5?« Nachgerade eine Alltagsmeldung.
Von den etwa 50 Mitarbeitern eines CKB-Forschungszentrums in Wolfen, wo neue Pflanzenschutzmittel entwickelt werden, sind nach behördlichen Unterlagen in den vergangenen vier Jahren fünf Leute gestorben - vom Gärtner bis zum Chemiker, »alle hatten sie Krebs«, berichtet ein Bitterfelder Mediziner.
In einem Teil des Orwo-Kombinats, wo bis Ende Dezember Viskosefasern gesponnen wurden, grassiert eine merkwürdige Psychokrankheit. Schwefelkohlenstoff, der hier in so hohen Konzentrationen aus den verrotteten Maschinen entwich, daß der MAK-Wert, so weisen es die Akten aus, schon um das 90fache überschritten wurde, wirkt als Neurogift im Gehirn und richtet irreparable Schäden an: »Die Leute werden dun im Kopf, aggressiv oder apathisch«, so eine Ärztin.
Auch was die Betriebe durch Schornsteine und Abwasserrohre nach draußen leiten, macht Tiere und Menschen krank. Im Muldetal verendete Biber wiesen, berichtet ein CKB-Mitarbeiter, Skelettveränderungen auf. Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der Region haben Probleme, ihre Kühe trächtig zu bekommen, das Mastvieh wird und wird nicht rund - eine »umweltbedingte Leistungsdepression«, sagt eine Expertin.
Zwei- bis dreimal häufiger als der Nachwuchs anderswo in der DDR erkranken die Bitterfelder Kinder an Bronchitis und anderen Atemwegsleiden. Ihr Knochenwuchs, das geht aus einer internen Langzeit-Analyse hervor, ist gegenüber Altersgenossen aus anderen Regionen um zwei bis acht Monate zurückgeblieben.
Ein Vergleich mit Ostseekindern ergab zudem, berichtet Kreishygienearzt Schmidt, * Vor der Salpetersäureanlage des Chemiekombinats Bitterfeld. »signifikante Abweichungen im Immunsystem« von acht- bis zehnjährigen Bitterfelder Schulkindern. Weil die Untersuchung ebenfalls ergeben hatte, daß diese Störungen »gottlob reparabel« (Schmidt) sind, hatte der Mediziner bereits im vergangenen Januar gefordert, die Kinder müßten für vier Wochen im Jahr irgendwo an der See in einem Landschulheim unterrichtet werden - vergebens. Jetzt hofft Schmidt endlich auf Erfolg.
Im Bitterfelder Kreiskrankenhaus, so die Planung der Hygienebehörde, soll nun auch eine Krebsstation eingerichtet werden. »Über die Totenscheine« will Schmidt herausbekommen, ob stimmt, was in einer westlichen Studie steht: daß in Bitterfeld Männer fünf und Frauen acht Jahre eher sterben als anderswo.
Auch der Umweltbeauftragte Enders, den, das ist ihm anzusehen, das Öko-Desaster seit langem belastet, hat neue Hoffnung geschöpft, daß das marode Werk gründlich saniert wird - mit Hilfe westlicher Investoren. »Der Westen«, befürchtet Enders zwar, »würde hier wahrscheinlich 70 Prozent stillegen.« Doch ohne den Westen geht gar nichts.
Etwa »die Wasserstrecke, die kriegen wir nur in Griff, wenn über BRD-Abkommen was läuft«, sagt der Umweltbeauftragte. »Hoechst oder Bayer«, ja, die könnten die Schmutzfracht aus seiner Sicht »schon knacken«. Schließlich bringe westliche Hilfe »auch was für die BRD«. Enders: »Was wir hier rauslassen, fließt doch alles in die Nordsee.«
Was allerdings der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht dem CKB spendieren will, hält Enders für weniger nützlich. Nach einer Vereinbarung mit dem DDR-Umweltministerium soll, für 50 Millionen West-Mark, bei den Uralt-Chloranlagen des CKB das Quecksilber aus dem Abwasser zurückgewonnen werden. »Das ist«, sagt der Umweltbeauftragte, »als wenn ich hinter zwei Leichen eine goldene Uhr hänge.«
Auch das Foto-Kombinat kann aus eigener Kraft nicht mehr weiter. »Wir wollen nichts geschenkt haben«, sagt Manager Schulze, Vize-Fachdirektor Produktion bei Orwo, »aber wir brauchen dringend westliche Hilfe.«
Seit 1975 schon lägen Pläne vor, die beiden Zellstoffbetriebe, die aus den dreißiger Jahren stammen, zu sanieren, doch immer sei das Vorhaben abgelehnt worden. Nun aber müsse so etwas möglich sein, hofft Schulze: »Der Westen profitiert doch auch davon.« Würden die beiden Betriebe abgerissen und neu aufgebaut, wäre die Elbe »mit einem Schlag« (Schulze) sauberer.
Manche Produktionsräume in den Zellulose-Werken muten wie eine Tropfsteinhöhle an: Der Deckenputz ist heruntergekommen, die schrottreifen Kessel sind derart undicht, daß Menschen das Gefühl haben müssen, sie würden ersticken. Die Luft ist so beißend, als ob Schwefeldioxid pur den Maschinen entweicht - und trotzdem stehen Männer ohne Masken daran und arbeiten.
Gleich neben dem Zellstoffwerk ist der Viskosebetrieb, der 1936 für Hitlers »Reichsfaserprogramm« errichtet wurde. Dort haben bis kurz vor Weihnachten rund 500 Arbeiter 40 Prozent des DDR-Bedarfs an Kunstseide gesponnen, jährlich etwa 25 000 Tonnen, für Strümpfe, Unterwäsche und Trikotagen.
Das Werk im vergangenen Dezember: Im Erdgeschoß des verfallenen Gebäudes, wo die Viskose in verrotteten Tanks verflüssigt wird, liegen Gartenschläuche aus; die Bodenkacheln müssen ständig feucht gehalten werden, um den unablässig aus den maroden Ventilen entweichenden Schwefelwasserstoff zu binden.
Im Mittelstock rotiert die Zellulose in vorsintflutlichen Reifetrommeln. Im Obergeschoß, wo - erste Station im Viskose-Produktionsprozeß - der Zellstoff in Natronlauge gelöst wird, steht die Arbeiterin Renate Löbel, 57, in einer antiquarisch wirkenden Meßwarte, die immerhin schon aus den siebziger Jahren stammt. »Mir geht es selbst nach 39 Betriebsjahren noch ganz gut«, sagt sie, manchen aber erwische das Neurogift »schon nach acht Tagen«.
Sie zeigt auf den älteren Kollegen, der apathisch in der Ecke sitzt: »Der Achim ist auch schwefelkrank.« Dann schiebt die Arbeiterin ihre Hosenbeine hoch - die Haut ist gelblichbraun bis zu den Waden, die Wunden heilen nicht.
Sechs Kreislauftabletten nimmt die Arbeiterin jeden Tag, »sonst geht gar nichts«. Daß der Betrieb jetzt endlich, wegen »unmittelbarer Gefährdung der Gesundheit« (Schulze), abgerissen wird, ist ihr aber auch nicht recht. Unversehens schnauzt die alte Arbeiterin den jungen Manager Schulze an: »Wenn ihr bloß nicht so geschlampert hättet.«