»Die Mamaljischniki sind eine Schweinebande«
Anfang September 1960, kurz vor der Uno-Vollversammlung, ging ich mit Nikita Chruschtschow in Kaliningrad an Bord der »Baltika«, die uns nach New York bringen sollte. Chruschtschow war damals der unangefochtene Erste Mann der Sowjet-Union. Es war eine ungeheure Chance für mich, in seiner Gesellschaft in zehn Tagen an Bord des kleinen Passagierdampfers »Baltika« über den Atlantik zu schaukeln und ihm bei der Abfassung einer Grundsatzerklärung zur Entkolonialisierung und Abrüstung vor der Uno helfen zu können.
Neben dem üblichen Schwarm der Sowjetfunktionäre umfaßte Chruschtschows Gefolge auf der »Baltika« auch die kommunistischen Parteichefs anderer sozialistischer Länder: Janos Kadar aus Ungarn, Todor Schiwkoff aus Bulgarien und Gheorghe Gheorghiu-Dej aus Rumänien.
Das erste Abendessen begann still und förmlich. Die Teilnehmer hatten sich wie zu einer Parade herausgeputzt. Aber kurz bevor die Tafel aufgehoben wurde, stand Chruschtschow vom Kapitänstisch auf und machte die Runde im Speisesaal.
Er beugte sich zu seinem Schwiegersohn Alexej Adschubej herab, damals Chefredakteur der »Iswestija«. Chruschtschow nahm Adschubejs Bierglas in die Hand, schnüffelte daran und verkündete mit dröhnender Stimme: »Ich kenne dich, du Heimlichtuer. Habe ich dich wieder einmal erwischt. Dein Bier besteht zur Hälfte aus Wodka.« Alle schüttelten sich vor Lachen.
Der bulgarische Parteichef Schiwkoff bemühte sich für alle sichtbar um Chruschtschow und beeilte sich jedesmal, begeistert zuzustimmen, sobald »N.S.«, wie er genannt wurde, etwas gesagt hatte. Auch die anderen Bulgaren benutzten jeden Vorwand - soweit sie überhaupt einen brauchten -, um ihre Geistesverwandtschaft zu den Russen herauszustellen.
Die Rumänen gaben sich dagegen distanziert. Gheorghiu-Dej saß fast immer schweigend an seinem Tisch im Speisesaal. Das ärgerte Chruschtschow, aber er zeigte es nicht offen - außer bei einer Gelegenheit, als er vor einer kleinen Gruppe seiner Leute die Selbstbeherrschung verlor.
Da schimpfte er, Gheorghiu-Dej sei zwar in seinem Herzen kein schlechter Kommunist, aber ein schwacher, zu passiver Politiker.
Chruschtschow bemängelte weiter, daß in Rumänien und sogar in den Reihen der rumänischen KP verderbliche nationalistische und antisowjetische Tendenzen sichtbar würden, die es mit der Wurzel auszurotten gelte. »Die brauchen eine feste Hand«, polterte er. »Die Mamalyschniki _(Eine beleidigende Bezeichnung für die ) _(Rumänen, abgeleitet aus dem russischen ) _(Wort »Mamalyga« für einen in Rumänien ) _(beliebten dicken Maisbrei. )
sind keine Nation, sondern eine Schweinebande!« Dann merkte Chruschtschow, daß er zu weit gegangen war. »Ich meine natürlich die Rumänen der Vorrevolutionszeit«, sagte er, um sich einigermaßen aus der Affäre zu ziehen.
Die Ungarn an Bord verhielten sich nach außen loyal, aber im Gegensatz zu den Bulgaren beschworen sie nicht dauernd die »ewige Freundschaft zur Sowjet-Union«, und über den Aufstand von 1956 bewahrten sie eisernes Stillschweigen. Janos Kadar beeindruckte mich als ein intelligenter, geschickter und kraftvoller Politiker. An Bord der »Baltika« wollte er sich offenbar nur entspannen und erholen und verbrachte seine ganze Zeit mit Kartenspielen. Das Kartenspiel schien uns eine Volksseuche der Ungarn zu sein - hatten sie auch nur fünf Minuten Zeit, teilten sie auch schon aus. Auch Chruschtschow ging das Tage und Nächte dauernde Kartenspielen auf die Nerven. Kadar spielte manchmal rund um die Uhr, und am nächsten Morgen war er zu erschöpft, um zum Frühstück zu erscheinen.
Chruschtschow arbeitete selbst ausdauernd an seinen Redetexten. Stundenlang, in seiner Kabine oder draußen an Deck, diktierte er seine Entwürfe in einem Tempo, daß die Sekretärinnen kaum Zeit hatten, ihren Stenoblock umzublättern.
Trotzdem waren seine Reden lebendig und mitreißend. Seine Gedanken, Argumente und Begründungen bestachen durch Originalität und Überzeugungskraft, nachdem er sie mit den von ihm so geliebten Sprüchen und Sentenzen gewürzt hatte.
Chruschtschow trank Wodka, Wein und Kognak in riesigen Mengen, aber er konnte auch viel vertragen.
Eines Abends saßen wir im Aufenthaltsraum und warteten auf den Beginn der Filmvorführung. Chruschtschow war wieder ziemlich voll und wollte seinen Spaß haben. Neben ihm saß Nikolai Podgorny, der damals noch Chruschtschows früheren Posten als Parteichef der Ukraine innehatte. Chruschtschow sah ihn an und sagte: »Warum tanzt du nicht einen ''Gopak'' _(Ein anstrengender Männertanz. Der Tänzer ) _(hockt sich dabei auf den Boden und wirft ) _(die Beine abwechselnd kraftvoll nach ) _(vorn, während er sich gleichzeitig im ) _(Kreis dreht. )
für uns? Ich habe Sehnsucht nach ukrainischen Tänzen und Liedern.«
Podgorny sah Chruschtschow verlegen an. Er war 57, in einem Alter, wo man den Gopak schon lange nicht mehr tanzen kann und wollte sich angesichts seiner Position auch nicht lächerlich machen. Aber Chruschtschow ließ nicht locker und wiederholte seine Aufforderung. Da merkte Podgorny, daß Chruschtschow es ernst meinte. Widerstrebend stand er auf, bewegte sich einige Male ungelenk auf und ab und versuchte, einige Gopak-Tanzschritte anzudeuten. Es wurde allen peinlich klar, daß er es einfach nicht konnte, aber Chruschtschow bedachte Podgorny mit überschwenglichem Applaus. »Gut gemacht«, rief er, »du bist in Kiew am richtigen Platz.«
An Deck hielt er mir Vorträge über die großen westlichen Nationen und die sowjetische Strategie, sie gegeneinander auszuspielen. Die Briten schrieb er gleich als hoffnungslos ab - ausgesprochen antisowjetisch eingestellt. »Die Mähne des Löwen mag sich lichten«, sagte er, »aber er kann noch mächtig zubeißen. Nicht umsonst heißt es bei uns: ''Eine Engländerin hört nie auf zu scheißen.''« Frankreich war ein ganz anderer Fall. »Dieses Kettenglied müssen wir packen, um die ganze europäische Kette an uns zu reißen«, bemerkte er. Es fiel ihm sein Staatsbesuch in Paris wieder ein: »Sie bewirteten uns märchenhaft - mit Strömen von Champagner. Und ebenso märchenhaft haben wir de Gaulles Selbstgefühl gekitzelt.«
Was die Deutschen anging, gab es nach Chruschtschows Meinung kein so leicht zu befolgendes Rezept, aber ihre Wirtschaft und ihre Technik ließen den Einsatz weit lohnender erscheinen. Westdeutschland müsse aber alle Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung aufgeben. »Falls nötig«, so sinnierte Chruschtschow elf Monate vor dem Bau der Berliner Mauer, »demonstrieren wir einmal unsere Macht, damit die westdeutschen Politiker, die immer noch nicht die Lage kapiert haben, nachdenken lernen.« Hätten die Deutschen sich jedoch erst in das Unabänderliche gefügt, so Chruschtschow weiter, sei es angezeigt, ihnen Handelszugeständnisse abzuringen, um ihre Wirtschaftskraft zur Verbesserung der Lage in der UdSSR auszunutzen: »Vergessen Sie nicht, daß Deutschland unser erster Handelspartner nach der Revolution war.«
Schließlich kam er auf die Vereinigten Staaten zu sprechen - es gebe wenig Hoffnung, die grundsätzliche Einstellung der Amerikaner zu beeinflussen, aber viele Möglichkeiten, um das Mißtrauen gegen die USA in Europa zu schüren. »Wir müssen weiter darauf hinarbeiten, daß die Vereinigten Staaten sich gegen Europa und die Europäer sich gegen die Vereinigten Staaten wenden«, fügte er hinzu. »Das ist die Taktik, die Wladimir Iljitsch (Lenin) uns eingebleut hat. Ich habe seine Lehren nicht vergessen.«
Wir waren alle aufgeregt, als die »Baltika« die Freiheitsstatue passierte und in den New Yorker Hafen einlief. Wir standen auf dem Oberdeck unseres Dampfers, der wenige Tage zuvor mitten auf dem Ozean einen frischen weißen Anstrich verpaßt bekommen hatte. Doch die blendende Erscheinung der »Baltika« stand in grellem Gegensatz zu dem verdreckten halb verfallenen Hafenbecken, in das unser Schiff dann verholt wurde. Chruschtschow zeigte sich ebenso schockiert wie wir alle. Darauf war keiner gefaßt gewesen. Mit offenkundigem Ärger grollte Chruschtschow: »Aha, ein neuer von diesen schmutzigen Tricks, mit denen die Amerikaner uns immer wieder überraschen.«
Schuld daran waren jedoch nicht die Amerikaner, sondern unser damaliger Washingtoner Botschafter Michail Menschikow und Walerian Sorin, der gerade zum Sowjetbotschafter bei den Vereinten Nationen ernannt worden war. Sie hatten die Anweisung aus Moskau zu wörtlich genommen, nicht zuviel Geld für den Liegeplatz der »Baltika« in New York auszugeben. Sie hatten sich gewiß alle Mühe gegeben, einen preiswerten Liegeplatz zu finden, aber auch nicht mehr für das bekommen, was sie investieren wollten. Die von Ratten heimgesuchte Pier bei der 35. Straße war längst aufgegeben worden - bis Menschikow sie mietete.
Eine beleidigende Bezeichnung für die Rumänen, abgeleitet aus demrussischen Wort »Mamalyga« für einen in Rumänien beliebten dickenMaisbrei.Ein anstrengender Männertanz. Der Tänzer hockt sich dabei auf denBoden und wirft die Beine abwechselnd kraftvoll nach vorn, währender sich gleichzeitig im Kreis dreht.