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»Die Mauer überflüssig machen«

Wolfgang Seiffert über Klaus Böllings Erfahrungen in der DDR Autor Seiffert, 57, war bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1978 Vizepräsident der Gesellschaft für Völkerrecht in der DDR, SED-Mitglied und Berater der Ost-Berliner Regierung. Seiffert, seit 1978 an der Universität Kiel, gilt als einer der besten Kenner der DDR-Politik. - Der Journalist Klaus Bölling, 55, wurde 1974 von Kanzler Helmut Schmidt als Regierungssprecher nach Bonn geholt. Von Februar 1981 bis Mai 1982 war Bölling, als Nachfolger von Günter Gaus, Bonns Ständiger Vertreter in Ost-Berlin. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Das Buch von Klaus Bölling über seine Erfahrungen als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR hat zwei Vorzüge: Es zeichnet eine Reihe interessanter Porträts führender DDR-Politiker und vermittelt dadurch ein Bild des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und der Männer hinter ihm. Und es beschreibt wesentliche Elemente jener Deutschlandpolitik, die von Kanzler Helmut Schmidt betrieben wurde und die, so Böllings Ansicht, auch für die Zukunft wegweisend ist.

Zwar verfügt Bölling nur über 15 Monate Erfahrung im anderen Deutschland. Dennoch kennzeichnet der Journalist treffend so unterschiedliche Personen wie Honecker, die SED-Politbüromitglieder Hermann Axen und Günter Mittag, den Staatssekretär im DDR-Außenhandelsministerium Alexander Schalck-Golodkowski, den »Rechtsanwalt in besonderer Mission« Wolfgang Vogel und den Abteilungsleiter im Ost-Berliner Außenministerium Karl Seidel.

Zudem stellt Bölling »einen der faszinierendsten Deutschen in der DDR« vor, der nicht zur SED-Führungselite gehört: den langjährigen evangelischen Bischof Albrecht Schönherr, der mit seiner These von der »Kirche im Sozialismus« vieles in der DDR-Gesellschaft bewegt hat. Ihn schildert er mit besonderer Sympathie und hebt damit zu Recht die Bedeutung der evangelischen Kirche für den Zusammenhalt der Nation hervor.

Bölling will vor allem den »fernen Nachbarn« in der Bundesrepublik, die sich nur schwer in die komplizierten politischen Verhältnisse der DDR hineindenken können, die Männer des SED-Politbüros nahebringen.

Wer weiß in der Bundesrepublik schon, daß Hermann Axen Auschwitz und Buchenwald überlebt hat, daß er wohl der einzige Jude ist, der heute in einer regierenden kommunistischen Partei eine Führungsposition bekleidet? Wem sagt hierzulande der Name Günter Mittag schon mehr, als daß es sich um einen Mann aus Honeckers Führungszirkel handelt?

Über Böllings Behauptung, von allen Politbüromitgliedern hätten Axen und Mittag, abgesehen von Paul Verner, den stärksten Einfluß auf Honeckers Deutschlandpolitik, läßt sich allerdings streiten. Obendrein macht Bölling aus Mittag einen Verfechter deutsch-deutscher Wirtschaftskooperation - das ist ebenso unzutreffend wie das langlebige Gerücht im Westen, Honeckers Wirtschaftsfachmann spiele in der DDR die Rolle des »Kronprinzen«.

Gerade Mittag hielt vom Handel mit der Bundesrepublik weniger als alle anderen, vor allem wegen der politischen Risiken für die DDR. Wenn das heute anders ist, dann nicht etwa deshalb, weil auch Mittag die nicht endgültig beantwortete nationale Frage offenhalten wollte. Er mußte seine Politik ändern, weil die ökonomischen Zwänge und Bedürfnisse der DDR keine andere Wahl ließen.

Für diese Politik ist auch ein »Fachmann für Gewinnoptimierung« zuständig: Alexander Schalck-Golodkowski, den Honecker immer dann in Marsch setzt, »wenn es in der DDR ökonomisch gewittert« (Bölling). Schalck-Golodkowski, schreibt Bölling treffend, sei seit vielen Jahren erfolgreich bemüht, »alle für die Bundesrepublik geldwerten DDR-Leistungen in Valuten umzusetzen«.

So richtig allerdings diese Beschreibung des fintenreichsten und phantasievollsten Devisenbeschaffers der DDR ist und sosehr er dem Regime verbunden sein mag, so fehlt in Böllings Schilderung doch ein wesentlicher Aspekt: Schalck-Golodkowski ist ein ganz untypischer Vertreter des SED-Systems und wird in der DDR eher als eine Art Verfechter der »Neuen Ökonomischen Politik« angesehen, die von Lenin 1922 in Sowjet-Rußland eingeführt, später aber wieder abgeschafft worden war: Sie enthielt eine starke privatwirtschaftliche Komponente, nachdem die radikale Politik der Verstaatlichung zu einem ökonomischen Desaster geführt hatte.

Am besten gelungen ist ohne Zweifel das Bild von Erich Honecker, dem »Souverän mit dem Strohhut«. Bölling beobachtet bei ihm eine »deutsche Komponente im Denken und im Gefühlsleben«. Er sieht, ähnlich wie Günter Gaus, den Staatsratsvorsitzenden als deutschen Patrioten, der in der Bevölkerung eine gewisse Achtung genießt, »den man nicht für einen bloßen Befehlsempfänger (Moskaus) hält und der dadurch, daß er seinen Staat mehr und mehr in die Geschichte des ''fortschrittlichen'' Deutschland hineinschiebt, sich selber und die Sowjetführung der Sorge vor polnischen Entwicklungen auf deutschem Boden enthebt«.

Zuweilen schleichen sich bei Bölling auch Klischees ein, die seiner Absicht, vorurteilsfrei zu informieren, nicht gut bekommen. Was sollen zum Beispiel die Floskeln, dieser oder jener sei zwar »ein sattelfester Kommunist«, jedoch ein guter Kenner seines jeweiligen Sachgebiets? _(Bei seinem Amtsantritt am 9. Februar ) _(1981 in Ost-Berlin. )

Warum sollen denn gute Mediziner, Architekten, Ingenieure oder Schriftsteller nicht zugleich »gute Kommunisten«, Sozialdemokraten oder Christdemokraten sein können?

Deutschland hat es eben nicht nur mit zwei Staaten, sondern auch mit zwei politischen Eliten zu tun, die jeweils ihre machtpolitischen Positionen zumindest behalten wollen. Beiden wird das auf Dauer nicht gelingen, wenn sie ihre gesamtdeutsche Perspektive nicht fixieren. Die Personen, die Bölling da porträtiert, gehören der anderen Elite ein und derselben Nation an - ein Aspekt, den Bölling leider vernachlässigt hat.

Zwiespältig aber sind vor allem seine Aussagen zur Deutschlandpolitik. Sein Buch ist dort am ergiebigsten, wo es sich auf die Analysen und Konzepte Herbert Wehners beruft: »Dabei ist Wehner gewiß als einem der ersten bewußt gewesen, daß die Vorstellungen von einem ''Wandel durch Annäherung'' kaum eine Chance hatten. Gedanken über eine Zusammenführung der beiden Staaten nach dem Konvergenzmodell hat er nicht mitgedacht.« Aber: »Keiner, der mit Wehner häufiger reden konnte, wird ausschließen wollen, daß ihn die Vision von einem demokratisch-sozialistischen Deutschland bewegt hat.«

Klar sieht Bölling auch, daß es der DDR-Führung bei all ihren immer wieder modifizierten Forderungen nach völkerrechtlicher Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik letztlich nur auf eines ankommt: »... daß wir die DDR als etwas Endgültiges anerkennen.«

Logischerweise kommt er denn auch, wenn er die Problematik einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft diskutiert, zu dem Schluß: »Die Führung in Ost-Berlin könnte sich - schätzt man ihre Lage realistisch ein - nur mit einer Praxis zufriedengeben, in deren Konsequenz ihre Bürger, die mit einem Visum in die Bundesrepublik einreisen ... notfalls auch ''überstellt'' werden« - also mit Gewalt zurückgebracht werden.

Das mag die Politik der DDR-Führung zwar wirklichkeitsnah beschreiben. Doch müssen die Westdeutschen deshalb, wie Bölling meint, über ihren Schatten springen und das Grundgesetz ändern? Soll Bonn die Verweigerung der Freizügigkeit für die Deutschen in der DDR damit beantworten, daß deren Freizügigkeit auch in der Bundesrepublik eingeengt wird?

Die Hoffnung, für eine solche Annäherung an das System der DDR gäbe es garantierte Erleichterungen im Ost-West-Reiseverkehr, ist eine Illusion. Man sollte vielmehr den Spieß umdrehen und größere Freizügigkeit für DDR-Bürger anstreben; Grundlage dafür könnte ein - auch von Klaus Bölling befürworteter - Ausbau der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen sein, der die Lebensumstände der DDR-Bevölkerung entscheidend verbessert. Bölling selbst meint, »daß Honecker die Mauer überflüssig machen möchte ... wir könnten ihm helfen, die Mauer wegzubringen«.

Fast alle Hinweise Böllings auf eine flexible und vielleicht sogar rücksichtsvolle Politik gegenüber der DDR-Führung sind richtig. Warum aber sollte Bonn deshalb, wie Bölling meint, auf eine offensive Vertretung des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen verzichten? Die Konsequenz wäre, daß der Bestand der DDR - so wie sie heute ist - erhalten wird. Wie sollte es da jemals zu Freizügigkeit kommen?

Wenn nicht alles täuscht, wird die vor einigen Jahren - nicht zuletzt als Folge der Raketenrüstung in beiden Ländern - erwachte Debatte über die Identität der Deutschen an Substanz gewinnen und zu einer gesamtdeutschen Diskussion werden. Dabei könnte sich zeigen, wie nah uns »die fernen Nachbarn« sind.

Bei seinem Amtsantritt am 9. Februar 1981 in Ost-Berlin.

Wolfgang Seiffert
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